Elf-Achtundsechzig

Die Uhr im Wohnraum zeigte vier Uhr dreiundfünfzig. Ich war den fliegenden Punkten gefolgt, die mich geweckt hatten. Zuerst dachte ich, jemand auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer leuchte mit einer Taschenlampe durchs Fenster. Oder jemand habe einen Laserpointer auf das Haus gerichtet. Aber es waren mehrere, sanft bläulich strahlende Kugeln, die durch den Raum schwebten, vielleicht vier oder fünf. Ihre Bewegung folgten keinem Muster, und es sah auch nicht aus, als flögen sie in fester Formation. Manchmal nahm einer dieser Lichtbälle Geschwindigkeit auf und kreuzte die Bahnen der anderen. Das alles völlig geräuschlos. Wie gesagt: Ich stand auf und folgte den Kugeln ins Wohnzimmer.

Manchmal klebten sie für eine Weile fast bewegungslos unter der Zimmerdecke. Dann wirbelten sie in einem bedächtigen Strudel hinab bis beinahe aufs Parkett. Gelegentlich verschwanden zwei oder drei Bälle hinter dem Sofa, um nach wenigen Sekunden wieder aufzutauchen. Schließlich stießen erstmals zwei der Kugeln zusammen und vereinigten sich zu einer etwas größeren. Dann waren es nur noch drei, dann zwei, dann eine blaue Sphäre, deren fast weiße Mitte leicht pulsierte. Das Ding stand kaum eine Armlänge von mir entfernt auf Augenhöhe. Die Helligkeit ging zurück, und nach etwa einer Minute war der Ball aus Licht erloschen und spurlos verschwunden.

Der ganze Vorgang erinnerte mich an Elmsfeuer, die ich ein paar Mal erlebte als ich noch an Bord von Kreuzfahrern arbeitete. Da sprangen kindskopfgroße, grell leuchtende, blaue Kugeln von Mastspitzen auf Taue, von dort aufs Deck und wieder empor zum nächsten hohen, solitären Punkt auf dem Schiff. Die elektrischen Entladungen, die dabei Ozon erzeugten, konnte man auch riechen. Die Lichter in unserer Wohnung hatten keinen Geruch erzeugt. Natürlich dachte ich, nachdem ich wieder im Bett lag und nicht einschlafen konnte, ich habe mir den Vorfall nur eingebildet oder es habe sich um Traumwandelei gehandelt. Aber eigentlich war ich mir sicher, dass es Phänomen zwischen viertel vor Fünf und halb Sechs tatsächlich gegeben hatte. Denn Träume, in deren Verlauf sich der Eindruck festsetzt, ich sei erwacht und erlebe das Geschehen tatsächlich, kenne ich zur Genüge.

Zum Beispiel denjenigen, den ich Elf-Achtundsechzig nenne, weil sich diese Zahl oder Nummer jedes Mal so sehr in mein Hirn brennt, dass sie auch nach dem Aufwachen und den folgenden Tag immer präsent bleibt. In dieser Traumsequenz gehe ich durch eine unbekannte Stadt, die mich an eine kleinere Gemeinde irgendwo im Südwesten der USA erinnert, also eine formlose Ansiedlung mit einer Hauptstraße, an der eingeschossige Bauten mit Läden aufgereiht sind. Es ist ein sonniger Tag, vermutlich wird es mittags einigermaßen heiß, aber jetzt sind die Temperaturen noch erträglich. Die Sonne steht noch nicht sehr hoch, die Häuser werfen lange Schatten, und auf der Fahrbahn stehen noch Reste vom Regen der Nacht in den Pfützen.

Warum ich dort bin, wie ich hingekommen bin und was ich erledigen will, vergesse ich jedes Mal. Immer aber bleibe ich vor den Schaufenstern eines Blumeladen stehen, der noch geschlossen hat. Zwischen den bunten Sträußen reckt sich eine einzelne Kala empor, und in dem Moment, in dem ich diese majestätische Blüte sehe, falle ich um. Dann liege ich rücklings auf den Betonplatten des Gehsteigs, die Beine leicht gespreizt, die Arme rechtwinklig vom Körper abstehend. Im Traum spüre ich, dass etwas an mir saugt, dass eine unsichtbare Kraft versucht, irgendetwas aus mir herauszusaugen. Ich wehre mich mit aller Kraft dagegen. Passanten treten hinzu und bilden nach und nach einen schweigenden Kreis um mich herum. Dann beugt sich ein Mann mit sehr heller Haut und sehr blonden Haaren zu mir hinab und spricht mich an. Aber natürlich kann ich nicht antworten oder irgendwie reagieren, denn ich bin ja soeben gestorben.

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