“Ach,” sagte Thibaud mit einem resignierten Schulterzucken, “wenn man öffentlich ist, dann muss man einfach damit umgehen können, dass es sich kleine Lichter nicht nehmen lassen, einen anzugreifen.” Auch Heinzherbert nickte, obwohl sein öffentliches Dasein sich im wesentlichen darauf beschränkte, regelmäßig in den angesagten Wirtshäuser der Stadt aufzulaufen und von Tisch zu Tisch zu grüßen. “Früher habe ich zurückgebellt, wenn die Köter mich ankläfften. Heute sage ich mir: Lass sie leben in ihrer kleinen, grauen Welt, die sie für ein Universum halten, lass ihnen ihre Eitelkeiten, ihre unbefriedigten Sehnsüchte, lass ihnen das bisschen, auf das sie stolz sein können.” Natürlich fragte Oya, ob es einen aktuellen, konkreten Anlasse für Thibauds Äußerungen gab. Aber der winkte nur ab, murmelte etwas von Aufträgen, die im Rahmen einer Kungelei zu verteilen gewesen wären, aber dann nicht zustande kamen, und nahm einen Schluck vom Riesling. Es wurde noch ein netter Abend, die Gespräche bewegten sich auf hohem Niveau.
Männer & Frauen
Zilla hatte von einem Kollegen erzählt, dessen Frau ihn verlassen hatte. Sie hatte nicht nur die drei Kinder mitgenommen, sondern das Haus komplett leer geräumt. Als der Mann von einer Dienstreise heim kam, fand er nur seine persönlichen Sache, alle Möbel und sonstigen Gegenstände waren weg. Thibaud schaltete sich ein und sagte: „Männer & Frauen“ weiterlesen
Monolog über die Gerechtigkeit
Der folgende Text ist Thibauds Monolog über die Gerechtigkeit wie ihn Ulla aus dem Gedächtnis aufgezeichnet hat. Sie erzählte, er habe vor seinem PC gesessen wie ihmmer, den Bürostuhl auf maximaler Höhe, sodass nur die Fußspitzen den Boden berührten, sehr aufrecht, die Hände unbeweglich auf der Tastatur ruhend und den Blick fest auf das Display geheftet. Er habe zunächst sehr bedächtig gesprochen, sich dann aber in eine wütende Rede gesteigert, die in einem langen Schrei geendet sei. Die ersten beiden Sätze habe sie nicht gehört und nicht aufschreiben könne; sie habe diese aber entsprechend des ürbigen Monologs ergänzt. Ich bin der Meinung, Ulla hat sich diese ersten Sätze ausgedacht, ja, vielleicht hat sie sich das alles nur ausgedacht, um diese Aussagen zu rechtfertigen, mit denen sie uns so beeinflussen will, wie Thibaud das sonst tut. „Monolog über die Gerechtigkeit“ weiterlesen
Alte Zeiten, neue Pläne
“Ja,” sagte Thibaud, “ich kenn das. Erzähl wie es bei dir war.” Wir saßen in seinem Büro unter dem Dach, denn eigentlich hatten wir über das Konzept für dieses neue Portal diskutieren wollen an diesem Samstagabend. Ulla hatte uns später einen Imbiss gebracht und eine Flasche Wein. Wir hatten gegessen und dabei Belangloses geredet. Bis Thibaud mich fragte, wie es mir denn in den letzten Monaten gegangen sei, man habe sich ja seit über einem Vierteljahr nicht gesehen. “Beschissen,” hatte ich geantwortet, und jetzt wollte er es genau wissen.
