Der Essigbaum

Als Erik die Waschmaschine ausräumte und ihm ein gutes Dutzend Stoffdreiecke, die er als Stringtangas identifizierte, in die Hände fielen, wurde ihm klar, wie wenig er über seine Tochter wusste. Er fragte sich, ob sie diese Dinger aus sexuellen Gründen trug, und erkannte, dass er von Elisabeths sogenanntem Liebesleben gar nichts wusste. Schwach erinnerte er sich an drei, vier Jungs, die sie in der Pubertät gelegentlich mit nachhause gebracht hatte, und dass einer von denen ein paar Mal in ihrem Kinderzimmer übernachten durfte als sie schon siebzehn war. Und er dachte natürlich auch an Paul, diesen gutaussehenden Langweiler, ihren Ehemann, den sie vor ein paar Monaten verlassen hatte. Selbstverständlich nahm er sie wieder im Haus auf, fragte aber nicht nach den Gründen. [Lesezeit ca. 17 min]

Mit Paul hatte er nichts anfangen können, es gab keinerlei Gemeinsamkeiten, und deshalb kam es nicht einmal zu einem Gespräch mit dem Schwiegersohn. Aber der hielt ohnehin nicht viel von der angeheirateten Verwandtschaft. Dass Lis und er nicht einmal zur Beerdigung von Inge erschienen waren, weil sie irgendeinen Luxusurlaub nicht absagen wollten, nahm er vor allem Paul übel. Und so verwunderte ihn die Trennung der beiden nicht sonderlich.

Wie hatten sich Verwandte, Bekannte, Freunde und Nachbarn die Mäuler zerrissen, als gut ein Jahr zuvor seine Geliebte zu ihm gezogen war, Angelina, kaum drei oder vier Jahre älter als die Tochter. Die war eine der wenigen Menschen, die sich dazu nicht negativ äußerte, sondern ihn sogar beglückwünschte. Die anderen fanden es pietätlos, sich so kurz nach dem Tod seiner Gattin eine Jüngere ins Haus zu holen. Dabei tat ihm Geli, so nannte er die Geliebte, einfach gut. Sie war der freundlichste und fröhlichste Mensch, dem er je begegnet war, so ziemlich das genaue Gegenteil von Inge, die nie so richtig aus sich herausgehen konnte, die meist ernst und sorgenvoll auftrat und mit Beginn der Wechseljahre immer schweigsamer geworden war.

Körperlich ähnelten sich die beiden dagegen. Inge war Zeit Lebens immer dünn gewesen, eher sportlich und drahtig, manchmal sogar hager. Auch Angelina, gut einen halben Kopf größer als er, war von einem ähnlichen Typus, schlank mit einem fast knabenhaften Körper. Während also Lis diese knappen Tangas trug, bevorzugte Geli schlichte, durchweg schwarze Slips, die er Schlüpfer nannte, was sie zum Lachen brachte. Überhaupt neigte seine junge Geliebte dazu, gern und laut zu lachen. Als sie zum ersten Mal bei einem Orgasmus lachte, erschrak er ein wenig, gewöhnte sich aber daran.

Er war ihr vor allem dankbar dafür, dass sie ihn als Mann entdeckt hatte und oft und gern mit ihm schlief. Und wenn es einmal nicht klappte, dann pressten sie einfach ihre warmen Körper unter der Bettdecke aneinander. Ihre ständige gute Laune hatte bei einigen Leuten in seiner Nähe zu der Annahme geführt, Angelina sei nicht besonders helle. Einer seiner besten Freunde hatte gemeint, ihm auf einer Party mit einem Augenzwinkern den Spruch zuzuraunen, nachdem Frauen mit geringer Intelligenz besondere Begabungen im Bett vorzuweisen hätten. Er ließ den Kerl stehen und brach die Freundschaft kommentarlos und endgültig ab.

Denn in Wahrheit war Angelina, die aus einer multinationalen Akademikerfamilie stammte, gebildet und belesen und durchaus in der Lage, über komplexe Themen zu debattieren, was sie mit ihm an vielen Abenden beim Rotwein mit großem Ernst tat. Und weil sie in der Philosophie und Kultur so viel mehr wusste als er, lernte er von ihr. Als Ingenieur hatte er sich sein Leben lang mehr mit Formeln und Konstruktionen befasst und sich vom kulturellen Leben der Stadt weitgehend ferngehalten. Inge war dagegen eine eifrige Freundin des Theaters und der klassischen Musik, hatte ein Opernabo und besuchte mit ihren Freundinnen nicht nur die Premieren der großen Stücke, sondern war gern gesehener Gast bei allen möglichen Veranstaltungen der freien Kulturszene. Er hätte nie gedacht, dass Elisabeth eher in seine Fußstapfen treten und Architektur studieren würde. Ähnlich wie er hatte die Tochter auch einen eher simplen Geschmack, bevorzugte die leichte Popmusik und hatte ein Faible für Musicals.

