Die nackte Hilde

Meine Mutter war auf merkwürdige Weise amüsiert: „Und da hat der Werner nur so einen gestreiften Beutel an…“ Sie kicherte, und das tat sie sonst nie. Wir saßen am Frühstückstisch. Die Eltern waren am Vorabend zu Gast beim Chef des Vaters gewesen, der hatte ihnen Filme vom FKK-Urlaub mit Frau und Kind auf Korsika gezeigt. Nicht dass es bei uns prüde zugegangen wäre, aber dass man die ganzen Ferien über nackig rumlaufen könnte und alle anderen Leute auch, das kam den Eltern schon merkwürdig vor. Was dieses Thema anging, waren Werner und Hilde ein Traumpaar. Schließlich hatte sie vor der Hochzeit einige Jahre als Schönheitstänzerin gearbeitet. In einer Nachtbar namens „Bocksbeutel“, die damals noch dem Rotlichtmillieu zugerechnet wurde. Aber Werner, der mit seinem soziophoben Bruder gemeinsam die vom Vater geerbte Firma führte, war ohnehin Nonkonformist. Der verkehrte im Düsseldorfer Nachtleben, verstand sich zu amüsieren und war großer Fan des Catchens, das damals noch einen ziemlich zweifelhaften Ruf hatte und als Vergnügen für Verbrecher galt. „Die nackte Hilde“ weiterlesen

Unter Keepern

„Nigbur heiße ich“, sagte Nigbur. „Wie der Torwart?“ fragte Köpke, und Nigbur antwortete „Welcher Torwart?“ Die Männer am Stehtisch wechselten mitleidige Blicke. „Na, der Nigbur“, sagte Herkenrath, „der mit dem Skandal.“ Lehmann hob das Kinn und schüttelte unwillig den Kopf: „Du meinst den Manglitz, Manfred Manglitz. Oder was denkst du, Klaus?“ Köpke trank gerade sein Bier aus. Dafür ergriff Tilkowski das Wort: „Kann nur Manglitz sein.“ Die Runde schwieg. „Meine Gute, was kann ich dafür, dass ich Nigbur heiße!“ rief Nigbur plötzlich. Alle lachten und stießen mit den halbvollen Gläsern an. „Hauptsache“, warf Kahn ein, „kein Ball geht rein.“

Hans-Jürgen im Untergrund

In den ersten Jahren wurde die verkehrspolitische Arbeit der hiesigen Grünen durch Einbruchsdiebstahl finanziert. Ich sah Hans-Jürgen zum ersten Mal bei einer Versammlung, wo er aus dem Hintergrund des Saals mit lauter Stimme gegen die K-Gruppen-Kader anbrüllte, die dabei waren, die Partei feindlich zu übernehmen. Dann traf ich ihn auf der einen oder anderen Demo und auf verschiedenen Sitzungen. Ob ich an Verkehrspolitik interessiert sei, fragte er mich eines Tages. Ich bejahte, und er sagte, dann komm doch mal vorbei. In jenen Tagen hatte Hans-Jürgen einen Laden auf der Eintrachtstraße gemietet. Das war damals eine der finstersten Ecken der Stadt, gelegen an der Kölner Straße, die hier zwischen der Industriebrache hinter dem Bahnhof und einer Reihe schäbiger Häuser entlang führte. Die Eintrachtstraße selbst endete im Nirgendwo einer wild bewachsenen Fläche, auf der sich nachts die Junkies und Dealer trafen. Gegenüber vom Laden gab es die einzige afrikanische Disco der Stadt. „Hans-Jürgen im Untergrund“ weiterlesen

Robbies Gold

Zwei Jahre vor seinem Tod musste ich Robbie versprechen, zu Lebzeiten nicht über ihn zu schreiben. Das habe nichts damit zu tun, dass er sich für irgendetwas schäme oder irgendetwas bereue; er wolle einfach nicht nachlesbar sein. Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren. Wir sahen uns eine Zeitlang nicht, dann erfuhr ich über Umwege, dass er an seinem schweren Nierenleiden gestorben war. Er wurde nicht einmal fünfzig Jahre alt. Meine ehemalige Ehefrau sagte: Der ist ein Zigeuner. Konnte man drauf kommen angesichts seiner schwarzen Locken und der intensiven dunklen Augen. Wir hatten ihn so um 1984 herum kennen gelernt. Seine Tochter ging in denselben Kindergarten wie mein Sohn. Da lebte er noch mit der Mutter dieses Mädchens zusammen. Robbie war ein Spieler, und damit meine ich nicht nur seinen Hang zur Zockerei. „Robbies Gold“ weiterlesen

