Er war der schwärzeste Mensch, den ich je gesehen habe. Wenn Josèphe und ich in jenem Sommer mit den Kindern im Freibad auftauchten, lagen alle Augen auf ihm. Damals kamen aber auch so gut wie keine Schwarzafrikaner ins Schwimmbad, und überhaupt gab es in der Stadt viel weniger Dunkelhäutige als heute. Seine Haut war nicht dunkelbraun, sondern schwarz. Es gab ein paar Stellen mit helleren Schattierungen und natürlich die Handflächen und Fußsohlen, aber sonst war Josèphe schwarz wie die Nacht. Und wenn wir im Schwimmbecken Ball spielten, dann glänzte seine Haut vom Wasser wie die fabrikneue Lackierung eines Mercedes. Mein Sohn Philipp und seine Tochter Zizi waren etwa gleich alt und wurden einen Sommer lang dicke Freunde. Verrückt genug, dass Phil in diesen sonnigen Monaten viel brauner wurde als Zizi. Die war in dieser Hinsicht ganz offensichtlich genetisch eine Fiftyfifty-Mischung. Denn Karin, ihre Mutter, war strohblond und hatte eine fast schneeweiße Haut. So weit sich das feststellen ließ, weil sie selbst bei größter Hitze und hier im Freibad nie mehr auszog als ihre Schuhe.
Ansonsten trug die große und schwere Frau meist gerade geschnittene Gewänder mit bunten afrikanischen Mustern, hielt sich immer im Schatten auf und trug im Sommer immer einen Strohhut. Karin überragte den Vater ihrer Tochter um mindestens einen Kopf. Josèphe und ich waren etwa gleich groß, aber er war vom athletischen Typ mit breiten Schultern, einem ausgeprägten Bizeps und riesigen Händen. Karin und Marianne hatten sich im Frühjahr auf dem Spielplatz kennengelernt, weil Phil der kleinen Zizi mit dem Schäufelchen einen übergezogen hatte. Das Mädchen war nicht nachtragend, sondern bewunderte den starken, wilden Jungen, der vor nichts Angst hatte und auf die höchste Spitze des Klettergerüstes stieg.
Dann luden wir Zizi und ihre Eltern zum Essen ein. Wir hatten draußen gedeckt, die Kinder vergnügten sich am Kinderschwimmbecken, und wir Erwachsenen aßen, tranken und redeten. An diesem Abend hörte ich die erste Version seiner Lebensgeschichte. Danach war er in Marseille geboren, sei immer noch Franzose und habe auch in der Armee der Republik gedient. Als die Schwierigkeiten zwischen Karin und ihm begannen, sammelten sich die Legenden, die Vornamen und die Pässe. Er sprach, bestätigte Marianne, die es wissen musste, ein gepflegtes Französisch mit einem kleinen, westafrikanischen Akzent. Deutsch verstand er ganz gut. Jedenfalls, wenn es sich um Witze handelte oder um rassistische Beleidigungen. Dann zeigte seine Reaktion die ganze Wut und Aggression, die offensichtlich in ihm steckte und die wir noch unmittelbar kennenlernen sollten.
Aus dem Verhältnis der Beiden bin ich nie schlau geworden. Wenn man sie an einem beliebigen Ort ohne Zizi getroffen hätte, wäre man nicht darauf gekommen, Karin und Josèphe seien ein Paar. Sie redeten wenig miteinander, eher übereinander, und ganz offensichtlich gab es keinen gemeinsamen Vorrat an Geschichten und Anekdoten. Zizi war in diesem Sommer gerade vier Jahre alt geworden, also ein halbes Jahr jünger als Phil. Also mussten sie doch knapp fünf Jahre zuvor zusammengekommen sein. Als Josèphe längst verschwunden war, erzählte Karin meiner Frau, dass sie gleich beim ersten Mal von ihm schwanger geworden war. Dann habe sie ihn mehr als ein halbes Jahr nicht gesehen, und die gemeinsame Wohnung hätten sie nur angemietet, weil Karin so von den Vorteilen einer Wohnungsgenossenschaft hatte profitieren können.
