Höller blickt zurück

Nun sitzt er da und denkt über sein Leben nach. Das Familienfest ist in vollem Gange, aber das blendet er aus, wenn ihm Verwandte auf deprimierend tröstliche Art die Hand auf die Schulter oder den Unterarm legen. Oder wenn ihn junge Frauen auf die Wange küssen. Das müssen Enkelinnen sein, denn seine Töchter sind auch schon alt. Aus der Höhe des Alters sieht man vor allem Enttäuschungen und Niederlagen, denkt Höller. Wobei er das Alter auch nicht als Gipfel sieht, sondern eher als Schacht, der tief in die Erde führt, in dem man langsam versinkt und unsichtbar wird. Die Jugend dagegen, denkt er, ist bestimmt von Hoffnungen, Erwartungen und Plänen. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einen Plan gemacht hat in der Hoffnung, er können aufgehen. An Elisabeth kann er sich erinnern, sehr gut erinnern. Ihr Gesicht kann er sich jederzeit an jedem Ort vor Augen holen. Und ihr jugendlicher Körper aus den guten Jahren ist ihm so vertraut, dass er ihre Haut spüren und riechen kann.

Höller sitzt also am Kopfende des langen Tisches unter den Linden im Garten am Hauses seines jüngsten Sohnes, weil sie seinen fünfundneunzigsten Geburtstag feiern. In Wahrheit feiern sie sich selbst und nehmen seinen Jahrestag nur als Anlass, um sich einmal wieder mit der ganzen Verwandschaft zu treffen. Und vor allem anderen dann Bilder davon zeigen und davon erzählen können, wie toll die Familie doch zusammenhält. Dass Elisabeth ihm vier Kinder geschenkt hat, das weiß er noch. Wie viele Enkel es geworden sind und ob noch weitere dazukommen werden, ist ihm entfallen. Es wird auch Urenkel geben, aber von denen weiß nichts. Er war auch nie ein guter Opa, weil ihm Kinder unter vierzehn Jahren auf die Nerven fallen. Das war schon immer so. Deshalb war Höller auch kein guter Vater, der in den gut zehn Jahren, in denen wenigstens eines seiner eigenen Kinder zu jung war, jede Gelegenheit nutzte, dem quälenden Familienleben zu entfliehen.

Seit er Elisabeth kennen und lieben gelernt hatte, wollte er immer nur mit ihr sein. Alle anderen Menschen waren immer nur Störungen. Also war er auch heilfroh, als Harry, der Jüngste endlich auszog. Leider war er da schon zweiundzwanzig, also hatte er zweiundzwanzig Jahre Zweisamkeit mit Elisabeth verschenkt. Er nahm es seinen Kinder nicht übel, die konnten ja nichts dafür. Mit Maria, der Ältesten, hatte er immer ein recht gutes Verhältnis, mit ihr kommunizierte er auf Augenhöhe. Aber die war kaum drei Jahre nach ihrer Pensionierung unerwartet gestorben. In der Nacht als man ihm am Telefon mitteilte, dass seine erste Tochter geboren wurde, hat er lange geweint, weil er ahnte, dass die schönste Zeit seines Lebens, die sieben Jahre mit Elisabeth, vorbei sei.

Bodo ist ihm immer fremd geblieben. Auch weil sich der Zweitälteste ständig im Widerstand zu seinem Vater befand. Ihm war das lästig, er hatte keine Lust, sich mit den wechselnden Launen und Weltanschauungen eines Jünglings auseinanderzusetzen. Und als der Sohn dann wegen irgendwelcher Drogendinge in Haft kam, da war Höller erleichtert und brach den Kontakt ab. Sie versöhnten sich in den Jahren der schweren Krankheit, als man bei Bodo Speicheldrüsenkrebs diagnostiziert hatte und er kaum eine Chance hatte zu überleben. Beide fanden heraus wie ähnlich sie sich waren und schlossen Frieden. Und eigentlich ist Bodo der einzige Mensch auf dem ganzen Fest, mit dem er gerne ein paar Worte wechseln würde. Mit den anderen spricht er nicht, da gibt er den Demenzkranken, den in geistiger Umnachtung abgetauchten Greis.

Eigentlich ist Hedwig seine Lieblingstochter. Aber das kann er ihr nicht zeigen. Sie ist das Ebenbild ihrer Mutter, gerade jetzt, wo sie auch schon fast sechzig ist. Er kann es ihr nicht zeigen, weil er sie mit dem Rest seiner Sexualität begehrt, so wie er ihre Mutter bis zu deren Tod immer mit höchster Inbrunst begehrt hat. Seine Liebe zu Hedwig ist einer Vater-Tochter-Beziehung nicht angemessen, und manchmal fragt sich Höller, ob es damals irgendwelche Situationen gegeben hat, in denen er ihr auf unangemessene Weise zu nahe gekommen ist. Vielleicht ist das seine letzte Frage von Interesse, und er müsste sie fragen. Niemand anders könnte ihm diese Frage beantworten.

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