Sisyphos ist müde

Schon vor Jahren hatte Thibaud damit kokettiert, er sei ein moderner Sisyphos und sein Glück bestünde darin, sich immer und immer wieder anzustrengen und zu engagieren für Projekte, die dann doch irgendwann den Bach runter gingen. Heinzhubert hatte ihn daraufhin auf seine küchenpsychologische Art als Mensch mit einer manisch-depressiven, also bipolaren Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Was ihm beinahe eine Tracht Prügel eingetragen hätte.
Dieser Tage traf sich die Gruppe nach einigen Monaten wieder fast in ihrer ursprünglichen Besetzung. Der Landgasthof hatte einen neuen Wirt, und in der Küche führte Isa das Regiment, die wir noch aus dem „Perl“ in bester Erinnerung hatten. Nach und nach trafen die Freunde ein, und gegen achtzehn Uhr waren wir komplett. Man bestellte, aß, trank und redete. Thibaud sah alt aus. Alt, nicht krank oder erschöpft. „Eigentlich“, sagte Zilly, „sieht er jetzt so alt aus wie er ist.“ „Sisyphos ist müde“ weiterlesen

Ungeliebte Bürgersöhnchen

„Sie sind das Schlimmste in dieser Gesellschaft“, rief Thibaud, und wir ahnten, was kommen würde. Tatsächlich begann er einen Tirade gegen die Heuchler, die männlichen, die mit dem Silberlöffel im Maul geborenen, die sich um ihre Zukunft nicht sorgen müssen, ist ihnen ein Erbe doch sicher. „Und da rennen sie nun sinnlos rum, tun sinnlose Dinge, machen was mit Medien, mit Kommunikation oder mit Kunst, um sich ein unbürgerliches Gefühl zu geben. Denn im Grunde werden sie von ihrem schlechten Gewissen hin und her gezerrt. Dass sie vom Säuglingsalter an frei von materiellen Sorgen leben konnte, während andere strampeln und hampeln, um ein bisschen menschenwürdiges Leben zu ergattern. Deshalb werden sie dann Sozialdemokraten, die Bürgersöhnchen. Das beruhigt, weil sie sich auf der richtigen Seite wähnen. Denn neben dem schlechten Gewissen werden diese kleinen, nichtswürdigen Schwanzträger von der Angst gesteuert, die Unterschicht könnte sich gegen sie wenden, ihnen wehtun und etwas wegnehmen. „Ungeliebte Bürgersöhnchen“ weiterlesen

Widerstand

„Und,“ fragte Thibaud in die Runde, „was wollen wir jetzt tun? Wie sollen wir Widerstand leisten?“ Nach den letzten Wahlen hatte man uns durch allerlei Repressalien in den Untergrund gedrängt, und wir trafen uns nicht mehr in Kneipen oder Bars oder in unseren Privatwohnungen. Olivia hatte ein verfallenes Haus am Rande des Friedhofs entdeckt, das über einen intakten Kellerraum verfügte. Dort hielten wir seit dem Monat, der die Hälfte der Legislaturperiode bezeichnete, unsere konspirativen Besprechungen ab. Auf den Kontakt per Mobiltelefon und Internet hatten wir schon vor längerem verzichtet – da hatte die Partei, die sich angeblich für Bürgerrechte einsetzt, den Vorschlägen für die flächendeckende Überwachung ergeben und den entsprechenden Gesetzen zugestimmt. Unsere Depression war nun der Wut gewichen und der Einsicht, dass wir etwas tun müssten. „Militanz kommt nicht in Frage!“ warf Hanshubert ein, unser Wackelkandidat, denn als Besserverdiener hatte er deutlich von den Steuersenkungen der Regierung profitiert. „Widerstand“ weiterlesen

Katastrophen

„Es riecht nach Katastrophe“, sagte Thibaud und sah sich in der Runde um. „Als ich heute morgen gegen halb sechs halb wach da lag, hörte ich ein dumpfes Grollen. Geräusche tief fliegender Passagierjets, die Kreise über der Stadt zogen. Dann begannen die Sirenen der Feuerwehr zu schreien. Es würde ein Unglück geben, da war ich mir sicher. Schlief aber wieder ein.“ Keiner von uns reagierte, vielleicht weil alle auf eine Fortsetzung warteten. Tatsächlich fuhr er fort. „Vor nicht langer Zeit war ich mir eines Nacht auch völlig sicher, dass es zu einer Katastrophe kommen würde. „Katastrophen“ weiterlesen

