Zilly war es zuerst aufgefallen. „Ich mache mir Sorgen,“ sagte sie eines Abends zu mir, „Albert macht einen schlechten Eindruck. Ist total schlecht drauf. Und um Jahre gealtert.“ Um ehrlich zu sein: Albert war einer aus der Runde, mit dem ich nie viel zu tun hatte und der mich auch nicht sonderlich interessierte. Er gehörte zu dieser Sorte Mann, bei denen immer alles prima lief und die nur von ihren Erfolgen erzählten. Selbst wenn herumgesprochen hatte, dass be ihm wieder einmal irgendein Projekt in die Hose gegangen war. Über die Jahre betrachtet hatte er seine Betätigungsfelder gewechselt wie andere Kerle die Partnerin. Zilly, die öfter mit ihm geredet hatte, wusste zu berichten, dass er eigentlich städtischer Angesteller gewesen sei, das auch so gelernt habe und in seinen Zwanzigern wohl auch auf irgendeinem Amt Dienst geschoben habe. In den frühen Siebzigern hatte er die Brocken dann hingeschmissen und war als Hippie rund ums Mittelmeer auf Achse. Unterwegs hatte er den Drüsch kennengelernt, einen genialen Gitarristen, der mal einer der prominentesten Beat-Musiker der Stadt gewesen war, und dann Gründer der Band „Unterbach“ wurde. Albert wurde Manager der Band, gründete eine Plattenfirma, hatte irgendwann zwanzig Projekte unter Vertrag, residierte in einer Villa mit Park am Fluss „Sorgen sind wie Säure“ weiterlesen
Hallo, Krebs…
Thibaud nahm seine Mütze ab, setzte sich ans Kopfende und sagte: „Albert ist tot.“ Nicht nur ich sah ihn verwirrt an. „Wer?“ fragte Evi. „Albert Winzen, mein alter Schulfreund Albert.“ Die Gruppe verfiel wieder ins Gespräch, nur Zilly sah ihn und sagte: „Mein Beileid.“ Thibaud winkte ab. „So eng waren wir nicht miteinander. Ich würde nicht einmal sagen, dass wir Freunde waren. Schulkameraden, vielleicht – wobei ich das Wort Kamerad in diesem Zusammenhang hasse.“ – „Aber ihr hattet Kontakt?“ setzte Zilly nach. „Nach dem Abi hatten wir uns gut dreißig Jahre nicht gesehen. Dann lief er mir zufällig in Trier über den Weg. Wir tauschten Telefonnummern und Mailadressen aus. Nach ein paar Wochen mailte er mir, er sei dann und dann in der Stadt, ob wir nicht ein Bier zusammen trinken wollten. Wir verabredeten uns.“ „Hallo, Krebs…“ weiterlesen
Gut im Bett
Schreckliche Tage waren das. Zilly war nun schon seit zweieinhalb Monaten als Projektleiterin in Shanghai, und die meisten Freunde aus unserer Gruppe waren im Urlaub, krank oder einfach verschwunden. Trotzdem machte ich mich jeden Abend auf den Weg zu Paco, der unsere damalige Stammkneipe betrieb. Paco war als Petra geboren und hatte als frischgebackener Mann gleich eine neue Nationalität angenommen. In der Küche wirkte Sven, ihr ehemaliger Gatte, der inzwischen erkannt hatte, dass er schwul war. So konnten die beiden prima als Paar weiterleben, wobei sich Sven die Freiheit nahm, seine Sexualität in vollen Zügen außerhalb dieser Beziehung auszuleben. Paco war das egal, denn er hatte sich auf die asexuelle Seite geschlagen. Davon hatte ich in den zwei Jahren, in denen wir dort Quartier bezogen hatten, nichts gewusst. Aber nun, wo ich oft am frühen Abend der einzige Gast war, erfuhr ich alles über die beiden Gastronomen. Zumal ich mich auch für einen Thekenplatz entschieden hatte. So saß ich Abend für Abend am kurzen Ende des Tresens, von wo aus ich nicht nur die restlichen Plätze mit den Barhockern, sondern gut Zweidrittel des Gastraums übersehen konnte. Und über einen der Spiegel hinter dem Tresen hatte ich einen guten Blick auf den Eingang. Mir entging nichts. Jedenfalls so lange ich nüchtern war. „Gut im Bett“ weiterlesen
Sex mit Angie
Es kam in diesen Zeit nicht besonders häufig vor, dass Thibaud mit einem Grinsen im Gesicht zu unserem Treffen in der Stammkneipe kam. Dieses Mal war er nicht nur gelaunt, sondern geradezu albern. Er riss einen Witz nach dem anderen und machte zu jedem Thema lustige Bemerkungen. Als das Gespräch auf die kommenden Wahlen kam, sagte er plötzlich: „Ich hatte Sex mit Angie.“ Die Reaktion der Gruppe fiel müde aus. Also hob er die Stimme: „Ich hab die Kanzlerin gevögelt!“ Erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus, weil wir alle natürlich hören wollten, was sich hinter dieser abenteuerlichen Aussage verbarg. Und Thibaud fing an zu erzählen. „Es war bei einer Party. Beziehungsweise einem obskuren Open-Air-Festival, das auf einem ehemaligen Fußballplatz stattfand. Gruppen gealterter Pseudo-Punker machten schlechten Krach mit fürchterlichen deutschen Texten. Bands aus Pubertätsbubis gaben üble Cover-Versionen von Tote-Hosen-Schlagern zum Besten. Und eine Truppe Afrikaner quälte das Publikum mit selbsterfundener Folklore im holprigen Reggae-Stil. Über allem hing eine Wolke Marihuana-Dampf und Bierdunst. Rasch wurde mir klar, dass ich alter Sack keine der hübschen jungen Dinger, die überall mherumlungerten, anbaggern und abschleppen würde und sah mich nach Damen meiner Generation um. Da fiel sie mir sofort auf. Sie trug eine weite, bunte Weltmusikhose, ein verwaschenes blaues T-Shirt und wiegte sich ganz unabhängig von der jeweiligen Live-Musik gleichförmig in den Hüften. „Sex mit Angie“ weiterlesen