Also lebte er unerwartet mit zwei Frauen in dem Haus, das Inge und er in jungen Jahren gekauft hatten, ein ursprünglich schlichtes Einfamilienhaus am Rande der Stadt, ein handtuchschmales Grundstück, das leicht ansteigend bis an das angrenzende Waldstück reichte. Wider Erwarten stürzte sich seine Frau auf den Garten, zeichnete Pläne und begann systematisch aus einer öden Rasenwüste ein Kunstwerk zu schaffen. Sie gliederte den Garten durch Hecken und Buschgruppen, sorgte aber dafür, dass man von der Terrasse und vor allem vom Wohnzimmer durch das Panoramafenster einen Blick bis zum Wald hatte. Und genau in dieser Sichtachse wollte sie einen Essigbaum pflanzen, obwohl der freundliche Nachbar zur Linken, der sich wohl auskannte, meinte, das sei Unkraut, damit würde sie nichts als Ärger haben. Sie lachte und schlug seine Warnung in den Wind, denn sie liebte diese Pflanze mit den knotigen Stämmen und den fedrigen Blättern.

Nach dem Tod seiner Frau war das Grundstück einigermaßen verwildert, und regelmäßig nahm er sich vor, einen professionellen Gärtner zu engagieren, kam aber nie weiter, als höchstpersönlich das Stück Rasen am Swimmingpool zu mähen und das Unkraut in den Ritzen der Terrasse zu zupfen. Lis zeigte ebenso wenig Ambitionen, sich um den Garten zu kümmern wie Geli. Dafür hatten sich die beiden jungen Frauen rasch miteinander angefreundet, saßen noch im Herbst oft draußen und redeten bis in die Nacht hinein. Er ließ sie dann früh allein, weil er ihre Frauengespräche nicht stören wollte, zog sich ins Dachgeschoss in sein Arbeitszimmer zurück und befasste sich mit seiner Sammlung. Die Stimmen der beiden durchs Fenster zu hören, löste bei ihm unbestimmte Glücksgefühle aus.

Wie eine bewährte Wohngemeinschaft teilten sie sich die Aufgaben im Haushalt. Erik musste anfangs als Single viel lernen, durchdrang die Aufgaben aber analytisch, wie es seine Art war und beherrsche bald die wesentlichen Techniken beim Putzen und Waschen. Nur mit dem Kochen tat er sich schwer, nicht zuletzt, weil er, so hatte Inge es immer ausgedrückt, mehr Vielfraß als Feinschmecker war. Immerhin hatte er nach all den Jahren eine semiprofessionelle Gasgrillstation angeschafft und verwöhnte seine Frauen regelmäßig mit reichlichen Fleischmahlzeiten. Dafür erwies sich Geli als Meisterköchin, und sie kamen überein, sie von anderen Aufgaben zu befreien, damit sie öfter das Abendessen für die WG zubereiten könnten.

So lebten die drei glücklich und zufrieden über den Winter hinweg bis in den März, den sommerlich zu nennen die Medien nicht müde wurden. Doch dann änderte sich die Situation. Zufällig hatten sowohl Elisabeth als auch Angelina Anstellungen in der Stadt gefunden, beide in ihren erlernten Berufen, beide bei Unternehmen, die sie mochten, und mit Aufgaben, die ihnen Freude machten. Also verließen die jungen Frauen das Haus täglich gegen acht und kamen selten vor sieben wieder zurück. An den Wochenenden erholten sie sich, und Erik fand es auch richtig so. Nur litt der Haushalt unter der neuen Situation, sodass er nach einer Lösung suchte.

Frau Schultz hatte ihn sofort überzeugt, und auch seine Mitbewohnerinnen zeigte sich angetan von der zukünftigen Zugehfrau, die Erik für eine 40-Stunden-Woche engagierte. Und weil sie am anderen Ende der Stadt wohnte und es vorkam, dass sie sehr spät noch im Haus zu tun hatte, richtet er ihr das Gartenzimmer im Souterrain her, damit sie notfalls übernachten konnte. Das Angebot nahm sie freudig an, und schon im Mai schlief sie öfter im Haus, als dass sie nachhause fuhr, wo, wie sie sagte, ohnehin niemand auf sie wartete. Ohne Mühe hielt sie alle Räume sauber, kümmerte sich um die Wäsche und erledigte die Einkäufe, indem sie mit ihrem kleinen, blauen Auto verschiedene Wochenmärkte und Einkaufszentren anfuhr. Und weil es für alle Beteiligten so bequem war, übernahm sie auch die unterschiedlichsten Besorgungen und entlastete Erik von ungeliebten Aufgaben und die frisch berufstätig geworden Frauen von allem, was ihnen Stress bereiten konnte.