Testament

Wenige Tage bevor Thibaud nach Amerika verschwand, hatte er mich abends besucht. Er sah bedrückt aus und hielt sich gar nicht erst mit Smalltalk auf. „Weißt du,“ begann er, „ich habe mir Gedanken über mein Sterben und das Danach gemacht. Ich würde das Ergebnis nicht mein Testament nennen, sondern eine Wunschliste an den Tod.“ Ich erschrak, und in den ersten Tag nach seinem Verschwinden dachte ich manchmal, er habe sich umgebracht. Aber dagegen sprach, was er mir sagte: „Testament“ weiterlesen

Der Haken

Der letzte Brief, den Thibaud aus Kalifornien schrieb, ging nicht an uns. Wir hatten schon mehr als ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört, und keiner von uns hatte eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihm. Wir waren sicher, dass er sein Glück bei Deborah gefunden hatte und wir ihn nie wiedersehen würden. Dann waren wir alle bei der Geburtstagsparty von Olivia, die sehr geheimnisvoll tat. Es werde jemand erscheinen, mit dem wir nicht gerechnet hätten. Alle dachten insgeheim, dass es sich nur um Thibaud handeln könne. Auch ich war ein wenig enttäuscht, als uns Olivia gegen Mitternacht eine schmale Frau unbestimmbaren Alters als Ehrengast vorstellte und sagte: „Das ist Gulla. Einige von euch werden Sie noch kennen.“ Ich erinnerte mich an diesen merkwürdigen Urlaub in Dänemark und an die Affäre, die Thibaud mit dem knabenhaften Mädchen hatte. Sie bat um unsere Aufmerksamkeit: „Thibaud hat mir geschrieben. Ich denke, es ist in Ordnung, dass ich euch seinen Brief vorlese, obwohl er persönlich an mich gerichtet ist.“ „Der Haken“ weiterlesen

Profikiller

Es ist einige Jahre her, da bat mich Thibaud, ihn zu einem Kongress in Wien zu begleiten, wo er einen wichtigen Vortrag zu halten hatte. Es war ihm recht, die Strecke in zwei Tagen mit dem Auto zu bewältigen, und so reisten wir mit meinem flammneuen Saab Cabrio Richtung Süden. Das Wetter war gut, der Verkehr relativ dünn. Wir übernachteten außerhalb von Nürnberg und fuhren am frühen Morgen wieder los. Man hatte in Wien Zimmer im Hotel Herrenhof für uns reserviert, und am späten Nachmittag trafen wir ein. Wir bezogen die Zimmer und beschlossen, die innere Stadt zu Fuß zu erkunden. Später aßen wir eine Kleinigkeit in einem böhmischen Restaurant. Schließlich wollten wir den Abend in einer Bar ausklingen lassen und fanden uns eher zufällig im Planter’s Club wieder. An einem der Tresen suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen und bestellten Mojitos. Wir redeten wenig und beobachteten das Treiben. Eine junge Frau im unauffälligen Business-Kostüm kam vorbei und setzte sich in unserer Nähe an die Bar. Der Bartender verwechselte eine Bestellung, sodass sie einen Mojito bekam und ich einen Gin-Tonic. So lernten wir uns kennen. „Profikiller“ weiterlesen

Veränderungen

Dass Thibaud an der Spitze der Alterspyramide unserer Gruppe steht, dürfte bekannt sein. Aber mit geringem Abstand folgen drei Frauen, eine davon ist Jill. Und die war unseren Treffen über lange Zeit, sicher zwei, drei Jahre, ferngeblieben. Nun hatte Hanshubert wieder einmal zu einer Party geladen. Seine Feste waren legendär, auch weil es jedes Mal zu einem Ereignis kam, das in den Anekdotenschatz der Gruppe einging. In weiser Voraussicht hatte er die Terrasse über den Dächern des Gewerbegebiets als Hauptspielfeld eingerichtet, denn es war ein recht heißer Sommertag, und die Nacht versprach, mild zu werden. Jill hatte sich angemeldet. Bei unserer letzten Begegnung hatte sie erzählt, sie sei im Vorjahr fünfzig geworden und habe dieses Jubiläum im Kreis von lauter Kerlen in einem Club für Singles auf Fuerteventura verbracht. Es sei sehr schön für alle Beteiligten gewesen. „Veränderungen“ weiterlesen

