Edgar und das kleine Wasser

Am frühen Morgen hat sich Edgar an die Grenzen seines Grundstücks begeben. Jetzt steht er am Zaun und blickt auf das Wasser am Feldrand gegenüber, das er seinen Weiher nennt. Dabei handelt es sich bloß um eine ungewöhnlich große und tiefe Pfütze, die an den Starkregentagen im April entstanden und dank des dauernden Niederschlags im Mai nicht weggetrocknet ist. Die Sonne ist rechts von Edgar aufgegangen, und der junge Himmel spiegelt sich im Wasser. Er hat sich vorgenommen, nach dem Frühstück den alten Schuppen am anderen Ende seiner Parzelle abzureißen, um dort einen Baum zu pflanzen. [Lesezeit ca. 4 min]

Er hatte nie verstanden, warum Karin gegangen war. Noch weniger hatte er akzeptieren können, dass sein Sohn nur ein paar Tage später ebenfalls auszog. Edgar hatte aber auch nicht gefragt. Er lebte sein Leben einfach weiter, ging jeden Morgen über das Grundstück an den Zaun und beobachtete das kleine Wasser. Am meisten hatte der Hund darunter gelitten, dass seine wichtigsten Bezugspersonen verschwunden waren. In den ersten Wochen taperte Bongo Tag und Nacht durchs Haus, und wenn er schlief, dann auf der Fußmatte direkt hinter der Eingangstür. Erst drei Monate später zog er sich nachts ins Obergeschoss zurück, wo ihm Edgar schließlich ein Lager einrichtete.

Die Tage vergingen, die Wochen zogen vorüber, und als ein Jahr vergangen war, hatten sich Herr und Hund an die neue Situation gewöhnt. Edgar öffnete morgens die Haustür, und Bongo konnte tun und lassen, kommen und gehen wie er wollte. Im Sommer schloss er sich Edgar bei dessen Gängen an die Grundstücksgrenze an. Der hatte sich ganz auf Arbeiten am Haus konzentriert, hatte mit Hilfe von Handwerker die Elektrizitäts- und Wasserleitungen von der Straße neu angelegt und eigenhändig die Gräben gezogen. Dann hatte er eine neue Sickergrube in größerer Entfernung einbauen lassen und eine neue Therme.

Schließlich hatte er sich im Internet eine neue Einbauküche ausgesucht und montieren lassen. Den Gemüse- und Kräutergarten, den Karin angelegt und mit großem Ernst gepflegt hatte, ließ er verwildern. Dafür erneuerte er Stück für Stück die Zäune rund um sein Land, erhöhte sie auf zwei Meter und beauftragte einen Schlosser mit dem Einbau eines neuen Tores. Den Volvo verkaufte er, und dann verließ er das Grundstück nicht mehr und bestellte Lebensmittel und was er sonst brauchte telefonisch beim Supermarkt im Dorf.

Von Karin und Jan hatte er nach deren Abschied nie wieder etwas gehört. Bis er eines Abends vernahm, wie jemand das Tor öffnete, wie ein Auto auf die Parzelle fuhr und der Fahrer das Tor wieder hinter sich schloss. Der Hund, inzwischen schon fast zwölf Jahre alt, war außer sich, lief zur Haustür und kratzte daran, wobei er gleichzeitig jaulte, bellte und winselte. Dann stand sein Sohn im Flur. Er hatte eine Tasche voller Lebensmittel mitgebracht und einen Kasten Bier. Edgar begrüßte ihn wortlos und sah, dass Jan seinen Wagen über die Wiese bis kurz vors Haus gefahren hatte, um die schweren Sachen nicht zu weit tragen zu müssen.

Der Sohn stellte Tasche und Bierkasten ab und versuchte seinen Vater zu umarmen. “Komm erstmal rein,” sagte Edgar. So sehr Bongo sich freute, so verärgert war der Vater. Warum hatte der seinen Karren nicht über den Kiesweg zum Carport gefahren, um dort zu parken? Was sollte das Bier, wo Jan doch wissen musste, dass Edgar keinen Alkohol trank? Sein Sohn ignorierte die schlechte Laune, ging in die Hocke und kümmerte sich um den Hund, der sich kaum beruhigen konnte. “Hab was zum Essen mitgebracht,” sagte er und packte die Lebensmittel auf den Küchentisch.

Auch das konnte der Vater nicht leiden und nahm jedes Stück, um es auf dem dafür vorgesehenen Platz auf der Arbeitsfläche abzulegen. Währenddessen füllte Jan den Kühlschrank mit Bierflaschen und begann die Zubereitung einer Mahlzeit vorzubereiten. Edgar setzte sich an den Küchentisch und beobachtete den Sohn. “Isst du Fleisch?” fragte Jan, aber sein Vater antwortete nicht. Später saßen sie zusammen und aßen schweigend das Gulasch. Als der Sohn die zweite Flasche Bier geleert hatte, fragte er: “Und, wie geht es dir?” Edgar hatte seit Monaten mit keinem Menschen mehr gesprochen, nur mit Lieferanten telefoniert. “Gut,” sagte er, “alles wie immer.”

Ohne dass ihn sein Vater gefragt hatte, begann Jan zu berichten. Dass er jetzt eine Kochlehre begonnen habe, dass er den Beruf sehr möge, dass ihm der Arbeitgeber, ein ziemlich feines Hotel, sogar die Unterkunft stelle, der Küchenchef rau, aber herzlich sei und die Kollegen nett bis auf einen, der ihn schneide und böse Dinge über ihn verbreite. Und dass er jetzt Urlaub habe und an der See zelten wollte, so wie es die Familie gemacht habe als er noch ganz klein war. Und da habe er gedacht, unterwegs könne er doch mal seinen alten Vater besuchen. Edgar hörte zu, und als sich der Sohn eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank holte, sagte er nur: “Ich geh schlafen.”

Im Juni hatte es eine Hitzewelle gegeben, und die Pfütze jenseits des Zauns war beinahe verschwunden. An den Tagen bevor Jan gekommen war hatte es mehrmals heftig gewittert, und der Starkregen hatte das ausgetrocknete Land so durchnässt, dass der Garten wieder grünte. Nun war es wieder seit Tagen sehr heiß, und Jan saß beinahe den ganzen Tag auf der Wiese im Schatten unter der Buche und trank Bier, Bongo immer an seiner Seite. Am späten Nachmittag unternahm er eine lange Wanderung mit dem Hund, durch den Wald und den Hügel im Osten des Grundstücks hinauf. Abends kochte er eine Suppe, und Vater und Sohn aßen schweigend zusammen.

Mitten in der Nacht hört Edgar die Haustür schlagen und das Geräusch eines startenden Autos. Am Morgen ist Jan weg. Und als Bongo sich nicht rührt, ist ihm klar, dass der Sohn den Hund mitgenommen hat. Er trinkt seinen Kaffee und geht dann langsam zum Westrand seines Landes, um nach dem kleinen Wasser zu sehen. Er findet die Pfütze, die er Weiher nannte, und die nicht mehr als ein Tümpel war, ausgetrocknet vor.

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