Der Nachbar und Krystyna

Der Nachbar war komisch. Lag ich nachts im Schlafzimmer auf der Matratze, konnte ich oft hören, dass er sich in seinem Apartment bewegte. Musik spielte er nie. Gesehen habe ich ihn dann erst in diesen verrückten Tagen zwischen Ende Juli und Ende August. Ich wohnte in einer kleinen Neubaubude unweit vom Flinger Broich. Das Leben hatte sich so entwickelt, dass ich in jenem Jahr an Fortuna wenig Interesse hatte. Die bösen Hooligans, die sich in der Rockerkneipe an der Ecke trafen, machten mir Angst. Da blieb ich lieber zuhause und genoss die Sonne auf der großen Terrasse. In den warmen Sommernächte saß ich nachts gern draußen und rauchte Kräuter. Da die Dinge überhaupt schief liefen, meditierte ich zudem viel vor dem Fernseher. Sah viele Etappen der Tour live, obwohl ich mich wenig für den Radpsort interessierte. Konnte mich auch nicht für diesen rotwangigen Ossi begeistern, der von den Sprechpuppen im TV gehypt wurde. Bis der 15. Juli kam, ein Dienstag. Die berühmte Etappe nach Andora, als Jan Ullrich sie alle nass machte. Da war ich begeistert von ihm. „Der Nachbar und Krystyna“ weiterlesen

Die Straße der Patrioten

Dieser Tage unternahm ich mit dem Hund eine Wanderung im Straberger Wald. Der gar nicht der „Straberger“ Wald ist, sondern der Mühlenbusch, welcher hinwiederum den südlichsten Abschnitt des Knechtstedener Waldes darstellt. Das Dorf Straberg, dessen Pech ist, vor Längerem der kotzfleckförmigen Stadt Dormagen (Kenner sagen „Dormagendarm“…) zugeschkagen woirden zu sein, grenzt an ebendiesen Busch. Folgerichtig heißt die Straße, die aus dem Ort in den Wald führt auch „Mühlenbuschweg“. Dortselbst lebte ich im Jahre 1977 in einer Wohngemeinschaft (kurz: WG). Die Greise unter den Lesern werden sich daran erinnern, dass eine WG damals für Otto Normalfamilie quasi Sodom und Gomera in einer Person war. WGler waren entweder faule Stundenten oder verschlagene Terroristen. Wir waren weder noch. Tatsächlich zeichnete sich unsere WG dadurch aus, dass alle sieben Insassen ihre Brötchen mit ehrlicher Arbeit verdienten. Was aber den Dorfkern, der sich aus den damals noch handelsüblichen, niederrheinsch-dumpfen Rübenköppen zusammensetzte, nicht daran hinderte, von unserer kleinen Gemeinde als „diesen Studenten“ zu reden. Okay, wir waren Städter, jung und wild dazu, aber als Studenten wollten wir uns dann doch nicht beleidigen lassen. „Die Straße der Patrioten“ weiterlesen

Welcher Krebs

Wie aus dem Nichts, wie ein Wedergänger, wie ein vom Tode Auferstandener erschien Thibaud eines Abends im Gasthaus. Jahre waren vergangen, und die Gruppe hatten schon einige Tote zu beklagen. Erhard war erst vor wenigen Monaten bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Beerdigung von Moni war auch erst sieben, acht Wochen her. Thibaud sah dagegen besser aus als lange Zeit zuvor. Als wäre er zwischendurch von einer Kur in die nächste gewechselt. Er setzte sich auf seinen angestammten Platz, blickte in die Runde und fragte: Na, wie ist es euch ergangen? „Welcher Krebs“ weiterlesen

