Traumtänzer

Er rutschte in einen schwachen Schlaf. Weite Regionen seines Hirns blieben aktiv. Er erzählte sich stumme Geschichten, memorierte Kochrezepte und stellte passende Einkaufslisten auf. In einem weiteren Teil seines Bewusstsein aber rang er darum, endlich richtig einschlafen zu können. Dabei wurde ihm schleichend klar, dass er in diesem Halbwachzustand mindestens zwei Persönlichkeiten hatte; eine hyperaktive und eine träge. Er verfiel darauf, Schafe zu zahlen, rückwärts ab zehntausend. Aber während er Nummer achttausendneunhundertachtundsiebzig erreichte, lachte ihn das wachte Hirn einfach aus. Malena atmete gleichmäßig neben ihm. Das musste nicht bedeuten, dass sie im Gegensatz zu ihm in Tiefschlaf gefallen war. Ohne dass sie es je zugegeben hatte, wusste Tadé, dass sie nicht selten markierte, schlafend und nicht mehr ansprechbar zu sein. Tat er ja auch, um zu verhindern, dass sie das Bett verließ, um auf der Couch zu übernachten.

Es waren nicht immer Sorgen, die ihn am Schlaf hinderten, eher im Gegenteil. Meistens war es die Masse an Eindrücken, an Vorstellungen, an Einfällen, an Bildern und Erlebnissen, die er wach nicht mehr bewältigen konnte. Mach doch einfach mal die Augen zu, hatte sie ihm geraten. Und dann? fragte er. Dann höre, spüre, schmecke und rieche ich immer. Ganz zu schweigen, von dem ganzen Lebensmaterial, das mir über die Jahre in den Speicher gelaufen ist. Natürlich hatte Tadé Janëin es mit Alkohol und Drogen versucht, diesen Sturm zu besänftigen. Aber eigentlich half nur Sex. Ein wilder, dreckiger Fick löschte alle Hirnströme, und wenn es gut war, dann gab es beim Orgasmus eine Supernova hinter seiner Stirn, die jeden Gedanken auslöschte. Malena konnte ihm da nicht helfen, denn mit ihr zu schlafen war eher wie eine Fahrt mit dem offenen Ruderboot auf einem See mit mildem Wellenschlag, der damit endete, dass sie gemeinsam am Steg anlegten.

Das war schön, weil friedlich, half ihm aber nicht weiter. Die geduldige Karen, mit der er zuvor ein knappes Jahr als Paar gesehen worden war, hatte nichts dagegen, dass er sie regelmäßig mit Wortlawinen überschwemmte, alles vor ihr niederlegte, was an Gedanken und Vorstellungen unter seiner Schädeldecke lebte. Aber irgendwann in einer solchen mehrstündigen Session, in der Tadé spontan Projekte erfand und sie detailliert beschrieb, waren ihm ihre toten Augen aufgefallen. Sie ließ es nur über sich ergehen. Und das kränkte ihn so sehr, dass er sie mit voller Absicht tief verletzte, als er ihr den Laufpass gab.

Im Prinzip müsste er Malena lieben, weil sie Widerstand leistete. Manchmal, wenn er versuchte, ihr seine Sicht auf die Dinge zu erklären, sagte sie bloß: Halt doch einfach mal die Fresse. Das war angemessen. Das heilte ihn nicht. Aber Tadé konnte sich darauf verlassen, dass sie zuhörte. Dass sie sogar genau zuhörte. Sie war der einzige Mensch in seiner Umgebung, der den Weizen der klugen Gedanken vom Spreu seines endloses Gelabers trennen konnte. Allerdings war Tadé Janëin nicht der Typ, der daran interessiert war, seine Einfälle in die Realität zu pflanzen; es genügte ihm, sie formuliert zu haben. Nur so war es möglich, dass er in jenen Jahren sein Geld als Security-Mitarbeiter in einer Videoüberwachungszentrale verdiente, einem Job, in dem er auf Monitore starrte, meistens allein, in dem wenig oder nichts geschah und er lediglich einmal pro Stunde einen Eintrag ins Logbuch einzutragen hatte.

Aber die Bilder, die in sechs Nächten pro Woche an seinen müden Auge vorbeiflogen, wirkten nach. Jede Sequenz eine Story. Als er aus dem Kindergarten in die Grundschule wechselte, hieß es, er sei ein lebhafter Junge. Zwanzig Jahre später galten Kinder, wie er eines gewesen ist, als hyperaktiv, und man behandelte sie mit Medikamenten. Er selbst nahm sich als Person war, der nichts völlig gleichgültig war, was Menschen taten, was mit Menschen geschah. Thadeusz, hatte seine Mutter oft gesagt, du bis ein Gerechtigkeitsfanatiker. Als er in das Alter kam, die Bedeutung dieses Wortes zu begreifen, antwortete er: Ja, das bin ich. Und wenn Malena manchmal sagte, nun lass mal Fünfe gerade sein, antwortete er, das könne er nicht, denn nichts sei unmenschlicher als Ungerechtigkeit.

Im Gegensatz zu ihm war sie eine Kämpferin, eine Frau der Tat. So betrachtet, dachte er bisweilen, waren sie ein perfektes Paar. Und er fantasierte nicht selten, sie könnten gemeinsam die Welt verändern.

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