Im Wald
Kalifornien
Penisdimensionen
Herr Rupprecht behauptete eines Abends, sein Penis sei in erigiertem Zustand mindestens 25 Zentimeter lang und so dick wie eine handelsübliche Fleischwurst. Dann trank er seinen Rotwein aus, grüßte mit einem Kopfnicken und verließ die Gastwirtschaft. Natürlich taten wir seine Aussage als übliche Übertreibung im Kneipengespräch ab und vergaßen die Sache. Herr Rupprecht hatte sich über Monate an unsere Gruppe herangemacht, nachdem wir das Lucios zu unserem Stammlokal gemacht hatten. Herbert, der Wirt, den alle Lucio nannten, weil er gern davon erzählte, er habe eine Zeit lang die erfolgreichste Bude am Strand von Carvoeiro geführt, hatte uns im Westflügel einen Tisch zugeteilt, an dem wir zu zehnt gut Platz fanden. Anfangs hielt sich Herr Rupprecht vorwiegend am Stehtisch im Eingansgbereich auf, später saß er ein paar Tische entfernt von uns, und schließlich nahm er am Nebentisch Platz, sobald wir auftauchten. Dass er es auf die Frauen in unserem Kreis abgesehen hatte, war offensichtlich. So verwickelte er besonders Hilda, Olivia und Elke zu vorgerückter Stunde gern ins Gespräch. [Lesezeit ca. 2 min] „Penisdimensionen“ weiterlesen
Rasuren
Frédéric, der Youngster unserer Gruppe, war völlig fertig. Seine Freundin habe sich völlig überraschend von ihm getrennt. Was der Grund gewesen sei, fragte Olav. Er habe sich geweigert, eine Totalrasur vorzunehmen. Sarah habe verlangt, er solle sich Brust und Beine enthaaren und vor allem unter den Achseln und zwischen den Beinen rasieren. Das habe er zuerst nicht ernstgenommen, statt dessen einen Scherz darüber gemacht und die Sache ignoriert. Dann habe sie ein paar Tage später unter Tränen gesagt, sie könne nicht mehr mit ihm schlafen, das wäre so eklig mit den ganzen Haaren. Und deshalb sei jetzt Schluss. [Lesezeit ca. 2 min] „Rasuren“ weiterlesen
Kunstmacht
Nachdem er sich um seinen Lebensunterhalt nicht mehr sorgen musste, hatte sich Thibaud nach langen Jahren wieder für die Kunst entschieden. Eines Tages rief er an und lud Zilly und mich in sein neues Atelier ein. Er hatte eine aufgelassene ALDI-Filiale in Friedrichstadt angemietet und seinen Wünschen entsprechend gestalten lassen. Die Schaufenster waren mit dunkelblauem Samt verhängt. Eine Klingel gab es nicht. Wir klopften an die Scheibe und warteten. Nach ein paar Minuten öffnete Thibaud und bat uns hinein. Der langgezogene Raum mit den weißlichen Fliesen war hellgrau lackiert. Während der vordere Teil im Dämmerlich lag, war das hintere Drittel durch Filmscheinwerfer hell erleuchtet. Dort standen zwei große Tisch, sicher zwei auf drei Meter groß. Der eine war leer bis auf einen flachen schwarzen Gegenstand, den anderen bedeckten mehrere Schichten aus Zeitungsseiten, großen Fotos, Karton und Papier verschiedener Struktur und Größe. Mir fiel sofort auf, dass außer Schwarz, Weiß, Grau und Rot keine anderen Farben vorkamen. Thibaud trug passend zum Ambiente einen feuerroten Overall. Er führte uns herum, ohne mehr zu sagen als dass das eine der Arbeitstisch, der andere dagegen der Kramtisch sei. Dann zeigte er im vorderen Teil auf eine Sitzgruppe und bat uns, Platz zu nehmen. [Lesezeit ca. 2 min] „Kunstmacht“ weiterlesen
Dicke Frau
