Im Sommer trafen wir uns in dem Landgasthaus, das Thibaud und Ulla vor ein paar Jahren bewirtschaftet hatten. Unter der Linde hatte man einen langen Tisch für uns aufgebaut. Die Luft war mild, und wir saßen da zusammen, aßen, tranken und plauderten. Fast jeder hatte ein neues technisches Gerät dabei. Olav führte seinen iPod vor, und Karola zeigten den Freundinnen ihren EeePC. Natürlich hatte auch Hansherbert sein Notebook dabei und tippte eifrig Notizen für seine nächsten Artikel ein. Thibaud aber, der bisher der beflissenste Verteidiger des digitalen Zeitalters war, hielt sich raus und sag spöttisch in die Runde. Dann zog er ein Etui heraus und entnahm ihm einen Bleistift. Aus der Jackentasche zog er ein Notizbuch, das in schwarzes Kunstleder gebunden war. Er hielt beides hoch und sagte: „Das sind die wahrhaft unabhängigen Geräte zum Schreiben. Wenn eure Akkus schon längst leer sind und ihr nichts mehr tippen könnt, bin ich immer noch in der Lage, meine Notizen anzulegen. Und weil das so ist, prophezeie ich eine Renaissance von Bleistift und Papier.“ [Lesezeit ca. 2 min] „Bleistift & Papier“ weiterlesen
Alberner Tod
„Der Tod kann sehr albern sein. Manchmal macht er sich über seine Opfer lustig, er demütigt sie geradezu. Hört euch nur einmal bei Rettungssanitätern und Notärzten um,“ begann Thibaud. Er hatte ein Wasserglas voll mit weißem Wein, einem Riesling, glaube ich, vor sich. Er nahm einen große Schluck bevor er fortfuhr: „Natürlich träumen die meisten Menschen von einem friedlichen, ehrwürdigem Ableben. Manche wünschen sich auch, mitten in einem grandiosen Fick abzutreten, aber das kommt bekanntlich höchst selten vor. Dabei fällt mir eine Anekdote ein, die ich vor Jahren von einem Bestatter hörte.“ Er ließ den Blick über die Runde am Tisch schweifen, um sich zu vergewissen, dass wir auch alle zuhörten. „Alberner Tod“ weiterlesen
Bentley
Gewaltsam
Mit gemischten Gefühlen erinnerte ich mich dieser Tage eines Erlebnisses im vergangenen Sommer, an dem Thibaud entscheidend beteiligt war. Während in der Schweiz und in Österreich die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wurde, waren wir mit dem Auto unterwegs nach Frankfurt, um Freunde zu besuchen und mit ihnen gemeinsam das Spiel der Türken gegen Kroatien anzuschauen. Wir waren in diese eigenartige WG eingeladen, in der sich eine Gruppe von Leuten versammelt hatten, die samt und sonders von Eltern aus den Teilnehmerländern dieser EM stammten. Thibaud, der sonst nicht sehr am Fußball interessiert war und bis dahin keine der Partien gesehen hatte, freute sich auf den Abend. Er sah es als Experiment und redete die ganze Fahrt über davon, welche Nationalitäten wohl eher zu den Kroaten und welche zu den Türken halten würden. Mit fiel die Wahl leicht, ist doch meine Gefährtin Zilly Tochter eines rheinischen Vaters und einer kroatischen Mutter. Außerdem gefiel mir der kroatische Trainer und sein Rocksong zur Meisterschaft. Natürlich war Thibaud unparteiisch. Wir waren auf der A3 unterwegs, das Wetter war schön, aber der Verkehr an diesem späten Freitagnachmittag war ziemlich dicht. Ich war gerade auf die äußerste linke Spur gewechselt, um eine Karawane aus Wohnmobilen zu überholen, da passierte es. „Gewaltsam“ weiterlesen
Weihnachtsgeist
Olav und seine neue Freundin hatten in diesem Jahr das Weihnachtstreffen organisiert. Auf der Terrasse ihrer Wohnung im siebzehnten Stock stand ein Christbaum, der sparsam mit Elektrokerzen bestückt war. Sie hatten ein breites Büffet angerichtet und ein Faß portugiesischen Weins bereitgestellt. Nach und nach trafen die Mitglieder der Gruppe ein. Die Stimmung war fröhlich, freundschaftlich, aber nicht ausgelassen angesichts dessen, was wir alle auf uns zukommen sahen. Thibaud erschien als einer der letzten. Ulla würde nachkommen. Dann saßen wir zu sechst am Küchentisch und