Maffay

Vor zehn oder zwölf Jahren erzählte mir Thibaud einen merkwürdigen Traum: „Ich sitze auf einem Holzstuhl, so ein Teil aus Teak, wie es die Leute auf den Terrassen haben. Der Stuhl steht jedoch auf ein dem breiten Gehweg eines Boulevards; so einer wie die Champs Elysee, der Ku-Damm oder die Kö. Die Leute laufen alle in eine Richtung. Sie kommen links und rechts an meinem Stuhl vorbei, und ich sehe nur ihre Rückansichten. Es ist ein heller, freundlicher Sommertag. Auch die Autos fahren alle in dieselbe Richtung. Man hört nur das Klappern der Absätze und leichte Motorengeräusche. Dann nehme ich aus den Augenwinkeln eine ungewöhnliche Gestalt wahr, die in mein Blickfeld gerät. Nach ein paar Sekunden sehe ich, dass es sich um ein Wesen handelt, dass nur ungefähr halb so hoch ist wie die Passanten, aber doppelt so breit. „Maffay“ weiterlesen

Im Wald

Dann kam der zweite Brief von Thibaud: „Unser Haus in Carmel liegt nicht besonders einsam. Der Cabrillo Highway verläuft nur ein paar Hundert Meter oberhalb, und der Strand, auf den wir blicken, ist an Wochenenden oft überfüllt. Aber wir haben ja noch die Hütte im Wald. Die liegt unweit vom Los Padres Reservoir in den Bergen, weitab von jeder menschlichen Ansiedlung. Bill, ein Freund Deborahs aus Kindertagen, hat sie mit den eigenen Händen erbaut und Townie’s Retreat genannt. Sie ist klein, aber mit allem ausgestattet, was man sich in der Wildnis wünscht. Es gibt einen Brunnen. Und Bill hat das Dach mit Solarzellen versehen, sodass auch ausreichend Strom zur Verfügung steht. Er selbst lebt in Oakland, wo er geboren und aufgewachsen ist. Wann immer wir die Einsamkeit suchen, rufen wir Bill an und fragen, ob die Hütte frei ist. Ist das der Fall, fahren wir hin. Im Townie’s Retreat leben wir nackt – den ganzen Tag und die ganze Nacht. „Im Wald“ weiterlesen

Kalifornien

„Ich bin jetzt nach Kalifornien umgezogen,“ schrieb Thibaud. Er hatte den Brief an Lucio’s adressiert, und wir fanden ihn an einem Freitagabend dort vor. Lucio gab Olivia den Umschlag mit der Bemerkung, den habe jemand abgegeben. Sie öffnete das Kuvert und begann, vorzulesen. Schon nach dem ersten Satz waren wir überrascht, denn niemand hätte sich vorstellen können, dass Thibaud, der die USA immer gemieden hatte, an die Westküste umsiedeln würde. Eine starke Hassliebe verband ihn mit Amerika, und er hatte es immer das Land unserer Besatzer genannt, die in unserem Land seien, um uns umzuerziehen, damit wir als Konsumenten für ihre Waren funktionieren. Auch sprach er oft von Kulturimperialismus, wenn sich einer von uns begeistert über einen Song der US-Musikindustrie oder einen Hollyvood-Film äußerte. Andererseits wusste er zu berichten, dass sein Vater, der den größten Teil der Kriegsgefangenschaft in Oklahoma verbracht hatte, immer von dem weiten, schönen Land und den netten Menschen geschwärmt hatte. Und trotzdem, das hatte Thibaud oft betont, waren die USA immer noch das Sklavenhalterland, immer noch der Ursprung allen kapitalistischen Übels. „Kalifornien“ weiterlesen