Sisyphos ist müde

Schon vor Jahren hatte Thibaud damit kokettiert, er sei ein moderner Sisyphos und sein Glück bestünde darin, sich immer und immer wieder anzustrengen und zu engagieren für Projekte, die dann doch irgendwann den Bach runter gingen. Heinzhubert hatte ihn daraufhin auf seine küchenpsychologische Art als Mensch mit einer manisch-depressiven, also bipolaren Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Was ihm beinahe eine Tracht Prügel eingetragen hätte.
Dieser Tage traf sich die Gruppe nach einigen Monaten wieder fast in ihrer ursprünglichen Besetzung. Der Landgasthof hatte einen neuen Wirt, und in der Küche führte Isa das Regiment, die wir noch aus dem „Perl“ in bester Erinnerung hatten. Nach und nach trafen die Freunde ein, und gegen achtzehn Uhr waren wir komplett. Man bestellte, aß, trank und redete. Thibaud sah alt aus. Alt, nicht krank oder erschöpft. „Eigentlich“, sagte Zilly, „sieht er jetzt so alt aus wie er ist.“ „Sisyphos ist müde“ weiterlesen

Ungeliebte Bürgersöhnchen

„Sie sind das Schlimmste in dieser Gesellschaft“, rief Thibaud, und wir ahnten, was kommen würde. Tatsächlich begann er einen Tirade gegen die Heuchler, die männlichen, die mit dem Silberlöffel im Maul geborenen, die sich um ihre Zukunft nicht sorgen müssen, ist ihnen ein Erbe doch sicher. „Und da rennen sie nun sinnlos rum, tun sinnlose Dinge, machen was mit Medien, mit Kommunikation oder mit Kunst, um sich ein unbürgerliches Gefühl zu geben. Denn im Grunde werden sie von ihrem schlechten Gewissen hin und her gezerrt. Dass sie vom Säuglingsalter an frei von materiellen Sorgen leben konnte, während andere strampeln und hampeln, um ein bisschen menschenwürdiges Leben zu ergattern. Deshalb werden sie dann Sozialdemokraten, die Bürgersöhnchen. Das beruhigt, weil sie sich auf der richtigen Seite wähnen. Denn neben dem schlechten Gewissen werden diese kleinen, nichtswürdigen Schwanzträger von der Angst gesteuert, die Unterschicht könnte sich gegen sie wenden, ihnen wehtun und etwas wegnehmen. „Ungeliebte Bürgersöhnchen“ weiterlesen

Widerstand

„Und,“ fragte Thibaud in die Runde, „was wollen wir jetzt tun? Wie sollen wir Widerstand leisten?“ Nach den letzten Wahlen hatte man uns durch allerlei Repressalien in den Untergrund gedrängt, und wir trafen uns nicht mehr in Kneipen oder Bars oder in unseren Privatwohnungen. Olivia hatte ein verfallenes Haus am Rande des Friedhofs entdeckt, das über einen intakten Kellerraum verfügte. Dort hielten wir seit dem Monat, der die Hälfte der Legislaturperiode bezeichnete, unsere konspirativen Besprechungen ab. Auf den Kontakt per Mobiltelefon und Internet hatten wir schon vor längerem verzichtet – da hatte die Partei, die sich angeblich für Bürgerrechte einsetzt, den Vorschlägen für die flächendeckende Überwachung ergeben und den entsprechenden Gesetzen zugestimmt. Unsere Depression war nun der Wut gewichen und der Einsicht, dass wir etwas tun müssten. „Militanz kommt nicht in Frage!“ warf Hanshubert ein, unser Wackelkandidat, denn als Besserverdiener hatte er deutlich von den Steuersenkungen der Regierung profitiert. „Widerstand“ weiterlesen

Katastrophen

„Es riecht nach Katastrophe“, sagte Thibaud und sah sich in der Runde um. „Als ich heute morgen gegen halb sechs halb wach da lag, hörte ich ein dumpfes Grollen. Geräusche tief fliegender Passagierjets, die Kreise über der Stadt zogen. Dann begannen die Sirenen der Feuerwehr zu schreien. Es würde ein Unglück geben, da war ich mir sicher. Schlief aber wieder ein.“ Keiner von uns reagierte, vielleicht weil alle auf eine Fortsetzung warteten. Tatsächlich fuhr er fort. „Vor nicht langer Zeit war ich mir eines Nacht auch völlig sicher, dass es zu einer Katastrophe kommen würde. „Katastrophen“ weiterlesen