redeten über unsere Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste. Olav sagte: „Ich erlebe Weihnachten immer als Mangel. Weil ich nie gelernt habe, das Fest naiv zu begehen. Die Traditionen sind mir fremd. Meine Familie war nicht christlich, überhaupt nicht religiös. Es gab auch keinen bestimmten Grund dafür, dass meine Eltern sich mit dem ganzen Weihnachtsdingen nicht gut auskannten. Vielleicht der Krieg. Aber Vater berichtete, dass er auch als Kind nie Weihnachten mit Christbaum und so weiter gefeiert hatte. Sein Vater war nämlich Proletarier, ein Werftarbeiter und strammer Kommunist, der religiöse Fest als bürgerlichen Kram abtat. Immerhin gab es bei uns an Heiligabend Geschenke.“ „Weihnachtsgeist“ weiterlesen
Über Thibaud
Es ist nicht leicht, über Thibaud zu sprechen. Auch wir, die wir ihn seit Jahren kennen, wissen nur das von ihm, was er selbst berichtet hat. Immer wieder diskutiert die Gruppe, zu der auch ich mich zähle, den Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen und kommen zu keinem Ergebnis. Da wir alle aber Thibaud für eine bedeutende Persönlichkeit in diesen Zeiten halten, haben wir beschlossen, sein Berichte, Geschichten und Aktionen in Zukunft noch genauer, noch häufiger zu dokumentieren. Deshalb haben wir ihm diese Website gewidmet, die zu pflegen ich die ehrenhafte Aufgabe habe. Wo ist Thibaud jetzt? Was tut er gerade? Wir wissen es nicht genau, sind aber sicher, dass er spätestens zum Beginn des kommenden Jahres auftauchen und uns wieder unterhalten und erleuchten wird.
Sysiphos
Tanzen
“Tanzen,” rief Henk und beschrieb mit den Armen einen Kreis um seinen Körper, “ist doch das Wichtigste!” Hanshubert kratzte sich am Kopf und zwinkerte mir zu. Wir hatten uns bei Thibaud versammelt, der den Landgasthof aufgegeben hatte, aber noch mit Ulla zusammen dort wohnte. Man hatte die Kneipentische zusammengeschoben. Es gab Gulasch und einen Rotwein aus dem Fass. Henk hüpfte über das Parkett und schlug mit den Flügeln. Man merkte ihm seine Verletzung kaum an. “Seht ihr, seht ihr,” schrie er, “es geht wieder!” Und dabei knickte sein rechtes Bein weg. Er lag auf dem Boden, das Gesicht vom Schmerz verzerrt. Djorda, die ihn direkt aus der Klinik hergefahren hatte, half Henk auf, ich hob ihn auf den Stuhl und reichte ihm ein volles Glas. Thibaud prostete ihm zu. “Es gibt hier im Dorf einen Kerl, manche halten ihn für geistig behindert. Der sagt immer: Ach, wenn ich nur Autofahren könnte, dann würde ich um die ganze Welt fahren. Reisen, das ist doch das Wichtigste. Tatsächlich ist er nie von hier weggekommen.” Henk knallte das Glas auf den Tisch und sah wütend aus. “Was man nicht kann oder nicht mehr kann, ist immer das Wichtigste,” fuhr Thibaud fort.
Henk und Djorda aßen schweigend ihre Teller leer und verabschiedeten sich früh.
Kläffer
“Ach,” sagte Thibaud mit einem resignierten Schulterzucken, “wenn man öffentlich ist, dann muss man einfach damit umgehen können, dass es sich kleine Lichter nicht nehmen lassen, einen anzugreifen.” Auch Heinzherbert nickte, obwohl sein öffentliches Dasein sich im wesentlichen darauf beschränkte, regelmäßig in den angesagten Wirtshäuser der Stadt aufzulaufen und von Tisch zu Tisch zu grüßen. “Früher habe ich zurückgebellt, wenn die Köter mich ankläfften. Heute sage ich mir: Lass sie leben in ihrer kleinen, grauen Welt, die sie für ein Universum halten, lass ihnen ihre Eitelkeiten, ihre unbefriedigten Sehnsüchte, lass ihnen das bisschen, auf das sie stolz sein können.” Natürlich fragte Oya, ob es einen aktuellen, konkreten Anlasse für Thibauds Äußerungen gab. Aber der winkte nur ab, murmelte etwas von Aufträgen, die im Rahmen einer Kungelei zu verteilen gewesen wären, aber dann nicht zustande kamen, und nahm einen Schluck vom Riesling. Es wurde noch ein netter Abend, die Gespräche bewegten sich auf hohem Niveau.
