Wir im Hausboot

Manchmal war ich nicht sicher, ob ich dich überhaupt kannte. Oft warst du völlig fremd. Wie jemand, der gerade erst die Wohnung betreten hat. Mir ist damals klar geworden, dass ich fast nichts über dich weiß. Außerdem dem, was ich selbst während unserer Zeit mitbekommen habe. Das liegt natürlich daran, dass du keine Geschichtenerzählerin bist. Bis zu unsrer Reise kannte ich ein knappes Dutzend Anekdoten, die du gelegentlich erzähltest. Merkwürdig, dass weder deine besten Freunde, noch deine Geschwister je darüber berichteten, was du in diese oder jenem Alter in dieser oder jener Situation getan hast. Bei uns in der Familie ist das anders, da gibt es einen großen Schatz an Geschichten, die meist mit „Weißt du noch als…“ beginnen. Ich dagegen kennen selbst die faktischen Stationen deines Lebens nur sehr ungenau. Wenn du neben mir auf dem Sofa saßt und wir gemeinsam einen Film anschauten, betrachtete ich manchmal dein Profil aus den Augenwinkeln und dachte: Wer ist sie?

Hätte mich vor einem Jahr jemand gefragt, was du wirklich magst und verabscheust, ich hätte nur sehr vage antworten können. Dass ich dich aber so schlecht kannte, führte immer wieder zu Konflikten. Bisweilen kamst du mir vor, wie jemand auf einer geheimen Mission, der eine Sache, von der ich keine Ahnung hatte, zu Ende führen muss – ohne Rücksicht auf Verluste. Je mehr ich spürte, dass du mir ein unbekanntes Wesen warst, desto unglücklicher wurde ich. Es kam der Punkt, an dem ich unsere Partnerschaft in Frage stellte – und dir das auch so sagte. Du warst entsetzt, du weintest, du warst völlig überrascht und fragtest immer und immer wieder „Warum? Warum? Warum?“ Ich konnte darauf nicht antworten. Keine Ahnung, wer es uns empfohlen hat, nach einiger Zeit waren wir beide der Ansicht, diese besondere Reise könne unserer Beziehung guttun.

Meistens fahren wir mitten auf dem See, der Stora Le heißt, nirgends breiter als einen Kilometer ist, dafür aber über sechzig Kilometer lang. Nach Süden hin teilt sich das Gewässer in zwei Arme, sodass wir insgesamt mehr als hundert Kilometer zurücklegen können, ohne je an einer Stelle zweimal vorbeizuschauen. Boote mit Verbrennungsmotoren sind auf dem See, durch den teilweise die Grenze zwischen Schweden und Norwegen verläuft, offiziell verboten. Unser Hausboot wird von einem winzigen Elektromotor angetrieben, der seinen Strom aus normalen Autobatterien bezieht, die wiederum durch Solarzellen aufgeladen werden. Von dieser Sorte Gefährt gibt es auf dem ganzen See rund zwanzig Stück, hat man uns bei der Übergabe versichert. Ansonsten seien nur Kanus unterwegs. Jetzt im Hochsommer dürfte man also jeden zweiten Tag auf eine Gruppe Paddler treffen.

Es gibt keine Stadt im Umkreis von 300 Kilometern. Arjäng, die nächste Ortschaft, hat knapp 3000 Einwohner und ist vom See auch gut zwanzig Kilometer entfernt. Ansonsten soll es in den Wäldern hier und da Gehöfte geben, auf denen Menschen leben, und auf der norwegischen Seite gibt es dem Vernehmen nach unweit vom Ufer eine Tankstelle samt Bar und Lebensmittelladen. Aber das alles brauchen wir nicht, weil das Hausboot mit Vorräten für drei Wochen beladen ist. Die Idee ist, dass wir uns in dieser völligen Einsamkeit, in der keiner dem anderen entfliehen kann, neu begegnen. Aber in der ersten Woche funktionierte das überhaupt nicht. Wir beide verbrachten den Tag mit Lesen und Musikhören, Kochen und Essen, und immer, wenn der Hund raus musste, legten wir kurz an, und einer von uns drehte eine kurze Runde durch das Dickicht.

Während es am Tag der Abreise schwer regnete, schien ab Donnerstag die Sonne. Und weil wir nur ein paar Wochen nach der Mittsommernacht hierhergekommen waren, dauerte die dunkle Nacht kaum mehr als drei Stunden. Also lag meist einer von uns nackt auf dem Dach in der Sonne, während der andere sich an Deck aufhielt. Fuhren wir, musste einer ja das Boot steuern. Lagen wir fest, waren die Treibanker zu kontrollieren. Wir sprachen wenig. Und am Samstag blieben wir beide den ganzen Tag wortlos. Die Situation war reizarm, es bot sich kein Grund, etwas an unserem Verhältnis zu ändern. Nachts hatten wir immer Sex miteinander. Und wenn du deinen Orgasmus hattest, betrachtete ich im sanften Schein der langen Dämmerung dein Gesicht, sah dein großes Unglück, den dauernden Schmerz und die Verzweiflung darüber, dass die Dinge so sind wie sie sind. Mit Liebe hatte auch das wenig zu tun. Und meine Gedanken kreisten unentwegt um die Frage, wie sich Liebe bei einem Paar, das wie wir schon fünfzehn Jahre miteinander verbracht hatte, anfühlen könnte. Aber ich konnte dir diese Frage nicht stellen. Wie ich mit dir über kaum mehr reden konnte als die Organisation des Alltags.