Als Karin ihn schon rausgeschmissen hatte, traf ich in etwa einmal pro Woche in einer Tanzbar an der K-Straße, in der fast ausschließlich Afrikaner verkehrten. Ich kannte den Laden schon vorher und war auch ein paar Mal dort gewesen, weil ich die dort aufgelegte Musik so mochte. Aber als einziger Weißer konnte man immer ein ungutes Gefühl haben, so wie einige der afrikanischen Stammgäste einen anschauten. In Begleitung von Josèphe war das völlig anders; ich war einfach ein Gast wie er und all die anderen. Und nur in diesen knapp zwei Monaten haben wir ernsthafte Gespräche geführt. Wir hatten uns auf Englisch als Verkehrssprache geeinigt, das er ungefähr genauso gut wie ich beherrschte. Zum ersten Abend im S. kam es, weil er mich eine Tages gegen Mittag anrief und mit tränenerstickter Stimme sagte, er sei fertig, er könne nicht mehr, es sei alles furchtbar und er müsse mal mit jemandem reden.
Inzwischen war ich recht sicher, dass er eigentlich aus dem Kongo stammte. Dafür sprach seine Vorliebe für die französischsprachige, westafrikanische Musik von der ich herausfand, dass sie im Kongo sehr populär war. Außerdem verschwand der tage- und wochenweise, und ich wusste wohin, weil ich aus Versehen ein kurzes Gespräch belauscht hatte, dass er mit zwei Kumpel geführte hatte und in dem mehrfach Brüssel erwähnt wurde. Irgendwann gestand er, er habe keinen gültigen Ausweis mehr und benutze einen gefälschten belgischen Pass. Darin hieß er übrigens Jaques, und seine Freunde sprachen ihn meistens als Claude an oder mit seinem Spitznamen Micmac.
Am ersten Abend schilderte er mir die Sicht seiner Dinge. Dass Karin ihn praktisch missbraucht habe. Die sei eine dieser dicken deutschen Frauen, die auf Schwarze stehen. Und Karin sei ganz versessen darauf gewesen, ein Kind mit einem Afrikaner zu zeugen. Da sei er gerade recht gekommen. Und, nein, er sei nach dem ersten Mal Liebemachen – so drückte er es aus – nicht abgehauen, sondern sie habe gleich am nächsten Morgen gesagt, dass sie sich eine Beziehung mit ihm nicht vorstellen können, weil sie ja überhaupt nicht in ihn verliebt sei. Er sei dann wieder einmal in die Stadt gekommen und habe Karin mit einem anderen Mann, einem baumlangen Togolesen im S. getroffen, wo sie ihm dann eröffnet hatte, dass sie von ihm schwanger sei. Da habe er sehr gefreut, weil er einfach unglaublich kinderlieb sei und dies sein erster Nachwuchs werden sollte. Am nächsten Tag habe er sich sofort einen Job auf dem Großmarkt besorgt, weil er ja jetzt Frau und Kind zu versorgen habe. Mit den anderen Geschäften habe er sofort aufgehört. Die Frage, welche Art Geschäfte das gewesen seien, tat er mit einem „Das willst du nicht wissen“ ab.
Nach dem achten oder neunten Drink sagte er immer wieder „Aber ich liebe sie doch so sehr“, und ich klopfte ihm tröstend auf die Schultern. Ob ich Marianne denn auch liebe. Natürlich, sagte ich, sehr sogar, sie ist die Liebe meines Lebens. Und dann rutschte es ihm raus, dass er seine Ehefrau zuhause auch immer noch sehr liebe, aber nicht so sehr wie Karin. Wir wurden immer betrunkener und philosophierten lallend über die Liebe. Gegen drei waren wir Teil eines Kreises von sieben Kerle, die alle über die Frauen klagten, dass die gar nicht wüssten, was Liebe ist, und dass die deutschen Frauen am schlimmsten seien, weil die sich immer nur ficken lassen wollten. Josèphe übernachtete bei uns in der Mansarde, also dem Raum, in dem wir ein paar Wochen später Karin und Zizi vor ihm verstecken würden.