Männer & Frauen
Zilla hatte von einem Kollegen erzählt, dessen Frau ihn verlassen hatte. Sie hatte nicht nur die drei Kinder mitgenommen, sondern das Haus komplett leer geräumt. Als der Mann von einer Dienstreise heim kam, fand er nur seine persönlichen Sache, alle Möbel und sonstigen Gegenstände waren weg. Thibaud schaltete sich ein und sagte: „Männer & Frauen“ weiterlesen
Monolog über die Gerechtigkeit
Der folgende Text ist Thibauds Monolog über die Gerechtigkeit wie ihn Ulla aus dem Gedächtnis aufgezeichnet hat. Sie erzählte, er habe vor seinem PC gesessen wie ihmmer, den Bürostuhl auf maximaler Höhe, sodass nur die Fußspitzen den Boden berührten, sehr aufrecht, die Hände unbeweglich auf der Tastatur ruhend und den Blick fest auf das Display geheftet. Er habe zunächst sehr bedächtig gesprochen, sich dann aber in eine wütende Rede gesteigert, die in einem langen Schrei geendet sei. Die ersten beiden Sätze habe sie nicht gehört und nicht aufschreiben könne; sie habe diese aber entsprechend des ürbigen Monologs ergänzt. Ich bin der Meinung, Ulla hat sich diese ersten Sätze ausgedacht, ja, vielleicht hat sie sich das alles nur ausgedacht, um diese Aussagen zu rechtfertigen, mit denen sie uns so beeinflussen will, wie Thibaud das sonst tut. „Monolog über die Gerechtigkeit“ weiterlesen
Alte Zeiten, neue Pläne
“Ja,” sagte Thibaud, “ich kenn das. Erzähl wie es bei dir war.” Wir saßen in seinem Büro unter dem Dach, denn eigentlich hatten wir über das Konzept für dieses neue Portal diskutieren wollen an diesem Samstagabend. Ulla hatte uns später einen Imbiss gebracht und eine Flasche Wein. Wir hatten gegessen und dabei Belangloses geredet. Bis Thibaud mich fragte, wie es mir denn in den letzten Monaten gegangen sei, man habe sich ja seit über einem Vierteljahr nicht gesehen. “Beschissen,” hatte ich geantwortet, und jetzt wollte er es genau wissen.
“Es fing damit an,” begann ich, “dass ich das Gefühl hatte, dass alles, was um mich herum geschah, gegen mich gerichtet war. Alle Menschen, denen ich direkt oder indirekt begegnete, wollten mir schaden – so kam es mir vor. Ab irgendeinem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, es sei immer schon so gewesen, und ich tat mir leid. Mir schien es so, als hätte ich nie wirkliche Freude erlebt, sei nie verstanden oder geliebt worden. Dann, an einem sehr grauen Tag, an dem ein eiskalter Nieselregen mich auf dem Weg ins Büro begleitet hatte, an einem Tag, an die Kollegen mich anschwiegen, begann ich, mich selbst nicht mehr zu mögen. Ich fand mich hässlich, zu dick, unbeholfen, und wusste ganz plötzlich, dass mich nie ein anderer Mensch so erkennen würde, wie ich war. Ich las die Zeitung und verstand kein Wort. Ich stellte mir die Frage: Was soll werden?” „Alte Zeiten, neue Pläne“ weiterlesen
Entlassung
Und wieder bildeten wir das Empfangskomitee für Thibaud. Wieder stand die alte Clique, die aus seinen alten Schülern und Schülerinnen bestand, fast vollzählig vor dem Nebenausgang der Haftanstalt auf dem Gehsteig. Hanshubert bot Zigaretten an, aber die meisten hatten das Rauchen aufgegeben. Ulla stand da in ihrem weiten Mantel, unbeweglich und konzentriert, während Wolle eine Sektflasche schwenkte und grinste. Natürlich hatte uns die Nachricht, dass Thibaud seine Reststrafe hatte absitzen müssen, schockiert. Zilly war die erste gewesen, die Ulla anrief: “Er wird nie vernünftig handeln,” hatte sie gesagt. Denn er war tatsächlich nach Hamburg gefahren, hatte diesem hässlichen Anwalt tatsächlich aufgelauert und ihn verprügelt, obwohl er hätte wissen müssen, dass er damit gegen die Bewährungsaulagen vertieß. Immerhin hatte er nur sechs Wochen Haft aushalten müssen, und Ulla berichtete, dass er gar nicht traurig darüber war, weil er im Knast Zeit hätte, endlich Proust komplett zu lesen. „Entlassung“ weiterlesen