“Es fing damit an,” begann ich, “dass ich das Gefühl hatte, dass alles, was um mich herum geschah, gegen mich gerichtet war. Alle Menschen, denen ich direkt oder indirekt begegnete, wollten mir schaden – so kam es mir vor. Ab irgendeinem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, es sei immer schon so gewesen, und ich tat mir leid. Mir schien es so, als hätte ich nie wirkliche Freude erlebt, sei nie verstanden oder geliebt worden. Dann, an einem sehr grauen Tag, an dem ein eiskalter Nieselregen mich auf dem Weg ins Büro begleitet hatte, an einem Tag, an die Kollegen mich anschwiegen, begann ich, mich selbst nicht mehr zu mögen. Ich fand mich hässlich, zu dick, unbeholfen, und wusste ganz plötzlich, dass mich nie ein anderer Mensch so erkennen würde, wie ich war. Ich las die Zeitung und verstand kein Wort. Ich stellte mir die Frage: Was soll werden?” „Alte Zeiten, neue Pläne“ weiterlesen
Entlassung
Und wieder bildeten wir das Empfangskomitee für Thibaud. Wieder stand die alte Clique, die aus seinen alten Schülern und Schülerinnen bestand, fast vollzählig vor dem Nebenausgang der Haftanstalt auf dem Gehsteig. Hanshubert bot Zigaretten an, aber die meisten hatten das Rauchen aufgegeben. Ulla stand da in ihrem weiten Mantel, unbeweglich und konzentriert, während Wolle eine Sektflasche schwenkte und grinste. Natürlich hatte uns die Nachricht, dass Thibaud seine Reststrafe hatte absitzen müssen, schockiert. Zilly war die erste gewesen, die Ulla anrief: “Er wird nie vernünftig handeln,” hatte sie gesagt. Denn er war tatsächlich nach Hamburg gefahren, hatte diesem hässlichen Anwalt tatsächlich aufgelauert und ihn verprügelt, obwohl er hätte wissen müssen, dass er damit gegen die Bewährungsaulagen vertieß. Immerhin hatte er nur sechs Wochen Haft aushalten müssen, und Ulla berichtete, dass er gar nicht traurig darüber war, weil er im Knast Zeit hätte, endlich Proust komplett zu lesen. „Entlassung“ weiterlesen
Fetisch
Thibaud sah müde aus, resigniert, beinahe verzweifelt. Er hatte das Haar im Nacken zu einem struppigen Zopf gebunden und sah mich aus matten Augen an: “Manchmal wünsche ich mir. ich wäre süchtig oder hätte wenigstens einen Fetisch. Dann hätte ich ein Ziel, dem ich nachjagen könnte – den nächsten Schuss, die nächste Dosis, den nächsten Kick. Ich wüsste, wofür ich all mein Geld ausgeben könnte. Wozu ich überhaupt dem Geld nachjage dadurch, dass ich mich verkaufe.” Er nahm einen Schluck von dem saueren Wein, den uns die unfreundliche Bedienung in Wassergläsern auf den schmierigen Kneipentisch gestellt hatte. “Ein Hobby würde nicht reichen, dazu fehlt mir die Stupidität. Mich zehn Jahre lang in jeder freien Minute in einer öligen Garage unter einen Oldtimer zu legen, um dann am Tag der ersten Ausfahrt glücklich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen.” Mir kam es vor, als habe er Tränen in den Augen gehabt bei diesem Satz. “Mein Gott, ein Glaube wäre auch nicht schlecht. Etwas auf das man alles projizieren kann: Wünsche, Hoffnungen, Schuld.”
Er hob den Kopf und starrte die nikotinfleckige Decke der düsteren Kneipe an. Mir war es peinlich, dass sich Thibaud derart im Selbstmitleid wälzte. Selbst wenn seine Gefühle echt waren und der Auftritt nicht pure Schauspielerei, so war er doch erbärmlich. Ich trank aus, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ ihn grußlos.