Am folgenden Donnerstag geschah dann das Unglück. Wir hatten am Vortag den südlichsten Punkt des Stora Le erreicht und im Örtchen Ed eingekauft, um unsere Vorräte aufzufüllen. Zum ersten Mal nach zehn Tagen hielten wir uns länger als nur ein paar Minuten an Land auf. Es fühlte sich nicht gut an, und die Menschen, die in die Läden gingen und wieder herauskamen, auf der Straße stehenblieben, um Nachbarn zu begrüßen und mit ihnen ein Schwätzchen zu halten, machten uns nervös. Als packten wir die Sachen aufs Boot und legten wieder ab. Das Wetter hatte über Nacht gedreht, und ein strammer Nordostwind brachte kalte, feuchte Luft. Dummerweise legte ich morgens am Ostufer an, um mit dem Hund rauszugehen. Da kein geeigneter Baum in der Nähe war, ließ ich nur die Treibanker ins Wasser und sagte ihr, sie solle ein bisschen aufpassen. Wir fanden einen schmalen Pfad, der sich durchs Gestrüpp einen Hügel hinauf zog. Oben gab es eine Lichtung, und ich hatte einen herrlichen Ausblick auf die Wälder und den See.

Als wir zum Ufer zurückkehrten, sah ich das Hausboot gut zwei, drei Kilometer südlich mitten auf dem See treiben. Es lag einigermaßen schräg. Vermutlich hatten sich drei der vier Anker losgerissen, und nur der vierte schrammte über Grund. Ich rief nach dir. Der Hund bellte, aber an Bord rührte sich nichts. Ich begann zu laufen. Dickicht, Dornenbüsche, Steine im Moos, nichts konnte mich und den Hund bremsen. Und tatsächlich schafften wir es, das Hausboot zu überholen. Ich sprang ins Wasser, der Hund hinterher. Der Wind hatte Wellen aufgeworfen, und wir haben kaum gegen die Strömung an. An Bord tat sich nichts. Dann konnte ich eine Kette greifen und mich hochziehen. Ich legte mich bäuchlings aufs Decke und versuchte, den Hund zu greifen. Ich spürte, dass er am Ende seiner Kräfte war und konnte ihn gerade noch an der Mähne packen und aus dem Wasser ziehen. Dann setzte ich die Anker und ging hinein.

Ich fand dich im Bett. Du hattest ein Buch in der Hand und die Kopfhörer des MP3-Spielers aufgesetzt. Ich schlug dir das Buch aus der Hand und den Kopfhörer vom Schädel. Bist du eigentlich verrückt, begann ich und ließ eine Tirade folgen, die sich immer mehr steigerte und damit endete, dass dich fragte, ob du mich loswerden wolltest. Ich sah dich zittern, während du mein Gebrüll wortlos über dich ergehen ließest. Dann war ich fertig und wartete auf deine Reaktion. Was ist mit dem Hund? fragtest du. Ich erzählte die Geschichte mit dem Pfad, der Lichtung, dem Ausblick und dem Schrecken. Der Lauf durchs Gebüsch, das Schwimmen und die Rettung des Hundes.

Du trocknetest den Hund ab. Du kochtest mir einen Tee. Und dabei redest du ununterbrochen wie nie zuvor. Die Geschichte von deiner besten Freundin als ihr noch nicht in die Schule gingt und sie in ein wassergefülltes Loch, einen Bombentrichter, im Wald fiel und du sie nicht retten konntest, aber losliefst, um Hilfe zu holen, die noch rechtzeitig kam, um das Mädchen aus dem Wasser zu ziehen. Von deinem großen Bruder, der einmal im Eis einbrach, während ihr beide auf dem See auf Schlittschuhen unterwegs ward. Dann dass deine Mutter einmal erzählte, der Vater sei mit zerrissener Hose und blutenden Wunden im Gesicht und an der Hand heimgekehrt, weil ihn jemand angefahren hatte, während er auf dem Rad fuhr. Dass er seine Aktenmappe verloren hatte, und dass du und deine ältere Schwester losgeschickt wurden, die Tasche zu suchen. Über deine Angst vor schnell fließenden Gewässern. Du beschriebst einen Albtraum, in dem jemand dich in ein unterirdisches Labyrinth führt und die immer wieder damit droht, er würde die Schleuse öffnen.