Außerdem stellte sich Emilia Schultz als geniale Köchin heraus, die über eine Sammlung von sicher Hundert erprobten Rezepten verfügte, aber auch nach Wunsch und auf der Grundlage weniger Hinweise die Lieblingsspeisen ihrer drei Arbeitgeber auf den Tisch zauberte. Ihre Aufgaben erledigte sie eher schweigend und mit großem Ernst. Und weil sie sich flink und still durch die Etagen bewegte, merkte Erik erst, dass sie anwesend war, wenn sie eine Pause einlegte und ihn zu einem Schwätzchen einlud. Auf Anhieb hatte er sich in ihren irgendwie osteuropäischen Akzent verliebt, der, wie er wusste, daher kam, dass sie aus Kasachstan stammte und in den Neunzigern als Spätaussiedlerin ins Land gekommen war. Bei der Arbeit trug sie altmodische Kittelschürzen, die bei ihm warme Erinnerungen an die geliebte Schwiegermutter auslösten, in der Tasche immer ein Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Weil außer ihr aber niemand im Haus rauchte, zog sie sich bei Wind und Wetter auf die Terrasse am Pool zurück, um dort rasch ein paar Züge zu nehmen.

Nach und nach hatte Erik das Haus nach seinen Plänen um- und ausbauen lassen. So entstand an der Rückseite ein Innenhof, in dem er nach einigen Jahren ein Swimmingpool anlegen ließ, ein schmales, aber langes Becken, für den Inge bereit war, einen Teil des Gartens zu opfern. Der Essigbaum war schnell gewachsen, und als Elisabeth aufs Gymnasium kam, hatte die Krone eine Höhe von gut drei Metern erreicht. Seine Frau geriet jedes Jahr im Herbst ins Schwärmen, wenn sich die Blätter, die sie ein Gefieder nannte, in einer breiten Palette von Farbtönen zwischen einem Burgunderrot und einem fahlen Gelb verfärbten. Und immer, wenn Lis Schulfreundinnen mitbrachte und die sich im Garten aufhielten, warnte sie die Kinder, der Baum sei giftig. Erik hatte sich informiert und wusste, dass der Milchsaft Entzündungen auf der Haut und besonders in den Augen auslösen konnte, dass der Essigbaum seinen Beinamen Giftsumach aber grundlos trug.

Elisabeth und Angelina kamen nun immer später heim, oft erst gegen Mitternacht, dann nicht selten kichernd und unter offensichtlichem Alkoholeinfluss. Sie seien noch weggegangen, hieß es dann, und Erik sah die Entwicklung positiv, wurden seine Tochter und ihre potenzielle Schwiegermutter immer mehr zu Freundinnen. Er dagegen ging selten aus, weil es ihm zuwider war, allein in der Stadt zu sein oder gar in eine Kneipe, Bar oder Gaststätte zu gehen. Dafür hatte er es sich angewöhnt, ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen, zunächst in den ans Grundstück angrenzenden Wald, dann weiter über die Felder, die Hügel hinauf und wieder hinunter bis zum See, den er, nachdem er sich an Strecken von zehn und mehr Kilometern gewöhnt hatte, gern umrundete, um dann an der Badestelle mit mitgebrachtem Kaffee und Sandwiches, die ihm Frau Schultz zubereitet hatte, zu vespern.

Im Juni hatte eine fürchterliche Hitzewelle das Land gelähmt. Nur der Pool im Innenhof hatte ihnen Abkühlung geboten. Während Erik noch vor dem Frühstück ein paar Züge schwamm, lebten die jungen Frauen nach Feierabend fast im Wasser. Aus seinem Arbeitszimmer unter dem Dach hörte er Lis und Geli plantschen und kreischen. Als er eines Tages aus dem Fenster sah, erkannte er, dass beide nackt badeten. Seine Tochter unbekleidet zu sehen bereitete ihm ein unbestimmtes Unbehagen und er mied den Hof, wenn sie dort im Pool ihre Spiele spielten. Anfang Juli, die jungen Frauen waren noch nicht zurück von ihren Jobs, hörte er jemanden im Schwimmbecken prusten und sah Frau Schultz, die sich nach getaner Arbeit im Wasser erfrischte. Sie kletterte aus dem Pool, bekleidet nur mit einem altmodischen Schlüpfer mit Spitzen an den Seiten. Erik beobachtete sie beim Abtrocknen, bemerkte ihre schweren, hängenden Brüste über einem runden Bauch. Ihr Körper war das genaue Gegenteil von dem, den er an Inge so geliebt hatte. Trotzdem befeuerte Emilia seine Fantasie. Schon seit Wochen hatte er nicht mehr mit Angelina geschlafen, und er spürte beim Anblick der kleinen, stämmigen Frau, wie sehr er den Sex vermisste.

