Als Antoine ein Dutzend Lammkoteletts bestellte, legte ihm Inge die Hand auf den Unterarm und sah ihn mit leichter Mißbilligung an. Er lachte kurz und mit weit geöffnetem Mund, sodass man die vielen Lücken und Zahnruinen sehen konnte. Das erste Glas Wein leerte er in einem Zug. Wie immer tropfte ihm das Hammelfett aufs Hemd. Auch die Fritten aß er mit den Fingern. Seine Lebensgefährtin hatte eine kleine Portion Moussaka bestellt und stocherte im Auflauf herum. Sie machte sich Sorgen um Antoine. Sie war der Ansicht, in seinem Alter müsse man mehr auf die Gesundheit achten, nur noch in Maßen essen und sich regelmäßige Ruhepausen gönnen. Dabei war ihr Mann nicht im mindesten krank. Wie schon mit neunzehn, zwanzig stach er aus jeder Menschenmenge heraus: Sehr groß, absolut schlank mit einem wilden Haarschopf und einem kaum gestutzten Bart. Seit Jahren durchzogen graue Strähnen sein Haar, und er fand, das mache ihn noch attraktiver. Genau wie seine Narben.
Im Sommer verzichtete er gern auf das obligatorische weiße Oberhemd und lief gern mit freiem Oberkörper herum. Seine Sonnebräune verlor er auch nach langen, dunklen Wintern nicht. So saß er oft auf der Terrasse seines Stammcafés und trank seinen Rosé in kleinen Schlucken. Manchmal erzählte er ungefragt von seinen Narben. Da hat mich 1979 ein Bulle mit dem Schlagstock erwischt, offener Rippenbruch, musste rausgeschnitten werden. Die Striemen auf seinem Rücken, die man ihm in einem türkischen Knast verpasst hatte. Ein roter Streifen hier, eine schlecht verheilte Naht da. War Inge dabei, zwang sie ihn, das Hemd wieder anzuziehen. Vorher aber zeigte er gern den Anhänger an seiner langen Silberkette um den Hals: Schwarzer Stern; hab ich von Anarchisten in Barcelona bekommen; als Geschenk, muss 1982 gewesen sein.
Er bestellte nach: mehr Wein, noch mehr Lammkoteletts, Brot. Inge fand, seit seinem sechzigsten Geburtstag habe er einen Bauch bekommen. Genau an der Stelle, wo, so lange sie ihn kannte, eine konkave Wölbung zu sehen war, in die ein schwarzer Haarstrich wuchs. Sie hatte sich vor allem in sein schwarzes Haar verliebt, damals in Bologna. Sie war in eine Demo geraten, ohne es zu wollen. Die Polizei beschoss die Gruppe, zu der sie zufällig gehörte, mit Tränengasgranaten. Ihr gelang es, in einen Hauseingang zu flüchten. Da stand er auf der untersten Stufe mit gereckter Faust, ein rotes Band quer über der Stirn, und brüllte den Carabinieri Verwünschungen zu. Sein weißes Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Als sich Polizisten im Sturmschritt näherten, zog er sie mit sich. Durch den Hausflur in einen Innenhof. Sie zwängten sich durch einen schmalen Gang zwischen zwei Mauern, betraten ein anderes Haus, landeten in einer Bar. Er bestellte etwas am Tresen, und dann tranken sie eine bittere, alkoholische Brühe aus halbhohen Gläsern, dass ihr schlecht wurde.
Zu seinem sechzigsten Geburtstag hatten ihm alte Kampfgefährten ein T-Shirt geschenkt. Vorne drauf ein stilisiertes Foto von Antoine im Stil von Che Guevara. Hinten stand „Europe’s most wanted“ auf dem Hemd. Er hatte es nie getragen, sondern einrahmen lassen. So hing es an der Wand hinter seinem Schreibtisch, und jeder Klient konnte es sehen. Selbst während seines Studiums hörte er nicht auf, überall hinzufahren, wo Autonome gegen die Staatsmacht kämpften. Als niedergelassener Anwalt in dieser unscheinbaren Stadt im Südwesten Frankreichs geriet er noch drei-, viermal in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zweimal hatte man ihn verurteilt, beide Male war die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Kombiniert mit einem zeitlich begrenzten Berufsverbot. So konservativ und spießig die Bürger der Stadt waren, so sehr schätzten sie sein juristisches Können. Es hieß, so wie sich Antoine mit den Gendarmen geschlagen hatte, so setzte er auch die Rechte seiner Klienten durch.
Inge und Antoine hatten in all den Jahren nie zusammengelebt. Er war es, der sie kommen ließ, wann und wohin er es wollte. Und manchmal stand er mitten in der Nacht vor der Tür ihres Appartements im Olympiadorf, nachdem sie über Monate nichts von ihm gehört hatte. Räuber, nannte sie ihn, mein Räuber. Sie fragte nie danach, was er erlebt hatte, und er interessierte sich nicht im Mindesten für ihr Alltagsleben. Dass sie zweimal von ihm schwanger geworden war und abgetrieben hatte, hatte sie ihm nie erzählt. Treu war sie ihm in den ganzen 37 Jahren geblieben. Kein anderer Mann kam in Frage. Ob auch er darauf verzichtete, mit anderen Frauen zu schlagen, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal. Sie wollte nur, dass ihm nichts Schlimmes zustieß. Nur drei Mal hatte er ihr zum Abschied erzählt, wohin er reisen, was er am Ziel tun würde. Sie hatte ihm Glück gewünscht.
An einem grauen Tag im März vor drei Jahren war er in die Stadt gekommen, angeschlagen, müde und deprimiert. Inge war kurz zuvor befördert worden und leitete nun endlich die Abteilung, in der sie den größten Teil ihres Berufslebens verbracht hatte. Sie feierten zusammen, und beim letzten Glas Champagner fragte er sie, ob sie den Rest seines Lebens mit ihm teilen wolle. Ist das ein Antrag? fragte sie, aber er schüttelte den Kopf. Ich möchte dich mitnehmen in meine neue Heimat, in mein neues Haus, wo ich endlich in Frieden leben kann. Inge hatte keine Sekunde gezögert und zugestimmt. Der Ausstieg aus der Anstellung, der Verkauf ihrer Wohnung und verschiedene andere Dinge, die zu erledigen waren, zogen sich über fünf Monate hin.
Antoine war satt. Zufrieden sog er an seiner Filterlosen. Inge hatte das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben, mochte aber den Geruch des schwarzen Tabaks. Was trinkst du als Digestif? fragte er. Sie entschied sich für einen Zitronenlikör. Sie stießen an, und er stürzte auch den Armagnac herunter. Er wird bald sterben, wenn er so weitermacht, dachte sie. Und dann bin ich hier ganz allein.