Fetisch
Thibaud sah müde aus, resigniert, beinahe verzweifelt. Er hatte das Haar im Nacken zu einem struppigen Zopf gebunden und sah mich aus matten Augen an: “Manchmal wünsche ich mir. ich wäre süchtig oder hätte wenigstens einen Fetisch. Dann hätte ich ein Ziel, dem ich nachjagen könnte – den nächsten Schuss, die nächste Dosis, den nächsten Kick. Ich wüsste, wofür ich all mein Geld ausgeben könnte. Wozu ich überhaupt dem Geld nachjage dadurch, dass ich mich verkaufe.” Er nahm einen Schluck von dem saueren Wein, den uns die unfreundliche Bedienung in Wassergläsern auf den schmierigen Kneipentisch gestellt hatte. “Ein Hobby würde nicht reichen, dazu fehlt mir die Stupidität. Mich zehn Jahre lang in jeder freien Minute in einer öligen Garage unter einen Oldtimer zu legen, um dann am Tag der ersten Ausfahrt glücklich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen.” Mir kam es vor, als habe er Tränen in den Augen gehabt bei diesem Satz. “Mein Gott, ein Glaube wäre auch nicht schlecht. Etwas auf das man alles projizieren kann: Wünsche, Hoffnungen, Schuld.”
Er hob den Kopf und starrte die nikotinfleckige Decke der düsteren Kneipe an. Mir war es peinlich, dass sich Thibaud derart im Selbstmitleid wälzte. Selbst wenn seine Gefühle echt waren und der Auftritt nicht pure Schauspielerei, so war er doch erbärmlich. Ich trank aus, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ ihn grußlos.
Macht kaputt
Hansherbert hatte seinen Job verloren. Man hatte ihm gekündigt nachdem sein Arbeitgeber den größten Auftrag verloren hatte. “Und die beiden Geschäftsführer haben nichts dagegen unternommen,” sagte er wütend als wir im kleinen Kreise in der Bar am Schollpark saßen. Thibaud war überraschend dazugekommen und brachte gerade eine neue Runde Wodkadrinks vom Tresen. Wir prosteten uns schweigend zu. “Hast du denn noch nie davon geträumt, mit einer Pumpgun in die Firma zu gehen und all die Arschlöcher umzunieten?” Thibaud sah mich fragend an. “Natürlich,” gab ich zurück, “aber meine Rachephantasie sieht so aus, dass ich im gesamten Treppenhaus alles mit Kreosin tränke und unten im Foyer das entscheidende Streichholz werfe.” Niemand lachte. Nur Hansherbert grinste: “Na ja, dem einen Chef mal eben die Reifen an seinem Porsche zu zerstechen, das wär’s schon wert.” Didi grinste und leerte sein Glas. “Neulich habe ich meine alten Schallplatten aus dem Keller geholt, den Plattenspieler angeschlossen und Musik aus den Siebzigern gehört,” erzählte Thibaud. Björn gähnte. “Die Scherben zum Beispiel.” Hansherbert reckte sich: “Schon klar: Macht kaputt, was euch kaputt macht.” – “Ja,” sagte Thibaud, “das sind einfach Wahrheiten. Wer oder was ist es, dass uns so schadet, dass wir uns rächen wollen? Und wenn du es herausgefunden hast, dann musst du was tun.” Didi reagierte als Erster: “Was denn? Waffen kaufen und Amok laufen?” Thibaud gab keine Antwort.