Nach Inges plötzlichem Tod hatte sich Erik um den Garten nicht gekümmert und nur kurz darüber nachgedacht, einen Gärtner mit der Pflege zu beauftragen. Erst einige Jahre später hatte er begonnen, die entstandene Wildnis zu roden. Elektrisch betriebene Geräte machten ihm Spaß, und auch die Kettensäge mit Motor benutzte er gern. So fielen die Eiben, die er nie gemocht hatte, und die beiden Fichten. Die Hecken schnitt er kurz und grub deren Wurzeln aus, nur die Beete direkt an der Terrasse, die rührte er nicht an. Und nach zwei Sommer schwerer Arbeit zog sich nur noch eine Rasenfläche von den Blumen bis zum Wald hin. Am Ende stand der Essigbaum, der mittlerweile einen zweiten Stamm ausgebildet hatte und so groß geworden war, dass man unter ihm hergehen konnte, ohne dass seine Blätter den Kopf berührten.

Der Sommer hatte sich auf erträgliche Temperaturen eingependelt, aber das Schwimmbecken blieb das Zentrum der abendlichen Vergnügungen. Erst wenn Elisabeth und Geli genug vom Wasser hatten, traute sich Emilia aus ihrem Zimmer und stieg in den Pool. Immer wieder beobachtete Erik sie dabei und wartete auf den Augenblick, wenn sie fast nackt am Beckenrand stand oder es sich auf eine Zigarette in einem der Liegestühle bequem machte. Bis er sich eines Tages ein Herz fasste, seine Badehose anzog und sich zu ihr gesellte. Schnell verschränkte sie die Arme vor der Brust und stammelte eine Entschuldigung. Er lächelte und winkte nur ab, um über die Stufen ins Wasser zu steigen.

Im Laufe des Monats wurde diese Begegnung zum Ritual. Fast jeden Abend trafen sich Erik und Emilia nun am Pool. Während sie am Beckenrand saß und er ein wenig im Pool paddelte, unterhielten sich. Nach und nach erzählten sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten und waren schließlich beim Du. Inzwischen hatte sie sich einen Badeanzug besorgt und bewegte sich ganz unbefangen in seiner Gegenwart. Seine Tochter und seine ehemalige Geliebte waren auf einer gemeinsamen Urlaubsreise, und die beiden Daheimgebliebenen verlegten das Abendessen in den Innenhof. Komm doch mit ins Wasser, sagte er eines Abends. Sie schwammen umeinander, sie näherten sich an und hielten gleich wieder Distanz.

Es war ein strahlend klarer Tag, an dem Emilia in seiner Gegenwart den Badeanzug auszog, um sich abzutrocknen, während er noch im Pool blieb, etwas, was sie nie zuvor getan hatte. Es kam ihm vor, als wolle sie sich ihm darbieten, und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Bis sie nackt, wie sie war, zu ihm ins Wasser stieg. Er entledigte sich seiner Hose, sie kamen sich näher, ihre Körper dicht an dicht. Im Gästezimmer am Innenhof schliefen sie zum ersten Mal miteinander, und es taten ihnen beiden gut.

Der Winter blieb grau, es gab keinen Schnee und die Temperatur erreichte nie den Nullpunkt. Emilia war inzwischen ins Haus gezogen, hatte ihre Wohnung am anderen Ende der Stadt allerdings behalten. Die jungen Frauen gingen ihrer Routine nach, und Erik und Emilia führten ein ruhiges Leben in einem geordneten Haushalt. Er hatte das große Sofa so umgedreht, dass man von da aus durch das Panoramafenster in den Garten schauen konnte. Weil es aber ständig diesig war, verschwamm der ganze hintere Teil vor dem Grüngrau des Waldes. Am Heiligabend bereitete Emilia mit Unterstützung von Lis und Geli ein Fünfgängemenü. Erik hatte nicht erwartet, dass sie außer russischen Spezialitäten und deutscher Hausmannskost überhaupt derart Feines kochen konnte. Man trank viel Wein, und er legte zwischendurch immer wieder Platten aus der Sammlung klassischer Musik auf, die Inge seinerzeit sorgfältig zusammengestellt hatte.

Am zweiten Weihnachtstag kam morgens die Sonne heraus. Die Luft war kalt und klar. Sie unternahmen zu viert eine Wanderung: durch den Wald, die Hügel hinauf und hinab bis an den See, den sie einmal umrundeten. Als sie den Scheitelpunkt des Gewässers erreicht hatten und Emilia um eine Zigarettenpause bat, teilte ihnen Elisabeth mit, dass sie und Angelina im Mai heiraten würden. Weder Erik noch seine neue Lebensgefährtin wusste, wie sie angemessen reagieren sollten. Er wusste, dass Emilia die gleichgeschlechtliche Beziehung seiner Tochter lediglich ignorierte, aber niemals tolerieren würde, vermutlich, weil der Glaube ihr das unmöglich machte. Also druckste er ein bisschen herum, tat so, als ob er sich freute und schwenkte gleich auf praktische Fragen nach einer Feier und einer Hochzeitsreise um.