Dann kam es zu diesem Vorfall. Eines Abends stand Karin mit ihrer Tochter vor der Tür. Wir müssten ihr helfen, Josèphe wolle Zizi entführen. Er habe die Wohnung zertrümmert und gedroht, er würde sie umbringen, wenn er ihr sein Kind nicht gäbe. Nachbarn hätten die Polizei gerufen, da sei er abgehauen. Und jetzt habe sie Angst. Wir quartieren sie im Zimmer unter dem Dach ein, und ich passte auf Zizi und Phil auf, wenn Karin und Marianne zur Arbeit gingen. Das ging gast zwei Wochen so. Es war in diesem Herbst, der schon in den frühen Novembertagen Schnee gebracht hatte. Abends saßen wir zu fünft am Tisch, und nach dem Essen spielten wir Spiele mit den Kindern. Wir alle hatten viel Spaß. Bis es eines Nachts wild schellte. Josèphe stand vor der Tür, ich sah ihn durch den Spion und machte den Frauen klar, sie sollten sich in die hinteren Räume zurückziehen und ganz still sein. Er klingelte ununterbrochen, begann laut zu brüllen und gegen die Tür zu treten. Dann verschwand er, und ich ahnte, dass er unten auf der Straße warten würde. Also zog ich Schuhe und die Wetterjacke an und ging runter.
Sofort begann er, mich wild zu beschimpfen. Seine Stimme klang ganz anders als ich es kannte, und er schrie in einer Sprache, die nur noch entfernte Ähnlichkeit mit Französisch hatte. Ich versuchte ihn zu beruhigen. Josèphe wurde immer aggressiver und brüllte mich an, ich sei ja wohl kein Kerl, dass ich mich auf die Seite der Frauen stellen würde. Es sei seine Tochter, und er werde sie mitnehmen nach Afrika. Ich könnte ihn nicht daran hindern. Dann begann er plötzlich heftig zu weinen, und ein paar Minuten später lehnte er an meiner Schulter und sagte, ich sei doch der einzige Freund, den er in diesem schrecklich kalten Land habe. Er habe die Schnauze voll, er wolle zurück in die Heimat, aber nicht ohne sein Kind. Ich sei der einzige Weiße, der ihn je ernstgenommen habe. Nur ich könne ihm helfen. Wir fuhren zusammen ins S. und soffen die ganze Nacht. Als Josèphe gegen halb fünf auf der Toilette war, haute ich ab, nahm ein Taxi nachhause und brachte Karin und Zizi in ein Hotel am Stadtrand.
Er tauchte nie wieder auf. Über die Wochen und Monate erwartete ich immer wieder, Josèphe würde sich bei mir melden. Oder würde versuchen, seine Tochter zu finden, aber blieb endgültig verschwunden. Karin fand eine neue Wohnung. Wir hatten weiter lose Kontakt zur ihr. Mit Luc, einem Haitianer wurde sie auch nicht glücklich, und dann zog sie weg. Zwei Jahre später bekamen wir eine Postkarte aus Berlin von ihr. Sie lud uns zu ihrer Hochzeit ein und schwärmte von Saed, einem unglaublich lieben Mann, der sich so wunderbar um sie und Zizi kümmere. Sie lerne jetzt Arabisch. Außerdem sei sie schwanger von ihm, und die Familie habe sie freundlich aufgenommen. Wir konnten uns die Reise nicht leisten, schickten aber eine Glückwunschkarte. Danach hörten wir nie wieder etwas von Karin und Zizi.