Du sprachst weiter bis zum Abendessen und auch während der Mahlzeit. Lange saßen wir in dieser Nacht auf dem Dach und tranken die letzten drei Flaschen Wein aus dem Proviant. Ich lernte die Namen deiner vielen Onkeln und Tanten kennen, die deiner Cousins und Cousinen. Hörte Geschichten über deinen Großvater mütterlicherseits, über die Schwestern deines Vaters, die allesamt ins Kloster gegangen waren und über Onkel Benedikt, der als Missionar irgendwo in der Südsee wirkte. Plötzlich schenktest du mir Anekdoten. Von deinem ersten Kneipenbesuch, aus der Teestubenzeit, dem unglücklichen Jahr im Internat. Über Partys und Reisen, über Jungen und junge Männer und dein Verhältnis zu ihnen. Als es bereits wieder dämmerte, warst du gerade dabei die ganze Geschichte deiner ersten großen Liebe auszubreiten.

So ging es an den nächsten drei Tagen weiter. Jetzt ist es Mittwoch, und wir werden spätestens am Freitagmorgen im Camp erwartet. Wir haben die Stelle erreicht, an dem der Stora Le fast mit dem Lelang zusammenstößt. Dort gibt es einen schattigen Strand von etwa zweihundert Metern Länge und etwas mehr als hundert Metern breiter, der die Seen voneinander trennt. Man hat uns vorgeschwärmt von dieser Landenge, und wir haben beschlossen, dort unser Zelt aufzuschlagen, um dort zweimal zu übernachten. So wollen wir uns wieder an festen Boden unter den Füßen gewöhnen. Es ist wunderschön hier, und wir sind ganz allein. Der Hund ist seit der Landung die ganze Zeit herumgelaufen und hat es genossen, jeden Baum, jeden Stein zu markieren, ohne dass es gleich wieder heißt: Komm, jetzt ist genug. Wir haben das Zelt problemlos aufgebaut und mit Isomatten und Schlafsäcken ausgerüstet. Dann habe ich ein Feuer gemacht, und wir haben Pölser und Stockbrot zum Abendbrot geröstet. Wir haben im Lelang, der deutlich wärmer ist als der Stora Le, gebadet und geplanscht. Haben rumgealbert und den herrlichen Sonnenuntergang genossen.

Jetzt liegen wir im Zelt, der Hund direkt am Eingang. Wir haben den Reißverschluss offen gelassen und nur den Mückenschutz geschlossen. Es ist merkwürdig still draußen, wo wir doch sonst nachts auf dem Boot immer das Konzert der Tiere im Wald gehört haben. Eine schwache Brise bringt die Wipfel zum Rauschen, und nun setzt auch wieder das Geräusch der leichten Brandung der Seen ein. Etwas stört die übliche Tonkulisse. Es brummt in weiter Entfernung. Das Brummen nähert sich und wird zu einem deutlich erkennbaren Motorgeräusch. Ganz in unserer Nähe erstirbt es. Ich habe mich aufgerichtet. Zu sehen ist durch die Gaze im Halbdunkeln nichts. Plötzlich gibt es einen gewaltigen Schlag, eine Explosion, einen Knall, lauter als alles, was ich je gehört habe. Der Hund versucht zu fliehen und bleibt mit der Pfote im Fliegengitter hängen. Du bist aufgewacht und versuchst dich aufzurichten. Ich bin taub. Befreie den Hund, öffne das Zelt. Wir fliehen.

Aus den Augenwinkel sehe ich ein Schlauchboot am entfernteren Ufer des Lelang. Dann stolpere ich. Genau wie du. Da ist ein Krater im Sand. Sicher zwei Meter im Durchmesser und gut einen Meter tief. Wir fallen hinein. Dann sehe ich eine Gestalt in diesem Schlauchboot, der etwas hoch in der Hand hält. Daran ein Glitzern. Er schleudert es in Richtung Zelt. Das Ding trifft und zerreißt das Zelt mit allem, was darin ist, in Tausend Fetzen. Wir bleiben liegen, und der Hund hat uns gefunden. Inzwischen ist es wieder völlig still. Über den Kraterrand hinweg erkenne ich drei oder vier Personen, die am Schlauchboot stehen. Langsam kehrt mein Gehör zurück. Sie reden leise und lachen ab und zu. Mindestens zwei von ihnen tragen Flinten, die sich als Schatten vor dem hellen Himmel abzeichnen. Unser Hausboot liegt weiter oben, sodass sie es nicht gesehen haben können. Ich gebe dir Zeichen. Wir kriechen aus dem Sandloch und robben zum Gebüsch am Waldrand. Der Hund bleibt zurück.

Tatsächlich haben wir die Strecke hinter uns gebracht, ohne dass uns die Männer gesehen haben. Wir stehen im Schatten der Kiefern und warten auf den Hund. Plötzlich springt der aus dem Krater und rennt panisch genau auf die Angreifer zu. Wir hören drei, vier Schüsse. Aber zum Glück kein Jaulen. Vorsichtig schleichen wir zum Boot. Du steigst auf, während ich die Leinen losmache, mit denen wir das Haus an den Bäumen festgemacht haben. Da kommt der Hund in höchstem Tempo und springt mit einem Satz an Bord. Du hast schon den Festanker gelichtet. Ich schalte den Motor ein, und sehr langsam laufen wir in die Seemitte und mit dem Strand im Rücken nach Süden.

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