Emilia hatte inzwischen im Flur einen kleinen Hausaltar aufgestellt, eine Holzkiste mit zweiflügligem Deckel, etwas größer als ein Schuhkarton. Darin ein Bild der Muttergottes im naiven Stil, zwei Rosenkränze und eine Kerze, die sie immer am Brennen hielt. Erst nach Neujahr traf er sie zum ersten Mal im Gebet vor dem Altar an. Er schlich zurück in die Küche in der Hoffnung, dass sie ihn nicht bemerkt hatte und nicht den Eindruck bekam, er hätte sie belauscht. Nachmittags saßen sie nun oft auf dem Sofa und sahen hinaus auf den Rasen. Nachdem sie sich in den Anfangswochen ihrer Beziehung stundenlang Geschichten aus ihrem jeweiligen Leben erzählt hatten, war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen, aber sie hatten beide kein Problem damit gemeinsam zu schweigen. So sprachen sie beinahe ausschließlich über Organisatorisches, über den Haushalt, Einkäufe, Anschaffungen und Reparaturen. Erik fehlten die tiefen Gespräche, die intensiven Diskussionen, die er mit Geli geführt hatte. Und manchmal fehlte es ihm auch sehr, mit seiner ehemaligen Geliebten zu schlafen. Und so saß das alte Paar an einem Freitag da, als Lis hereinkam. Seht ihr nicht, rief sie, der Essigbaum ist umgefallen!

Emilia reagierte nicht, aber die Tochter sah, wie ihr Vater auf dem Sofa in sich zusammensackte. Den Rest des Tages sprach er kein Wort. Spät am Abend stand Erik vor dem großen Fenster und starrte ins Dunkel. Morgens fand ihn Geli schlafend auf der Couch vor. Gegen Mittag holte er die Kettensäge und ging in den Garten. Als er die Stämme des Essigbaums von der Wurzel abtrennte, stellte er fest, dass das Innere durch und durch verfault war. Er schnitt die Zweige ab, dann die Äste und zerlegte die beiden Stämme in gleichmäßige Stücke, die er in der hintersten Ecke gleich am Zaun lagerte. Lisbeth kam ungefragt dazu und half ihm. Als sie fertig waren, trat sie zu ihrem Vater und umarmte ihn.

Dann kam der Schnee. Zwei Tage lang schneite es beinahe ununterbrochen, und abwechselnd räumten Erik und die Frauen den Weg zur Straße und die Zufahrt für die beiden Autos. Der schmale Garten sah aus wie die Landebahn eines Flugplatzes, die auf eine weiße Wand zeigte. Bald bildeten sich Spuren im Schnee von den Tieren, die auch sonst dort heimisch waren, von den Vögeln, die nach Nahrung suchten und von den Füchsen, die manchmal aus dem Wald kamen. An Silvester saßen sie zusammen, der Fernseher lief. Nach dem Essen spielten Elisabeth, Angelina und Erik Karten, ein Spiel, das Emilia nicht kannte, die mit dem Strickzeug im Sessel saß. Als irgendeine Live-Übertragung das neue Jahr einläutete, stießen sie mit Sekt an.

Zwei Tage später stand Geli sehr früh auf. Im Morgenlicht erkannte sie eine Fußspur, die von der Terrasse über den Schnee bis zu der Stelle führte, an der noch vor einer Woche der Essigbaum gestanden hatte. Im diffusen Licht sah sie Erik im Garten stehen, bewegungslos. Die beiden jungen Frauen waren sehr beschäftigt mit den Hochzeitsvorbereitungen, erzählten bei den gemeinsamen Mahlzeiten vom Stand der Planung, aber weder Erik noch Emilia zeigten Interesse, brummten bisweilen zustimmend oder nickten und redeten gleich wieder von anderen Themen. Sie würden den Saal vom Landgasthof mieten, gut hundert Gästen würden kommen. Eine Band sollte spielen, die Leute sollten tanzen, sie wünschten sich ein großes Fest.

