Auf einmal war alles zu groß und unübersichtlich. Erik hatte am Tag von Olivers Beerdigung die grundsätzliche Orientierung verloren in seinem Raum-Zeit-Kontinuum. Er erwachte Stunden früher oder später als all die Jahre, konnte kaum noch länger an einem Platz sitzen und legte Wege in der Wohnung zurück, die sich von den gewohnten Pfaden unterschieden. Sein Leben geriet zunehmen aus den Fugen. Und je chaotischer die Dinge wurden, desto weniger trauerte er um seinen Mann. Erik wurde wütend. Er begann mit dem toten Olli zu reden, ihm Vorwürfe zu machen, dass er ihn allein zurückgelassen hatte. Ständig gingen Dinge zu Bruch. Alle Akkus waren auf einmal leer, und nachdem der Kühlschrank seinen Geist aufgegeben hatte, stellte bald auch die Spülmaschine ihren Dienst ein. Oliver hätte solche Probleme mit links geregelt. Der wusste, wo Garantieunterlagen abgeheftet waren, und hatte ein Telefonverzeichnis ausschließlich für Handwerker, Notdienste und Hersteller. Erik wusste davon nichts und stand dem Desaster hilflos gegenüber.
Wie konnte man die Liste der Sender am Fernseher ändern? Wie oft und mit wie viel Wasser mussten die Sansevierien gegossen werden? Bekamen die Fische einmal oder zweimal am Tag Futter? Nur mit dem Hund, da kannte sich Erik hundertprozentig aus. Aber auch Dolly war nach dem Tod ihres Herrchens aus dem Leim. Drei Tage lang hatte die Münsterländer-Hündin gar nicht gefressen, dann nur wenig. Inzwischen nahm sie nur noch eine bestimmte Sorte Trockenfutter zu sich, die sie zu Ollis Lebzeiten verschmäht hatte. Am schlimmsten aber, dass sie sich auf den über viele Jahre eingeübten Spazierstrecken zu verirren begann. Erik konnte sie kaum noch ableinen, weil er fürchten musste, sie fände ihn nach einem ihrer üblichen Ausflüge nicht wieder. Also beschloss er, seiner Dolly eine Stütze, ein Leuchtturm zu sein wie es Oliver über zwanzig Jahre lang für ihn gewesen war.
Zuerst meldete er sich in einer Hundeschule an. Und nach den ersten Lektionen begann er, täglich zweimal eine halbe Stunde lang mit der Hündin zu üben. Disziplin hieß das Zauberwort. Nach anfänglichem Widerstand schien es so, als gefiele es Dolly, enger an die Kandare genommen zu werden. Außerdem stellte Erik ihre Ernährung auf Rohfutter um. Er selbst ging wieder regelmäßig ins Fitness-Studio und achtete streng auf seine Ernährung. Die übliche Flasche Rotwein am Abend reduzierte er auf höchstens zwei Gläser. Süßigkeiten verbannte er ganz aus dem Haus. Dafür fing er das Rauchen wieder an, beschränkte sich aber auf höchstens zwei Zigaretten am Abend. Und dann ließ er sich von seiner Lieblingsfrisörin Susi einen völlig neuen Kopf machen. Sie schnitt ihm das Haar raspelkurz und verzichtete auf seinen Wunsch auf eine Tönung, sodass er nicht mehr wie ein auf jung getrimmter Mittvierziger wirkte, sondern seinem wahren Alter entsprechend wie Anfang Fünfzig aussah. Und als er sich endlich aufgerafft hatte, Ollis Kleiderschrank zu leeren, um die Sachen bei der Caritas abzugeben, da entsorgte er gleich die Hälfte seiner Garderobe mit.
Nur bei Nacht, da war Erik immer noch ein hilfloses Bündel alleingelassener Mensch. Wenn er im viel zu breiten Bett lag, das sie als erstes gemeinsames Möbelstück vor fast zwanzig Jahren angeschafft hatten, dann wusste er im halbwachen Zustand weder, wie spät es war, noch wo genau er sich befand. Also wechselte er auf das schmale Schlafsofa im Gästezimmer. Er legte ein Kissen ans Fußende, und Dolly gewöhnte sich schnell an, jede Nacht in seiner Nähe zu schlafen. Bald betrat er das Schlafzimmer gar nicht mehr. Wann immer er an der geschlossenen Tür vorbeiging, machte er sich Vorwürfe. Als ob er alle Spuren des Zusammenlebens mit Olli verwischen wollte, kam es ihm vor. Inzwischen hatte er sich auch mit allen Unterlagen zu allen möglichen Dingen des gemeinsamen Haushalts vertraut gemacht, hatte kein Problem damit, den Hausmeister anzurufen, wenn die Heizung streikte, oder sich Ersatz für defekte Glühlampen zu besorgen.
