Dieser Tage traf sich die Gruppe nach einigen Monaten wieder fast in ihrer ursprünglichen Besetzung. Der Landgasthof hatte einen neuen Wirt, und in der Küche führte Isa das Regiment, die wir noch aus dem „Perl“ in bester Erinnerung hatten. Nach und nach trafen die Freunde ein, und gegen achtzehn Uhr waren wir komplett. Man bestellte, aß, trank und redete. Thibaud sah alt aus. Alt, nicht krank oder erschöpft. „Eigentlich“, sagte Zilly, „sieht er jetzt so alt aus wie er ist.“ „Sisyphos ist müde“ weiterlesen
Ungeliebte Bürgersöhnchen
„Sie sind das Schlimmste in dieser Gesellschaft“, rief Thibaud, und wir ahnten, was kommen würde. Tatsächlich begann er einen Tirade gegen die Heuchler, die männlichen, die mit dem Silberlöffel im Maul geborenen, die sich um ihre Zukunft nicht sorgen müssen, ist ihnen ein Erbe doch sicher. „Und da rennen sie nun sinnlos rum, tun sinnlose Dinge, machen was mit Medien, mit Kommunikation oder mit Kunst, um sich ein unbürgerliches Gefühl zu geben. Denn im Grunde werden sie von ihrem schlechten Gewissen hin und her gezerrt. Dass sie vom Säuglingsalter an frei von materiellen Sorgen leben konnte, während andere strampeln und hampeln, um ein bisschen menschenwürdiges Leben zu ergattern. Deshalb werden sie dann Sozialdemokraten, die Bürgersöhnchen. Das beruhigt, weil sie sich auf der richtigen Seite wähnen. Denn neben dem schlechten Gewissen werden diese kleinen, nichtswürdigen Schwanzträger von der Angst gesteuert, die Unterschicht könnte sich gegen sie wenden, ihnen wehtun und etwas wegnehmen. „Ungeliebte Bürgersöhnchen“ weiterlesen
Widerstand
„Und,“ fragte Thibaud in die Runde, „was wollen wir jetzt tun? Wie sollen wir Widerstand leisten?“ Nach den letzten Wahlen hatte man uns durch allerlei Repressalien in den Untergrund gedrängt, und wir trafen uns nicht mehr in Kneipen oder Bars oder in unseren Privatwohnungen. Olivia hatte ein verfallenes Haus am Rande des Friedhofs entdeckt, das über einen intakten Kellerraum verfügte. Dort hielten wir seit dem Monat, der die Hälfte der Legislaturperiode bezeichnete, unsere konspirativen Besprechungen ab. Auf den Kontakt per Mobiltelefon und Internet hatten wir schon vor längerem verzichtet – da hatte die Partei, die sich angeblich für Bürgerrechte einsetzt, den Vorschlägen für die flächendeckende Überwachung ergeben und den entsprechenden Gesetzen zugestimmt. Unsere Depression war nun der Wut gewichen und der Einsicht, dass wir etwas tun müssten. „Militanz kommt nicht in Frage!“ warf Hanshubert ein, unser Wackelkandidat, denn als Besserverdiener hatte er deutlich von den Steuersenkungen der Regierung profitiert. „Widerstand“ weiterlesen
Katastrophen
„Es riecht nach Katastrophe“, sagte Thibaud und sah sich in der Runde um. „Als ich heute morgen gegen halb sechs halb wach da lag, hörte ich ein dumpfes Grollen. Geräusche tief fliegender Passagierjets, die Kreise über der Stadt zogen. Dann begannen die Sirenen der Feuerwehr zu schreien. Es würde ein Unglück geben, da war ich mir sicher. Schlief aber wieder ein.“ Keiner von uns reagierte, vielleicht weil alle auf eine Fortsetzung warteten. Tatsächlich fuhr er fort. „Vor nicht langer Zeit war ich mir eines Nacht auch völlig sicher, dass es zu einer Katastrophe kommen würde. „Katastrophen“ weiterlesen
Testament
Wenige Tage bevor Thibaud nach Amerika verschwand, hatte er mich abends besucht. Er sah bedrückt aus und hielt sich gar nicht erst mit Smalltalk auf. „Weißt du,“ begann er, „ich habe mir Gedanken über mein Sterben und das Danach gemacht. Ich würde das Ergebnis nicht mein Testament nennen, sondern eine Wunschliste an den Tod.“ Ich erschrak, und in den ersten Tag nach seinem Verschwinden dachte ich manchmal, er habe sich umgebracht. Aber dagegen sprach, was er mir sagte: „Testament“ weiterlesen
Der Haken
Profikiller
Veränderungen
Maffay
Im Wald
Kalifornien
Penisdimensionen