Der Frühling kam früh und schnell, und die Natur reagierte. Schon Anfang März begannen die Tier- und die Pflanzenwelt mit den Vorbereitungen auf die Saison. Dem Rasen hatte die Schneedecke gutgetan, stellte Lis fest als sie sich im Garten umsah. Und dann fand sie spitze Triebe in scharfem Grün, mindestens ein Dutzend, rund um den Platz, an dem der Essigbaum gestanden hatte, manche ein, zwei Meter davon entfernt, einige beinahe auf halbem Weg zwischen der Terrasse und dem Wald. Später schaute sie im Internet nach und fand heraus, dass es sich um Ableger des Essigbaums handelte und dass sie aus den Wurzeln des Baums, die zwei, drei Handbreit unter der Oberfläche verlaufen, entspringen. Nun verstand sie, weshalb der Vater berichtet hatte, dass der Nachbar den Essigbaum damals Unkraut genannt hatte.

Am Samstag ging sie hinaus und begann, einen der Triebe auszugraben. Zumal sich inzwischen ein weiteres Dutzend grüner Spitzen im Rasen gezeigt hatte. Erik kam dazu, und beide stellten nach ein paar Minuten fest, dass den Wurzeln ohne Weiteres nicht beizukommen war. Elastisch wie die Arme eines Oktopusses, gleichzeitig zäh Gummischläuche konnte man sie weder mit dem Messer schneiden noch mit einem Spaten in Stücke hacken. Dann legte sie eine dieser Wurzeln frei, mussten dafür gut dreißig Zentimeter graben und stellten fest, dass sie weit über den letzten sichtbaren Ableger hinaus weiterwuchs. Mit eigenen Kräften würden sie das Problem nicht lösen können, also beauftragte Erik ein Gartenbauunternehmen. Als ein Vertreter der Gärtnerei vorbeikam, um sich die Sache anzuschauen, schüttelte er den Kopf. Den Wurzeln eines gekappten Essigbaums, teilte er mit, müsse man mit schwerem Gerät zu Leibe rücken.

Die Nacht verbrachte Erik wieder einmal auf dem Sofa. Wieder erschien im Inge, und er wusste nicht, ob im Traum oder ob als Reisende in der Zwischenwelt. Er vermisste sie wie nie zuvor nach ihrem Tod. Ihm war in den vierzig Jahren ihres Zusammenlebens nie klargeworden, ob er sie liebte oder ob sie ihn nur beeindruckte. Zumal sie sich nie ineinander verliebt hatten. Sie waren sich auf einer Party begegnet, beide in einer Phase, in der sie den Körper eines anderen Menschen brauchten. In seiner Anderthalbzimmerwohnung unter dem Dach waren sie miteinander ins Bett gegangen. Dann hatte sie sich verabschiedet mit den Worten, sie sei jetzt für ein paar Wochen weg, fahre zu ihrer Mutter aufs Land, und Erik hatte nicht damit gerechnet, sie je wiederzusehen.

Sie würden mit einem Kleinbagger und einem Spezialhäcksler anrücken, hatte der Mann vom Gartenbau gesagt und nach einer Zufahrt in den Garten gefragt. Neben dem Haus gab es nur an einer Seite einen schmalen Weg zur Terrasse vorbei am Carport und einem Schuppen für die Geräte, den er auf Wunsch Inges hatte errichten lassen. Man müsse beides wohl abreißen, hatte der Gärtner gesagt. Also ließ Erik Handwerker kommen, die Platz für den Bagger schufen, der an einem Montag eintraf, zusammen mit dem Häcksler und vier Arbeitern. Lis hatte geweint als die Wände des Schuppens eingerissen wurden, und Geli musste sie trösten. Emilia verließ am Tag davor das Haus, sie könne den Krach nicht ertragen und wolle ein paar Tage in ihre kleine Wohnung am anderen Ende der Stadt zurückkehren.

Als die Gartenbauer wieder abrückten, sah die hintere Hälfte des Rasens aus wie ein Truppenübungsplatz. An der Stelle, an der einst der Essigbaum gestanden hatte, klaffte ein Krater von gut anderthalb Metern Tiefe, die Wiese war rundherum aufgerissen, und in der Ecke des Gartens lag ein Haufen gehäckselter Wurzeln, die bald begannen, fürchterlich zu stinken. Dazu die Reste von Schuppen und Carport. Emilia rief jeden zweiten Tag an, um sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen, und sagte jedes Mal, ein, zwei Tage brauche sie noch. Erik vermisste sie, zumal die jungen Frauen nun ständig unterwegs waren und spät heimkamen, sodass er sie kaum noch zu Gesicht bekam. Die Rollläden vor dem Panoramafenster hielt er geschlossen, die Couch hatte er umgedreht.

Emilia kehrte nicht zurück, und eine Woche vor der Hochzeit traf ein Brief von ihr an Elisabeth und Angelina ein, in dem sie den beiden Glück wünschte und mitteilte, sie würde nicht kommen, weil sie die Verbindung zweier Frauen als Ehepaar aus moralischen Gründen nicht gutheiße. Erik war genauso schockiert wie seine Tochter. Zusammen mit Geli packte sie alles, was Emilia im Haus hinterlassen hatte, zusammen. Dann brachten sie es hinüber ans andere Ende der Stadt und warfen es ihr vor die Tür. Keiner von den dreien hörte jemals wieder auch nur ein Wort von Emilia.