Testament

Wenige Tage bevor Thibaud nach Amerika verschwand, hatte er mich abends besucht. Er sah bedrückt aus und hielt sich gar nicht erst mit Smalltalk auf. „Weißt du,“ begann er, „ich habe mir Gedanken über mein Sterben und das Danach gemacht. Ich würde das Ergebnis nicht mein Testament nennen, sondern eine Wunschliste an den Tod.“ Ich erschrak, und in den ersten Tag nach seinem Verschwinden dachte ich manchmal, er habe sich umgebracht. Aber dagegen sprach, was er mir sagte: „Testament“ weiterlesen

Der Haken

Der letzte Brief, den Thibaud aus Kalifornien schrieb, ging nicht an uns. Wir hatten schon mehr als ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört, und keiner von uns hatte eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihm. Wir waren sicher, dass er sein Glück bei Deborah gefunden hatte und wir ihn nie wiedersehen würden. Dann waren wir alle bei der Geburtstagsparty von Olivia, die sehr geheimnisvoll tat. Es werde jemand erscheinen, mit dem wir nicht gerechnet hätten. Alle dachten insgeheim, dass es sich nur um Thibaud handeln könne. Auch ich war ein wenig enttäuscht, als uns Olivia gegen Mitternacht eine schmale Frau unbestimmbaren Alters als Ehrengast vorstellte und sagte: „Das ist Gulla. Einige von euch werden Sie noch kennen.“ Ich erinnerte mich an diesen merkwürdigen Urlaub in Dänemark und an die Affäre, die Thibaud mit dem knabenhaften Mädchen hatte. Sie bat um unsere Aufmerksamkeit: „Thibaud hat mir geschrieben. Ich denke, es ist in Ordnung, dass ich euch seinen Brief vorlese, obwohl er persönlich an mich gerichtet ist.“ „Der Haken“ weiterlesen

Profikiller

Es ist einige Jahre her, da bat mich Thibaud, ihn zu einem Kongress in Wien zu begleiten, wo er einen wichtigen Vortrag zu halten hatte. Es war ihm recht, die Strecke in zwei Tagen mit dem Auto zu bewältigen, und so reisten wir mit meinem flammneuen Saab Cabrio Richtung Süden. Das Wetter war gut, der Verkehr relativ dünn. Wir übernachteten außerhalb von Nürnberg und fuhren am frühen Morgen wieder los. Man hatte in Wien Zimmer im Hotel Herrenhof für uns reserviert, und am späten Nachmittag trafen wir ein. Wir bezogen die Zimmer und beschlossen, die innere Stadt zu Fuß zu erkunden. Später aßen wir eine Kleinigkeit in einem böhmischen Restaurant. Schließlich wollten wir den Abend in einer Bar ausklingen lassen und fanden uns eher zufällig im Planter’s Club wieder. An einem der Tresen suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen und bestellten Mojitos. Wir redeten wenig und beobachteten das Treiben. Eine junge Frau im unauffälligen Business-Kostüm kam vorbei und setzte sich in unserer Nähe an die Bar. Der Bartender verwechselte eine Bestellung, sodass sie einen Mojito bekam und ich einen Gin-Tonic. So lernten wir uns kennen. „Profikiller“ weiterlesen

Veränderungen

Dass Thibaud an der Spitze der Alterspyramide unserer Gruppe steht, dürfte bekannt sein. Aber mit geringem Abstand folgen drei Frauen, eine davon ist Jill. Und die war unseren Treffen über lange Zeit, sicher zwei, drei Jahre, ferngeblieben. Nun hatte Hanshubert wieder einmal zu einer Party geladen. Seine Feste waren legendär, auch weil es jedes Mal zu einem Ereignis kam, das in den Anekdotenschatz der Gruppe einging. In weiser Voraussicht hatte er die Terrasse über den Dächern des Gewerbegebiets als Hauptspielfeld eingerichtet, denn es war ein recht heißer Sommertag, und die Nacht versprach, mild zu werden. Jill hatte sich angemeldet. Bei unserer letzten Begegnung hatte sie erzählt, sie sei im Vorjahr fünfzig geworden und habe dieses Jubiläum im Kreis von lauter Kerlen in einem Club für Singles auf Fuerteventura verbracht. Es sei sehr schön für alle Beteiligten gewesen. „Veränderungen“ weiterlesen

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