Vom Pferd

Die Kastanien der Allee haben sich dezent und leise von ihren Blättern getrennt. Klett steht frühmorgens mit der Kaffeetasse auf dem Balkon. Ein alter Mann fegt das Laub vor dem Haus gegenüber zusammen. Genau bis zur Grenze zum jeweiligen Nachbarhaus. Er hofft auf ein bisschen Bodennebel am Rhein beim Hundegang. Aber er hat beim Frühstück getrödelt, und als sie auf den Wiesen am Fluss ankommen, hat die Herbstsonne für klare Verhältnisse gesorgt. Klett sieht drei Reiter in einiger Entfernung unterm Deich entgegenkommen. [Lesezeit ca. 5 min]

Weit genug weg, hofft er, dass der Hund nicht über die Wiese sprintet, weil er mit den Pferden spielen will. Dann müsste er ihn zurückholen, den Reitern nahekommen, was er vermeiden will, weil er Angst vor den großen Reittieren hat. Zum Glück schaltet die Gruppe auf Schritttempo um. Das interessiert den Hund nicht.

Nur einmal in seinem Leben hat Klett auf einem Pferd gesessen. Der Erdkundelehrer Burkert hatte seine Lieblingsschüler auf ein Wochenende auf seine Ranch im Westerwald eingeladen. So nannte er das Gelände mit dem Haupthaus, einer Hütte und einem Stall am Waldrand. Sie quetschten sich zu fünft in Axels 2CV und fuhren über Bundesstraßen nach Rennerod, fanden den Wegweiser zum Ziel und bogen auf einen Schotterweg ein, der hügelaufwärts führte.

Burkert war kein studierter Lehrer, sondern ein Quereinsteiger, der sich dadurch qualifizierte, dass er viele Jahre als Globetrotter unterwegs war und mehr als die halbe Welt gesehen hatte. Wenn er im grauen Lehreranzug vor der Klasse stand, sah er aus wie verkleidet. Jetzt stand er da am Tor unter dem Schild im Westernstil: Burnanza. Neben ihm eine schlanke, deutlich jüngere Frau, gut einen Kopf größer als er, mit langem, dunklen, in der Mitte gescheitelten Haar und hüftlangem Pferdeschwanz. Die Schüler verpassten ihr sofort den Spitznamen Indianerin. Burkert trug verblasste Jeans an seinen krummen Beinen, ein kariertes Flanellhemd, darüber eine braune Lederwest und natürlich einen echten Cowboy-Hut.

„Herzlich willkommen, Jungs“, rief er mit seinem typischen Akzent, den Chris so perfekt parodieren konnte; eine Sprachmelodie mit merkwürdigen Betonungen und rollendem R, ein bisschen wie Peter Maffay. Kein Wunder, denn auch Burkert stammte aus Siebenbürgen.

Vor dem Haupthaus hatten das Paar einen Tisch aufgebaut mit Getränken, Butterbroten und Obst. „Setzt euch. Erfrischt euch. Wie war die Fahrt?“
Die Indianerin lächelt durchgehend, sagte aber kein Wort. Am Ende der Weide hinterm Haus grasten die Pferde. „Hey, wer will reiten?“
Dass seine Klassenkameraden von seiner Phobie wussten, überraschte Klett. „Der muss reiten!“, riefen sie im Chor.
„Na, dann kommt.“

Klett wusste, dass er sich nicht würde drücken können. Er würde sein Gesicht verlieren, als Feigling dastehen, und die halbe Schule würde sich über ihn lustig machen, wenn sie von seiner Weigerung erführe. Je näher sie den Tieren kamen, desto weniger Angst hatte er, denn Burkert besaß drei Isländer. Blonde Pferde mit weißen Mähnen und breitem Rücken, kaum höher als einszwanzig. „Musst dich an der Mähne festhalten“, sagte Burkert und half ihm auf den Rücken der kleinsten Stute.

Dann gab der Lehrer dem Pony einen Klapps auf die Hinterseite, und Jenny, so ihr Name, setzte sich in Bewegung. Klett klammerte sich an die Mähne und saß da vornübergebeugt, das Gesicht beinahe neben dem Hals. Alex machte ein Foto, das später gegen Kletts Willen in der Schülerzeitung erschien. Dann verfiel das Pferd in eine schnellere Gangart, und er hob in gleichmäßigem Rhythmus von dessen Rücken ab. Der Lehrer rief etwas, und Jenny beschleunigte. Klett bekam Panik und ließ sich seitwärts vom Pferd fallen. Burkert und die Jungen lachten, nur die Indianerin sah unbewegt zu.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Lehrer. Klett hatte sich nicht verletzt und würde höchstens einen blauen Fleck an der Hüfte davontragen.

Nach Einbruch der Dunkelheit saßen sie am großen Lagerfeuer, brieten Würstchen über den Flammen und rösteten Stockbrot. Die Indianerin hatte eine große Schüssel Kartoffelsalat gereicht. Man trank Bier und Cola. Fred hatte die Gitarre ausgepackt und sang House of the Rising Sun. Alle rauchten selbstgedrehte Zigaretten, nur der Lehrer paffte die Zigarillos, für die er in der Schule bekannt war.