Penisdimensionen

Herr Rupprecht behauptete eines Abends, sein Penis sei in erigiertem Zustand mindestens 25 Zentimeter lang und so dick wie eine handelsübliche Fleischwurst. Dann trank er seinen Rotwein aus, grüßte mit einem Kopfnicken und verließ die Gastwirtschaft. Natürlich taten wir seine Aussage als übliche Übertreibung im Kneipengespräch ab und vergaßen die Sache. Herr Rupprecht hatte sich über Monate an unsere Gruppe herangemacht, nachdem wir das Lucios zu unserem Stammlokal gemacht hatten. Herbert, der Wirt, den alle Lucio nannten, weil er gern davon erzählte, er habe eine Zeit lang die erfolgreichste Bude am Strand von Carvoeiro geführt, hatte uns im Westflügel einen Tisch zugeteilt, an dem wir zu zehnt gut Platz fanden. Anfangs hielt sich Herr Rupprecht vorwiegend am Stehtisch im Eingansgbereich auf, später saß er ein paar Tische entfernt von uns, und schließlich nahm er am Nebentisch Platz, sobald wir auftauchten. Dass er es auf die Frauen in unserem Kreis abgesehen hatte, war offensichtlich. So verwickelte er besonders Hilda, Olivia und Elke zu vorgerückter Stunde gern ins Gespräch. [Lesezeit ca. 2 min] „Penisdimensionen“ weiterlesen

Rasuren

Frédéric, der Youngster unserer Gruppe, war völlig fertig. Seine Freundin habe sich völlig überraschend von ihm getrennt. Was der Grund gewesen sei, fragte Olav. Er habe sich geweigert, eine Totalrasur vorzunehmen. Sarah habe verlangt, er solle sich Brust und Beine enthaaren und vor allem unter den Achseln und zwischen den Beinen rasieren. Das habe er zuerst nicht ernstgenommen, statt dessen einen Scherz darüber gemacht und die Sache ignoriert. Dann habe sie ein paar Tage später unter Tränen gesagt, sie könne nicht mehr mit ihm schlafen, das wäre so eklig mit den ganzen Haaren. Und deshalb sei jetzt Schluss. [Lesezeit ca. 2 min] „Rasuren“ weiterlesen

Kunstmacht

Nachdem er sich um seinen Lebensunterhalt nicht mehr sorgen musste, hatte sich Thibaud nach langen Jahren wieder für die Kunst entschieden. Eines Tages rief er an und lud Zilly und mich in sein neues Atelier ein. Er hatte eine aufgelassene ALDI-Filiale in Friedrichstadt angemietet und seinen Wünschen entsprechend gestalten lassen. Die Schaufenster waren mit dunkelblauem Samt verhängt. Eine Klingel gab es nicht. Wir klopften an die Scheibe und warteten. Nach ein paar Minuten öffnete Thibaud und bat uns hinein. Der langgezogene Raum mit den weißlichen Fliesen war hellgrau lackiert. Während der vordere Teil im Dämmerlich lag, war das hintere Drittel durch Filmscheinwerfer hell erleuchtet. Dort standen zwei große Tisch, sicher zwei auf drei Meter groß. Der eine war leer bis auf einen flachen schwarzen Gegenstand, den anderen bedeckten mehrere Schichten aus Zeitungsseiten, großen Fotos, Karton und Papier verschiedener Struktur und Größe. Mir fiel sofort auf, dass außer Schwarz, Weiß, Grau und Rot keine anderen Farben vorkamen. Thibaud trug passend zum Ambiente einen feuerroten Overall. Er führte uns herum, ohne mehr zu sagen als dass das eine der Arbeitstisch, der andere dagegen der Kramtisch sei. Dann zeigte er im vorderen Teil auf eine Sitzgruppe und bat uns, Platz zu nehmen. [Lesezeit ca. 2 min] „Kunstmacht“ weiterlesen

Dicke Frau

Thibaud erzählt: „An einem Frühsommertag, Ulla hatte mich gerade verlassen, saß die dicke Frau im Gastraum. Ich kam aus der Küche und schaute von der Theke aus, wie viele Gäste da wären. Sie saß an einem Tisch im Wintergarten. Die dicke Frau trug ein ärmellose, rotes Sommerkleid mit ziemlich tiefem Ausschnitt. Damals war ich sehr einsam. Deshalb versuchte ich oft, mit Damen, die allein ins Landgasthaus kamen, Kontakt aufzunehmen. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich vor. Sie sah mich an und bestellte ein Glas Weißwein. Nein, nein, sagte ich, ich bin hier der Wirt, aber ihren Weine bekommen sie trotzdem. Dann holte ich eine Flasche vom guten Riesling und zwei Gläser. Ich setzte mich zu ihr und schenkte uns ein. Die dicke Frau war wirklich sehr dick. [Lesezeit ca. 4 min] „Dicke Frau“ weiterlesen

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