Die grundsätzliche Veränderung aber löste ein Fundstück aus, das Dolly entdeckt hatte. Nachdem er die Tür zum Arbeitszimmer in der Nacht versehentlich offengelassen hatte, fand er am nächsten Morgen ein Büchlein mit kräftigen Kauspuren auf dem Teppich im Wohnraum, ein in starkes, dunkelrotes Leder gehüllter Band im Format DIN A5, verschlossen mit einem Riemen und gesichert mit einem winzigen Schloss, das er mit einer gebogenen Büroklammer problemlos öffnen konnte. Die Hündin hatte Olivers Tagebuch der letzten Jahre ans Licht gezerrt. Beim Morgenkaffee begann Erik darin zu lesen. Den ganzen Tag saß er tränenüberströmt mit dem Büchlein am Esstisch und las, was sein Mann über das gemeinsame Leben und über ihn geschrieben hatte. Poetische Passagen über Details ihres Liebenslebens wechselten sich ab mit nüchternen Aufzeichnungen das Eigenheim und die Finanzen betreffend sowie langen Strecken, in denen Olli sich über das Verhalten seines Partner ausließ.
Erik musste erkennen, dass ihn Olli schon lange oder sogar schon immer für einen Faulpelz gehalten hatte, der seine Tapsigkeit, seine Hilflosigkeit in Alltagsdingen und seine grundsätzliche Naivität nur vorschützte, um sich vor unangenehmen Aufgaben zu drücken. Immer wieder beklagte sich sein Mann in diesem Tagebuch darüber, dass er Erik vor sich selbst schützen müsse, und in der Zeit als Oliver schon wusste, dass er sterben würde, machte er sich schreckliche Sorgen und fragte sich immer wieder, was aus seinem Geliebten werden würde, wenn er einmal nicht mehr da wäre. Nachdem er alles gelesen hatte, war seine Liebe zu Olli größer als je zuvor. Und er wusste, er habe ein Vermächtnis zu erfüllen und schwor seinem toten Gatten, von nun an die Dinge anzupacken, sich um den Alltag zu kümmern, zu lernen, was er nicht konnte, und endlich erwachsen zu werden.
Drei Jahre später, Dolly war inzwischen auch tot, lebte er bereits in Hamburg, der Stadt, in die es ihn seit frühester Jugend gezogen hatte. Alles hatte er alleine geregelt: den Verkauf des Hauses, die Auflösung des Hausstandes, die damit verbundenen juristischen und finanziellen Dinge sowie den Umzug. Ohne fremde Hilfe hatte er sich in seinem gelernten Beruf als Speditionskaufmann, den er über fünfzehn Jahren nicht mehr ausgeübt hatte, beworben und tatsächlich eine Stelle gefunden. Die neue Wohnung hatte er selbst renoviert, nebenbei den Führerschein gemacht und einen gebrauchten Kleinwagen angeschafft. Irgendwann hatte er begonnen, für sich zu kochen und nicht mehr jeden Tag auswärts essen zu gehen. Dann begegnete er seiner Frisörin Susi, die der Liebe wegen einer Kollegin nach Hamburg gefolgt war, und sie wurden dicke Freunde, die nach und nach einen großen Bekanntenkreis um sich scharten. Kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag übernahm er die Initiative und gründete eine WG, indem er auf Risiko ein herrliches Stadthaus an der Grenze zu Barmbek mietete und dann sieben Freundinnen und Freunde überzeugen konnte, ebenfalls dort einzuziehen.
Und je selbstbewusster, selbstständiger, souveräner und lebensklüger Erik wurde, desto stärker und positiver wurde seine Erinnerung an Oliver, der immer die Liebe seines Lebens bleiben würde. Gemeinsam mit den WG-Bewohner gab er deshalb jedes Jahr an Ollis Todestag ein rauschendes Fest, den Mann zu ehren, der sich so viel Sorgen um ihn gemacht hatte.