Die Schüler hatten sich mit Burkert während der Klassenfahrt im Frühjahr nach Paris angefreundet. Über seine vielfältigen Kontakte hatte der Lehrer die Unterbringung in einem Gewwerkschaftswohnheim am Montparnasse organisiert. Außerdem den Bus samt Fahrer, einen Kriegskameraden, mit dem er 1942 in der besetzten französischen Haupstadt Dienst tat. Sie würden den Burschen gemeinsam das wahre Paris zeigen, hatte er angekündigt.

Jetzt gaben Burkert und seine Schüler die schönsten Geschichten der Reise zum Besten und lachten. Wie sie Klassenlehrer Müller ausgetrickst hatten. Genau die fünf Jungen, die jetzt auf der Farm zu Gast waren. Denen wollten Burkert und sein Freund Paris bei Nacht zeigen. Müller hatte aber verboten, nach zehn Uhr abends noch das Haus zu verlassen. Also schlichen sie sich ins Foyer. Der Bus wartete mit laufendem Motor. Sie rannten auf die Straße, stiegen ein, und der Fahrer raste los. Durch die Heckscheibe sahen sie noch den winkenden und rufenden Klassenlehrer. Burkert hatte für die Aktion natürlich Ärger bekommen. Aber das war sie ihm wert, den Burschen die Prostituierten an den Hallen zu zeigen. Den Boul’Mich einmal rauf und runter zu laufen um gegen Mitternacht in einem Bistro an der Rue Gay-Lussac einzukehren.

Und während sie im Bus saßen, erzählten Burkert und der Busfahrer von ihrer Zeit in Paris. Vom lauen Dienst und dem heftigen Nachtleben. Von den Frauen, von ihren Gelagen in die berühmten Literaten-Cafés. Dass sie nie auf die Idee gekommen wären, auf Heimaturlaub nach Hause zu fahren, wo es doch in der Stadt der Liebe und der Lichter so schön war. „War eine gute Zeit“, sagten beide.

Später nahm der Gastgeber Klett beiseite. „Woher kommt deine Angst vor Pferden?“
Klett hatte schon öfter darüber nachgedacht. Ein Erlebnis fiel ihm ein. Als Sechsjähriger hatte er gemeinsam mit seinem Bruder den halben Sommer bei der Oma in Nordfriesland verbracht. Gegenüber lag das große Anwesen von Bauer Johannsen, der nicht nur Kühe und Schweine hatte, sondern Pferde züchtete und selbst aktiver Pferdesportler war. Sein erfolgreichstes Pferd war die Stute Fanny, ein nervöses Vollblut, das selbst im Stall selten wirklich stillstand. Und diese Stute war eines Tages durchgegangen. Jemand hatte die Box nicht richtig verschlossen, und die Tür zum Hof stand offen. Klett war gerade auf dem Weg zu den Nachbarskindern, als das Pferd in höchstem Tempo kaum einen halben Meter entfernt von ihm in Richtung Straße galoppierte. Er presste sich an die Hauswand und machte sich in die Hose.

Eine andere Szene erschien Klett bisweilen im Traum, und er war sich nicht sicher, ob es sich vielleicht um eine Erinnerung handelte. Die Sache an sich ließ sich rekonstruieren. In den Fünfzigerjahren tourte eine Show-Truppe durch Deutschland, die als Kosakenreiter bekannt waren und mit Pferden arbeitete. Die traten auch in Kletts Heimatstadt auf, das ist dokumentiert. Und zwar auf dem Fußballplatz in der Nachbarschaft. Er wird drei oder höchstens vier Jahre alt gewesen sein und saß im Traum mit dem Vater und dem älteren Bruder auf der Tribüne. Im Traum holte ihn ein Mann im schweren, dunkelroten Mantel mit hoher Fellmütze ab und führt ihn in den Anstoßkreis. An dem einen Tor startete ein Reiter und trieb sein Pferd zum Galop. Klett stand mit dem Mann am Mittelpunkt. Der Koska beugte sich in vollen Tempo hinab, griff den Jungen und legte ihn quer über den Hals des Pferdes, galoppierte, wendet scharf am anderen Tor und setzte Klett ohne zu stoppen wieder ab. Im Traum machte er sich in die Hose.

„Keine Ahnung. War schon immer so. Vielleicht weil die Gäule so groß sind und so große, gelbe Zähne haben. Und dieser panische Blick. Sind mir einfach nicht geheuer“, sagte er, denn er hatte keine Lust, über seine Phobie zu sprechen.

Jetzt hat die Gruppe kehrtgemacht und kommt im leichten Trab genau auf Klett und seinen Hund zu. Der steht da, wartet und wedelt. Er geht ein paar Schritte zurück. Die Reiter lassen die Pferde ins Schritttempo übergehen und halten ein paar Meter entfernt an. Klett leint den Hund an. „Keine Angst“, ruft der Mann auf dem vordersten Pferd, „die tun nichts.“ – „Ist ihr Hund pferdefest?“, fragt die Frau dahinter. Klett nickt: „Läuft gern mit Pferden.“ – „Sollen wir ihn auf eine Runde mitnehmen?“

Klett leint den Hund ab, die Gruppe setzt sich in Bewegung und sein bester Freund läuft ganz entspannt neben den großen Tieren. Einmal um die ganze Wiese traben die Pferde. Und als sie wieder am Ausgangspunkt angekommen sind, kommt der Hund freudestrahlend zu seinem Herrchen zurück, lässt sich streicheln und anleinen. Klett ist stolz auf sich und seinen Hund.

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