Meine erste Liebe
Kleine Skatrunde
Vom Schmerz und vom Sterben
Er wolle ohne Schmerzen sterben, habe Richard ihm wenige Tage vor seinem Tod gesagt, berichtete Thibaud. Es sei zu einer hitzigen Diskussion gekommen, die Hilde sich eingeschaltet habe. Die sei ja vor vier Jahren mit ihrer neunzigjährigen Mutter nach Zürich gereist, um sie bei der Sterbehilfe zu begleiten. Die alte Frau habe die ihr verordneten Schmerzmittel nicht mehr vertragen, die sie über mehr als zwanzig Jahre gegen die Begleiterscheinungen ihrer Arthritis genommen habe. Dann habe sie sich weitere zwei Jahre mit Dauerschmerzen gequält, habe nie mehr länger als eine Stunde am Stück schlafen können und sei furchtbar verzweifelt gewesen. Richard habe diesem Bericht intensiv zugehört und dabei oft zustimmend genickt. Er selbst, so Thibaud, sei nicht einverstanden gewesen. Schließlich sei er schon immer ein strikter Gegner jeder Form von Sterbehilfe und Euthanasie. Er sei der Ansicht, dass der Schmerz zum Leben gehöre. Daraufhin hätten ihn Richard und Hilde scharf angegriffen, er habe gut reden, ihm sei es ja noch nie so gegangen wie Hildes Mutter. „Vom Schmerz und vom Sterben“ weiterlesen
Sisyphos ist müde
Ein Kerl namens Mae
Er galt gemeinhin als attraktiver Mann. Jedenfalls bei den Frauen. Männer sehen bei Kollegen nicht so aufs Äußere, aber die Burschen, die ihn näher kennen lernten, waren ebenfalls von ihm begeistert. Ein korrekter Typ, sagten sie, zuverlässig, ehrlich und für jeden Scheiß zu haben. Ein echter Kumpel. Stimmte auch. Mae machte sich für jeden Bruder im Geiste gerade, so lange der ihn nicht Mae nannte. Er hasste diesen Namen, den ihm sein Erzeuger gegeben hatte. Überall auf der Welt, klagte er einmal, gilt das als Frauenname; ich will doch keinen Mädchennamen tragen. Also begann er, den Menschen zu erzählen, es handele sich um einen Spitznamen, der sich aus seinen drei Vornamen ergeben habe: Max Antonius Emil. Die Jungs nahmen ihm die Lüge ab und sprachen ihn in Zukunft als Mäx an. Damit konnte er gut leben. „Ein Kerl namens Mae“ weiterlesen
Der starke Uwe
Striptease in Roermond
Zur dicken Mutti
Die Beerdigung des Fahrrads
Das Tanzschulenmassaker
Aus dem Büro und aus der Bar drang Stimmengewirr. Immer lauter. Die ersten Flaschen und Gläser klirrten. Dann trat jemand die Doppelflügeltür auf, und sieben, acht wilde Kerle stürmten die Tanzfläche. Udo hatte gerade das Pult mit dem Plattenspieler übernommen, weil ich eine Pause zum Knutschen mit Susanne nutzen wollte. Die Mädchen kreischten, einer von meinen Kumpeln brüllte die Eindringlinge an. Aber die reagierten darauf nicht, sondern begannen ihre Arbeit. Systematisch zerschlugen sie die Spiegelwand, kickten die Stühle umher und zuletzt zerlegte ein großer Dunkelhäutiger die Musikanlage, hinter der Udo sich verschanzt hatte. Später, ein paar Tage nach der Mondlandung, erwischten sie mich nachts auf der Blücherstraße. Die Narbe am Hinterkopf kann ich noch heute ertasten. „Das Tanzschulenmassaker“ weiterlesen
Schlittschuh, Schwimmbad, Schamhaar
Damals, in den Zeiten als sich Mädchen noch nicht die Achsel- und Schamhaare rasieren mussten, waren Freibad und Eisbahn die wichtigsten Kontakthöfe fürs junge Volk. Während man die körperlichen Gegebenheiten einer potenziellen Geschlechtspartnerin zum Beispiel im Schwimmbad am Rheinstadion oder in Lörick unmittelbar in Augenschein nehmen und abwägen konnten, zählten im Eisstadion mehr die inneren Werte. Barbara hätte natürlich in beiden Arenen Kantersiege eingefahren, aber im Sommer habe ich sie nie beim Schwimmen gesehen. Auf dem Eis war sie zumindest im Winter 1969/70 die Schönste ihrer Altersklasse. Für mich allerdings ein bisschen zu schön und auch um ein, zwei Jahre zu alt. Sie war recht groß gewachsen, hellblond und trug die Haare mittelgescheitelt und sehr lang unter der warmen Mütze. So weit es sich abschätzen ließ, muss sie eine tolle Figur gehabt haben. Ich aber hatte ein Auge auf ihre kleine Schwester geworfen. „Schlittschuh, Schwimmbad, Schamhaar“ weiterlesen