An einem Apriltag erwachte Erik kurz vor Sonnenaufgang. Wie immer hatte er auf dem Rücken geschlafen, was Inge oft mit der Bemerkung kommentiert hatte, das sei schrecklich, da sähe er aus wie tot. Und wie er so da lag, hörte er das Knistern des alten Hauses und ein Wispern, das von seinem Leben zwischen diesen Wänden erzählte. Später mischten sich Geräusche aus dem Schlafzimmer der Frauen dazu, Töne von Körperbewegungen, ein Flüstern und einmal ein kurzes Auflachen. Es wurde ein strahlender Frühlingstag, und er stellte die Gartenmöbel auf die Terrasse, um dort die Sonne zu genießen. Lis hatte es geschafft, den größten Teil des Gartens an einen Bauern zu verpachten, der ein Stück Land nebenan besaß, dass sich um das Wäldchen herum zog. Dann hatte sie dieselben Gartenbauer kommen lassen, die eine hässliche Kirschlorbeerhecke auf der neuen Grundstücksgrenze pflanzten. Erik war einverstanden damit, vermisste aber den Blick auf das Gehölz und natürlich den Essigbaum.

Dann verließ er das Schlafzimmer im ersten Stock, das mit dem Ehebett und dem für seinen Geschmack viel zu raumgreifenden Kleiderschrank, und richtete sich das Gartenzimmer her. Ein Fachbetrieb reinigte den Pool, erneuerte die Filter und die Heizung und installierte eine Gegenstromanlage. Und Erik ging nun jeden Morgen um die Zeit des Sonnenaufgangs genau eine halbe Stunde lang schwimmen. Ostern aßen sie gemeinsam auf der Terrasse. Lis und Geli hatten eine befreundete Köchin kommen lassen, die ihnen ein wunderbares Vier-Gänge-Menü servierte. Er trank mehr Wein als er vertrug, und die Frauen hielten sich an die Spirituosen. In der kühlen Dunkelheit sagte seine Tochter: Was wird aus dir, wenn wir wegziehen?

Erik hatte nie darüber nachgedacht, dass das Paar nach der Hochzeit das Haus verlassen würden, obwohl er wusste, dass Frischverheiratete das gewöhnlich so hielten. Tatsächlich hatten die beiden bereits ein schickes Loft in der Nähe des Kanalhafens gefunden, in einem angesagten Viertel mit Kneipen und Bars, in denen sie ohnehin Stammgäste waren. Er versuchte zu antworten, aber der Alkohol lähmte seine Zunge. Also sah er Elisabeth nur an und nickte. Okay, meinte Geli, reden wir ein andermal drüber. In der Nacht kamen Albträume, fürchterliche Szenen, Krieg, Zerstörung, ganz nah, lebensecht. Erik erwachte mit Angelina an seiner Seite. Hey, du hast geschrien und gejammert. Zum letzten Mal liebten sie sich wie Mann und Frau an diesem Morgen.

Er hatte eine wüste Party erwartet, eine Art Orgie, einen lärmenden Lesbenkarneval, mit Männern in Frauenkleidern, Frauen in Männerkleidern, schrägen Vögeln, durchweg sexualisiertes Volk, aber in Wahrheit stellte sich die Hochzeitsfeier seiner beiden Hausgenossinnen als sehr gesitteter, bürgerlicher Empfang heraus. Man hatte den Saal im Landgasthof festlich geschmückt, die Gäste saßen an langen, weiß gedeckten Tischen, auf der Bühne spielte eine vierköpfige Tanzkapelle friedliche Fahrstuhlmusik. Die Mehrheit der Gäste trug formelle Kleidung, manche Herren waren im Smoking erschienen, die Damen in Abendroben. Nur das Brautpaar stach heraus, denn Elisabeth und Angelina hatten sich identische Anzüge in Pink schneidern lassen.

Auch das Essen entsprach mehr dem Ort des Geschehens als den handelnden Personen. Man reichte eine Kraftbrühe als Vorspeise, dann dreierlei Braten mit üppiger Soße an Salzkartoffeln und dazu einen mit Sahne angemachten Kopfsalat. Die Mehrheit der Gäste trank Bier, einige ältere Damen hatten Rot- oder Weißwein geordert, und auch Erik hatte sich vom Hauswein bestellt. Die Zeremonie auf dem Standesamt hatten Lis und Geli nur von zwei Freunden begleitet absolviert, die als Trauzeigen fungierten. Angelinas Mutter war von Ibiza angereist, eine leicht verlebt wirkende Frau seines Alters, die man ihm gegenüber platziert hatte. Sie wirkte mehr müde als missmutig, nahm aber zu den Leuten am Tisch keinen Kontakt auf.