Herr Rupprecht behauptete eines Abends, sein Penis sei in erigiertem Zustand mindestens 25 Zentimeter lang und so dick wie eine handelsübliche Fleischwurst. Dann trank er seinen Rotwein aus, grüßte mit einem Kopfnicken und verließ die Gastwirtschaft. Natürlich taten wir seine Aussage als übliche Übertreibung im Kneipengespräch ab und vergaßen die Sache. Herr Rupprecht hatte sich über Monate an unsere Gruppe herangemacht, nachdem wir das Lucios zu unserem Stammlokal gemacht hatten. Herbert, der Wirt, den alle Lucio nannten, weil er gern davon erzählte, er habe eine Zeit lang die erfolgreichste Bude am Strand von Carvoeiro geführt, hatte uns im Westflügel einen Tisch zugeteilt, an dem wir zu zehnt gut Platz fanden. Anfangs hielt sich Herr Rupprecht vorwiegend am Stehtisch im Eingansgbereich auf, später saß er ein paar Tische entfernt von uns, und schließlich nahm er am Nebentisch Platz, sobald wir auftauchten. Dass er es auf die Frauen in unserem Kreis abgesehen hatte, war offensichtlich. So verwickelte er besonders Hilda, Olivia und Elke zu vorgerückter Stunde gern ins Gespräch. [Lesezeit ca. 2 min] „Penisdimensionen“ weiterlesen
Rasuren
Frédéric, der Youngster unserer Gruppe, war völlig fertig. Seine Freundin habe sich völlig überraschend von ihm getrennt. Was der Grund gewesen sei, fragte Olav. Er habe sich geweigert, eine Totalrasur vorzunehmen. Sarah habe verlangt, er solle sich Brust und Beine enthaaren und vor allem unter den Achseln und zwischen den Beinen rasieren. Das habe er zuerst nicht ernstgenommen, statt dessen einen Scherz darüber gemacht und die Sache ignoriert. Dann habe sie ein paar Tage später unter Tränen gesagt, sie könne nicht mehr mit ihm schlafen, das wäre so eklig mit den ganzen Haaren. Und deshalb sei jetzt Schluss. [Lesezeit ca. 2 min] „Rasuren“ weiterlesen
Kunstmacht
Nachdem er sich um seinen Lebensunterhalt nicht mehr sorgen musste, hatte sich Thibaud nach langen Jahren wieder für die Kunst entschieden. Eines Tages rief er an und lud Zilly und mich in sein neues Atelier ein. Er hatte eine aufgelassene ALDI-Filiale in Friedrichstadt angemietet und seinen Wünschen entsprechend gestalten lassen. Die Schaufenster waren mit dunkelblauem Samt verhängt. Eine Klingel gab es nicht. Wir klopften an die Scheibe und warteten. Nach ein paar Minuten öffnete Thibaud und bat uns hinein. Der langgezogene Raum mit den weißlichen Fliesen war hellgrau lackiert. Während der vordere Teil im Dämmerlich lag, war das hintere Drittel durch Filmscheinwerfer hell erleuchtet. Dort standen zwei große Tisch, sicher zwei auf drei Meter groß. Der eine war leer bis auf einen flachen schwarzen Gegenstand, den anderen bedeckten mehrere Schichten aus Zeitungsseiten, großen Fotos, Karton und Papier verschiedener Struktur und Größe. Mir fiel sofort auf, dass außer Schwarz, Weiß, Grau und Rot keine anderen Farben vorkamen. Thibaud trug passend zum Ambiente einen feuerroten Overall. Er führte uns herum, ohne mehr zu sagen als dass das eine der Arbeitstisch, der andere dagegen der Kramtisch sei. Dann zeigte er im vorderen Teil auf eine Sitzgruppe und bat uns, Platz zu nehmen. [Lesezeit ca. 2 min] „Kunstmacht“ weiterlesen
Dicke Frau
Thibaud erzählt: „An einem Frühsommertag, Ulla hatte mich gerade verlassen, saß die dicke Frau im Gastraum. Ich kam aus der Küche und schaute von der Theke aus, wie viele Gäste da wären. Sie saß an einem Tisch im Wintergarten. Die dicke Frau trug ein ärmellose, rotes Sommerkleid mit ziemlich tiefem Ausschnitt. Damals war ich sehr einsam. Deshalb versuchte ich oft, mit Damen, die allein ins Landgasthaus kamen, Kontakt aufzunehmen. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich vor. Sie sah mich an und bestellte ein Glas Weißwein. Nein, nein, sagte ich, ich bin hier der Wirt, aber ihren Weine bekommen sie trotzdem. Dann holte ich eine Flasche vom guten Riesling und zwei Gläser. Ich setzte mich zu ihr und schenkte uns ein. Die dicke Frau war wirklich sehr dick. [Lesezeit ca. 4 min] „Dicke Frau“ weiterlesen