Macht kaputt
Hansherbert hatte seinen Job verloren. Man hatte ihm gekündigt nachdem sein Arbeitgeber den größten Auftrag verloren hatte. “Und die beiden Geschäftsführer haben nichts dagegen unternommen,” sagte er wütend als wir im kleinen Kreise in der Bar am Schollpark saßen. Thibaud war überraschend dazugekommen und brachte gerade eine neue Runde Wodkadrinks vom Tresen. Wir prosteten uns schweigend zu. “Hast du denn noch nie davon geträumt, mit einer Pumpgun in die Firma zu gehen und all die Arschlöcher umzunieten?” Thibaud sah mich fragend an. “Natürlich,” gab ich zurück, “aber meine Rachephantasie sieht so aus, dass ich im gesamten Treppenhaus alles mit Kreosin tränke und unten im Foyer das entscheidende Streichholz werfe.” Niemand lachte. Nur Hansherbert grinste: “Na ja, dem einen Chef mal eben die Reifen an seinem Porsche zu zerstechen, das wär’s schon wert.” Didi grinste und leerte sein Glas. “Neulich habe ich meine alten Schallplatten aus dem Keller geholt, den Plattenspieler angeschlossen und Musik aus den Siebzigern gehört,” erzählte Thibaud. Björn gähnte. “Die Scherben zum Beispiel.” Hansherbert reckte sich: “Schon klar: Macht kaputt, was euch kaputt macht.” – “Ja,” sagte Thibaud, “das sind einfach Wahrheiten. Wer oder was ist es, dass uns so schadet, dass wir uns rächen wollen? Und wenn du es herausgefunden hast, dann musst du was tun.” Didi reagierte als Erster: “Was denn? Waffen kaufen und Amok laufen?” Thibaud gab keine Antwort.
Zufrieden
Völlig überraschend kam eine Einladung von Thibaud. Er sei wieder zurück in der Stadt und habe sogar sein altes Haus wieder mieten können. Ulla wohne gleich um die Ecke. Es solle ein Fest sein so wie früher. Tatsächlich trafen wir alle beinahe gleichzeitig ein. Zu zehnt oder zwölft standen wir vor dem Tor und wussten nichts zu sagen. Der Garten war in einem guten Zustand, und innen hatte Thibaud umfangreiche Umbauten ausführen lassen. Das Erdgeschoss war zu einem einzigen großen Raum geworden, tragende Wände durch runde Stahlsäulen ersetzt. Ulla stand hinter der Küchentheke und war mit den letzten Handgriffen bei der Zubereitung des Essens beschäftigt – eine große, stille Frau, etwa in Thibauds Alter, die jedem einzelnen die Hand gab, aber wenig mehr als eine Begrüßungsfloskel von sich gab. „Zufrieden“ weiterlesen
Monaden
Irgendwann begann Thibaud damit, uns Mails zu schicken. Sie entsprechen in Inhalt und Stil den Vorträgen, die er früher bei unseren Gruppentreffen gehalten hatte. Nur Zilly und ich wussten, dass er mittlerweile mit Ulla einen Landgasthof betrieb, in einem öden Dorf in der Nähe der holländischen Grenze. Besuche hatte er sich allerdings verbeten, und er berichtete auch nicht über seine neue Existenz. Wir nahmen an, dass er selbst alle Aufgaben rund um die Küche übernommen hatte, und Ulla die Frau Wirtin gab. „Monaden“ weiterlesen
Talente
Tatsächlich hatte Thibaud auch nach drei Monaten immer noch mit keinem von uns geredet. Nicht einmal Hansherbert, der Thibaud völlig kritiklos bewunderte, hatte ihm diese Konsequenz zugetraut. Kurz bevor wie begannen, uns Sorgen um ihn zu machen, begann er, kurze Mails an uns alle zu schicken, wobei wir nicht sicher waren, ob jeder von uns bei allen Mails auf der Verteilerliste stand. Es gab da eine Nachricht, von der ich annahm, dass niemand außer mir sie erhalten hatte. Zu sehr spielte der Inhalt auf eine Diskussion an, die wir vor Jahren geführt hatten, kurz bevor Thibaud sich entschloss, wieder als Dozent zu arbeiten. Die Botschaft kam ohne Anrede und hatte folgenden Wortlaut: „Talente“ weiterlesen
Legenden
“Jeder Mensch betreibt doch Legendenbildung über das eigene Leben – der eine, indem er viel redet, der andere, indem er schweigt,” sagte Thibaud und schwieg von diesem Augenblick an siebzehn Monate lang.