Nach dem Dessert, einer schlichten Quarkspeise mit frischem Obst, standen die meisten Gäste auf und versammelten sich in kleinen Gruppen rund um die Tanzfläche. Er hatte sich ein wenig abseits an eine Säule gelehnt und beobachtete das Treiben. Plötzlich spürte er einen leichten Stoß. Gelis Mutter hatte ihn angestupst: Sie sind das also, Ex-Liebhaber meiner Tochter sagte sie mit neutralem Gesichtsausdruck. Wussten Sie, dass die beiden lesbisch sind? Sie hielt ihm ihre fahle Hand hin: Ich bin übrigens die Heike, ich denke wir können uns duzen als Brauteltern. Er nickte und schlug ein. Also, was jetzt? ergänzte Gelis Mutter. Er stellte sich vor und fragte, ob er ihr noch ein Glas Wein holen sollte.

Nein, aber begleite mich doch nach draußen, Erik. Ich muss eine rauchen. Dann standen sie im Hinterhof der Wirtschaft und schwiegen, während Heike eine Zigarette rauchte. Nun erzähl mal. Aber er wusste nicht genau, was genau er erzählen sollte. Zum Glück kam Geli hinaus. Da bist du, rief sie und zerrte ihre Mutter in den Saal: Jetzt wird getanzt. Er schlich ums Haus herum, holte den Mantel aus der Garderobe und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs dachte er an die eigene Hochzeit, vor allem an die Fete dazu ein paar Wochen nach der standesamtlichen Trauung, ein Fest, das gar nicht zu ihrer Hochzeit gehörte, eine Party in einer Wohngemeinschaft am Rande der Stadt in einem Restbauernhof, Künstler und Musiker vor allem, und wenn jemand erfuhr, dass sie verheiratet waren, sagten viele: Ihr Spießer. Inge genoss die Nacht im Kreise der Kreativen, flatterte von Grüppchen zu Grüppchen, redete, lachte, trank, kiffte und flirtete, während er den ruhigen Platz am Tor der Scheune nicht verließ, höchstens um sich noch ein Glas Wein zu holen.

Der Maientag verstrahlt sein letztes Licht. Erik schreitet durch das stille Haus. Die Küche mit der Durchreiche zum Essbereich, die Inge immer zu klein war, die Speisekammer neben der Eingangstür, der Abstellraum unter der Treppe. Der verwinkelte Flur. Er geht hoch ins Obergeschoss, das eheliche Schlafzimmer mit dem frisch gemachten, unbenutzten Bett und dem dunklen Kleiderschrank, ein modernes Gemälde an der Wand, das der Künstler Inge zur Hochzeit geschenkt hatte. Das Bad, das er vor ein paar Jahren hatte ganz neu machen lassen, ganz modern mit großer, bodenebener Dusche und freistehender Badewanne, etwas, das sich seine Frau zu Lebzeiten immer gewünscht hatte. Die beiden Zimmer der Frauen, deren Schlafzimmer mit dem Bett mit zerwühlten Laken, das andere als gemeinsames Arbeitszimmer eingerichtet. Er steigt hoch in den ausgebauten Dachboden, den Inge immer Eriks Reich genannt hatte, ein Raum unter den Dachschrägen mit drei Gauben, aus deren Fenster er auf die Terrasse und den Pool sehen kann, in den Garten hinein und bis über das Waldstück hinaus, mit maßgefertigten Einbauten in heller Eiche für seine Sammlung, die Schubladen mit den Bronzeringen als Griffe, der Arbeitstisch auf Böcken, der Schreibsekretär mit seinem Notebook.

Er geht wieder hinab ins Erdgeschoss und weiter in den Keller, der Heizungsraum, die Waschküche, der weite Raum mit dem Kram, der über die Jahre angefallen ist und weiter in sein Gartenzimmer mit den drei schmalen Fenstern und dem Ausgang nach draußen auf die Terrasse. Erik öffnet die Tür und steigt die Treppe hoch. Ein Fachbetrieb hat vor ein paar Wochen den Pool gereinigt, einen neuen Filter installiert und eine Gegenstromanlage angebracht. Er steht auf der Terrasse und misst mit den Blicken den verkleinerten Garten aus. Die neue Hecke. Er macht ein paar Schritte über den Rasen. Genau in der Mitte, vielleicht anderthalb Meter vor dem Kirschlorbeer sieht er einen spitzen Trieb in scharfem Grün aus dem Gras stechen. Er weiß jetzt, dass er allein in seinem Haus wird wohnen können bis zu seinem Tod.

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