Thibaud erzählt: „An einem Frühsommertag, Ulla hatte mich gerade verlassen, saß die dicke Frau im Gastraum. Ich kam aus der Küche und schaute von der Theke aus, wie viele Gäste da wären. Sie saß an einem Tisch im Wintergarten. Die dicke Frau trug ein ärmellose, rotes Sommerkleid mit ziemlich tiefem Ausschnitt. Damals war ich sehr einsam. Deshalb versuchte ich oft, mit Damen, die allein ins Landgasthaus kamen, Kontakt aufzunehmen. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich vor. Sie sah mich an und bestellte ein Glas Weißwein. Nein, nein, sagte ich, ich bin hier der Wirt, aber ihren Weine bekommen sie trotzdem. Dann holte ich eine Flasche vom guten Riesling und zwei Gläser. Ich setzte mich zu ihr und schenkte uns ein. Die dicke Frau war wirklich sehr dick. [Lesezeit ca. 4 min] „Dicke Frau“ weiterlesen
Bleistift & Papier
Im Sommer trafen wir uns in dem Landgasthaus, das Thibaud und Ulla vor ein paar Jahren bewirtschaftet hatten. Unter der Linde hatte man einen langen Tisch für uns aufgebaut. Die Luft war mild, und wir saßen da zusammen, aßen, tranken und plauderten. Fast jeder hatte ein neues technisches Gerät dabei. Olav führte seinen iPod vor, und Karola zeigten den Freundinnen ihren EeePC. Natürlich hatte auch Hansherbert sein Notebook dabei und tippte eifrig Notizen für seine nächsten Artikel ein. Thibaud aber, der bisher der beflissenste Verteidiger des digitalen Zeitalters war, hielt sich raus und sag spöttisch in die Runde. Dann zog er ein Etui heraus und entnahm ihm einen Bleistift. Aus der Jackentasche zog er ein Notizbuch, das in schwarzes Kunstleder gebunden war. Er hielt beides hoch und sagte: „Das sind die wahrhaft unabhängigen Geräte zum Schreiben. Wenn eure Akkus schon längst leer sind und ihr nichts mehr tippen könnt, bin ich immer noch in der Lage, meine Notizen anzulegen. Und weil das so ist, prophezeie ich eine Renaissance von Bleistift und Papier.“ [Lesezeit ca. 2 min] „Bleistift & Papier“ weiterlesen
Alberner Tod
„Der Tod kann sehr albern sein. Manchmal macht er sich über seine Opfer lustig, er demütigt sie geradezu. Hört euch nur einmal bei Rettungssanitätern und Notärzten um,“ begann Thibaud. Er hatte ein Wasserglas voll mit weißem Wein, einem Riesling, glaube ich, vor sich. Er nahm einen große Schluck bevor er fortfuhr: „Natürlich träumen die meisten Menschen von einem friedlichen, ehrwürdigem Ableben. Manche wünschen sich auch, mitten in einem grandiosen Fick abzutreten, aber das kommt bekanntlich höchst selten vor. Dabei fällt mir eine Anekdote ein, die ich vor Jahren von einem Bestatter hörte.“ Er ließ den Blick über die Runde am Tisch schweifen, um sich zu vergewissen, dass wir auch alle zuhörten. „Alberner Tod“ weiterlesen
Bentley
Gewaltsam
Mit gemischten Gefühlen erinnerte ich mich dieser Tage eines Erlebnisses im vergangenen Sommer, an dem Thibaud entscheidend beteiligt war. Während in der Schweiz und in Österreich die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wurde, waren wir mit dem Auto unterwegs nach Frankfurt, um Freunde zu besuchen und mit ihnen gemeinsam das Spiel der Türken gegen Kroatien anzuschauen. Wir waren in diese eigenartige WG eingeladen, in der sich eine Gruppe von Leuten versammelt hatten, die samt und sonders von Eltern aus den Teilnehmerländern dieser EM stammten. Thibaud, der sonst nicht sehr am Fußball interessiert war und bis dahin keine der Partien gesehen hatte, freute sich auf den Abend. Er sah es als Experiment und redete die ganze Fahrt über davon, welche Nationalitäten wohl eher zu den Kroaten und welche zu den Türken halten würden. Mit fiel die Wahl leicht, ist doch meine Gefährtin Zilly Tochter eines rheinischen Vaters und einer kroatischen Mutter. Außerdem gefiel mir der kroatische Trainer und sein Rocksong zur Meisterschaft. Natürlich war Thibaud unparteiisch. Wir waren auf der A3 unterwegs, das Wetter war schön, aber der Verkehr an diesem späten Freitagnachmittag war ziemlich dicht. Ich war gerade auf die äußerste linke Spur gewechselt, um eine Karawane aus Wohnmobilen zu überholen, da passierte es. „Gewaltsam“ weiterlesen