Hansherbert behauptete eines Abends, wir saßen beim Bier, er habe Thibaud gut verstanden. Wer ständig Anekdoten erzählt, selbst Erlebtes berichtet und die Geschichten ausschmückt oder erfindet, der muss fürchten, dass die Lügen eines Tages auffliegen. Und deshalb schweige Thibaud. “Blödsinn,” sagte Zilly, “er will sich durch sein Schweigen bloß wieder wichtig machen.”
Kinder machen
Zilly hatte mich gefragt, ob ich ihr ein Kind machen wolle. Irgendwie war ich heil aus der Situation herausgekommen, ohne eine Antwort geben zu müssen und ohne sie zu erzürnen. Ich fuhr spontan zu Thibaud, nicht um mit ihm die Sache zu diskutieren und seinen Rat einzuholen. Mir schien, dass einer seiner abgehobenen Monologe mich für ein paar Stunden aus diesem Dilemma befreien könnte. Ja, ich liebe Zilly sehr. Wir sind seit fast vier Jahren zusammen und es sieht so aus, als ob wir nicht nur vier weitere Jahre zusammenleben werden. Für weitreichende Pläne sind wir zu alt, unsere Niederlagen haben wir überlebt, wir wollen es uns eigentlich nur noch gut gehen lassen. Mir war immer klar, dass die Frage nach dem gemeinsamen Kind auftauchen würde. „Kinder machen“ weiterlesen
Kampfhund
Lustschrei
Das hatte sich Thibaud anders vorgestellt. Er hatte sich ausgemalt, dass Tizla käme in einem schlichten, schwarzen Kleid, dass er ein wunderbares Essen und herrlichen Wein servieren würde, dass er sie verzaubern könnte und dass er dann Sex mit ihr haben würde. Tizla Tunc hieße sie, berichtete er, als wir spät in der Nacht noch zu ihm kamen, nachdem er uns angerufen und um Beistand gebeten hatte. Tizla Tunc, das könne nur ein Künstlername sein, vermutete ich, aber Thibaud schüttelte den Kopf, es sei ihr richtiger Name. Sie sei Serbin, erzählte er und schilderte sie als knabenhafte, schwarzhaarige Frau mit rauer Altstimmme. Ihr Gesicht habe etwas Asiatisches, und ihre Hüften seien ein bisschen breit, obwohl sie insgesamt schmal, ja, auch ziemlich flachbrüstig sei. Aber das spiele keine Rolle. Tizla sei noch sehr jung, kaum sechsundzwanzig Jahre, sehr selbstbewusst, und er habe sie im Seminar kennen gelernt. Sie habe seine Einladung freudig angenommen, und er habe sich sehr auf den Abend und die Nacht, das gab er zu, gefreut. Aber sie sei nicht gekommen, habe auch nicht abgesagt. „Lustschrei“ weiterlesen
Kreuzzug
“Endlich,” sagte Thibaud, “bin ich vom Bier weg. Ich habe mich dem Wein zugewandt.” Er stand vor uns, die Haare milimeterkurz geschoren, in einem olivgrünen Feldhemd mit den Abzeichen der serbischen Armee. Die schwarze Baumwollhose fiel über ebenfalls schwarze Turnschuhe, die außen einen grünen Stern trugen. “Es ist eine Häutung,” fügte er hinzu. “Das sieht man,” sagte Zilly und grinste. “Nimm es ernst, meine Liebe. Nimm mich ernst. Es ist schmerzhaft. Stell dir vor, dir würde deine Haut zu eng. Jede Bewegung tut weh. Du spürst, dass dein Körper seinen Panzer abwerfen will. Das Denken wird wild. Deine Sinnesorgane schärfen sich. Du weißt genau, dass du einen Krieg führen wirst.” Er hatte einen mächtigen Tisch aus gebürstetem Edelstahl in die Küche gestellt und öffnete eine Flasche Rotwein aus dem Kosovo. Stellte schwere Pressglasgläser hin. „Kreuzzug“ weiterlesen