Weihnachtsgeist
Olav und seine neue Freundin hatten in diesem Jahr das Weihnachtstreffen organisiert. Auf der Terrasse ihrer Wohnung im siebzehnten Stock stand ein Christbaum, der sparsam mit Elektrokerzen bestückt war. Sie hatten ein breites Büffet angerichtet und ein Faß portugiesischen Weins bereitgestellt. Nach und nach trafen die Mitglieder der Gruppe ein. Die Stimmung war fröhlich, freundschaftlich, aber nicht ausgelassen angesichts dessen, was wir alle auf uns zukommen sahen. Thibaud erschien als einer der letzten. Ulla würde nachkommen. Dann saßen wir zu sechst am Küchentisch und redeten über unsere Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste. Olav sagte: „Ich erlebe Weihnachten immer als Mangel. Weil ich nie gelernt habe, das Fest naiv zu begehen. Die Traditionen sind mir fremd. Meine Familie war nicht christlich, überhaupt nicht religiös. Es gab auch keinen bestimmten Grund dafür, dass meine Eltern sich mit dem ganzen Weihnachtsdingen nicht gut auskannten. Vielleicht der Krieg. Aber Vater berichtete, dass er auch als Kind nie Weihnachten mit Christbaum und so weiter gefeiert hatte. Sein Vater war nämlich Proletarier, ein Werftarbeiter und strammer Kommunist, der religiöse Fest als bürgerlichen Kram abtat. Immerhin gab es bei uns an Heiligabend Geschenke.“ „Weihnachtsgeist“ weiterlesen
Über Thibaud
Es ist nicht leicht, über Thibaud zu sprechen. Auch wir, die wir ihn seit Jahren kennen, wissen nur das von ihm, was er selbst berichtet hat. Immer wieder diskutiert die Gruppe, zu der auch ich mich zähle, den Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen und kommen zu keinem Ergebnis. Da wir alle aber Thibaud für eine bedeutende Persönlichkeit in diesen Zeiten halten, haben wir beschlossen, sein Berichte, Geschichten und Aktionen in Zukunft noch genauer, noch häufiger zu dokumentieren. Deshalb haben wir ihm diese Website gewidmet, die zu pflegen ich die ehrenhafte Aufgabe habe. Wo ist Thibaud jetzt? Was tut er gerade? Wir wissen es nicht genau, sind aber sicher, dass er spätestens zum Beginn des kommenden Jahres auftauchen und uns wieder unterhalten und erleuchten wird.
Sysiphos
Tanzen
“Tanzen,” rief Henk und beschrieb mit den Armen einen Kreis um seinen Körper, “ist doch das Wichtigste!” Hanshubert kratzte sich am Kopf und zwinkerte mir zu. Wir hatten uns bei Thibaud versammelt, der den Landgasthof aufgegeben hatte, aber noch mit Ulla zusammen dort wohnte. Man hatte die Kneipentische zusammengeschoben. Es gab Gulasch und einen Rotwein aus dem Fass. Henk hüpfte über das Parkett und schlug mit den Flügeln. Man merkte ihm seine Verletzung kaum an. “Seht ihr, seht ihr,” schrie er, “es geht wieder!” Und dabei knickte sein rechtes Bein weg. Er lag auf dem Boden, das Gesicht vom Schmerz verzerrt. Djorda, die ihn direkt aus der Klinik hergefahren hatte, half Henk auf, ich hob ihn auf den Stuhl und reichte ihm ein volles Glas. Thibaud prostete ihm zu. “Es gibt hier im Dorf einen Kerl, manche halten ihn für geistig behindert. Der sagt immer: Ach, wenn ich nur Autofahren könnte, dann würde ich um die ganze Welt fahren. Reisen, das ist doch das Wichtigste. Tatsächlich ist er nie von hier weggekommen.” Henk knallte das Glas auf den Tisch und sah wütend aus. “Was man nicht kann oder nicht mehr kann, ist immer das Wichtigste,” fuhr Thibaud fort.
Henk und Djorda aßen schweigend ihre Teller leer und verabschiedeten sich früh.