Thibaud nahm seine Mütze ab, setzte sich ans Kopfende und sagte: „Albert ist tot.“ Nicht nur ich sah ihn verwirrt an. „Wer?“ fragte Evi. „Albert Winzen, mein alter Schulfreund Albert.“ Die Gruppe verfiel wieder ins Gespräch, nur Zilly sah ihn und sagte: „Mein Beileid.“ Thibaud winkte ab. „So eng waren wir nicht miteinander. Ich würde nicht einmal sagen, dass wir Freunde waren. Schulkameraden, vielleicht – wobei ich das Wort Kamerad in diesem Zusammenhang hasse.“ – „Aber ihr hattet Kontakt?“ setzte Zilly nach. „Nach dem Abi hatten wir uns gut dreißig Jahre nicht gesehen. Dann lief er mir zufällig in Trier über den Weg. Wir tauschten Telefonnummern und Mailadressen aus. Nach ein paar Wochen mailte er mir, er sei dann und dann in der Stadt, ob wir nicht ein Bier zusammen trinken wollten. Wir verabredeten uns.“
„Während der Schulzeit zählte Albert zu den Langweilern. Der trank Cola, rauchte nicht und hatte eine Scheißfrisur. Uns verband nur, dass wir an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Geburtstag hatten. Vermutlich war ich der einzige Mitschüler, der überhaupt normal mit ihm sprach und sich nicht nur über ihn lustig machte. In der Unterprima, sorry, so nannte man früher die zwölfte Klasse am Gymnasium, wurden wir eines Tages vom Klassenlehrer gefragt, was wir denn gern werden würden. Das war im Jahr 1970, da war man politisch oder Hippie oder wenigstens cool. Volker, den wir wegen seiner Frisur Handke nannten, gab Drehbuchautor als Berufswunsch an. Einer wollte Arzt in der Dritten Welt werden. Historiker, Germanist, Journalist, Profisportler – alles möglichen Berufe wurden genannt. Und dann war Albert an der Reihe. Verwaltungsangestellter, sagte er, höhere Laufbahn. Die Klasse grölte, und selbst unser Oberpauker Meier konnte sich kaum halten vor Lachen. Aber während weder Volker, noch die anderen in die genannten Professionen kamen, wurde Albert tatsächlich Verwaltungsbeamter im gehobenen Dienst. Später sogar kurzzeitig Staatssekretär beim Bildungsministerium des Landes. Na, fragte ich, hast du Karriere gemacht, Albert? Er nickte und sagte: Hab mich vorzeitig pensionieren lassen. Mir reicht die gekürzte Pension. Jetzt mach ich die Welt unsicher.
Die Vorstellung, Albert Winzen könne die Welt unsicher machen, ließ mich grinsen. Nein, lach nicht, ich werde ab sofort jedes Jahr mindestens vier neue Länder kennenlernen. Im Herbst geht’s erstmal auf eine Kreuzfahrt. Südostasien, Australien, Südamerika. Er nippte an seinem Wein und sah mich über den Rand seiner unauffälligen Brille prüfend an. Und du? Ich versuchte, ihm einen kurzen Abriss meines Lebens der vergangenen dreißig Jahre zu geben, aber kam nur bis 1985. Dann komplementierte der Wirt uns aus seinem Laden.“
„Hast du ihn denn überhaupt noch vor seinem Tod getroffen?“ Thibaud nickte: „Mehrfach. Die Initiative ging von ihm aus. Jedes Mal bat er darum, in ein anderes Restaurant, eine andere Bar oder Kneipe zu gehen. Ob ihn meiner Geschichten ihn nicht langweilten, fragte ich beim vierten oder fünften Treffen. Nein, sagte Albert, ich liebe wilde Lebensgeschichte. Hab ja selbst keine. Warst du denn mal verheiratet? fragte ich. Er schüttelte den Kopf. Kinder? Er verneinte. Liebesaffären? Er blickte von seinem Weinglas auf. Ja, da gab’s schon welche, aber keiner von den Kerlen wollte bei mir bleiben. Ich war denen zu langweilig. Du bist schwul? fragte ich. Ja, sagte Albert knapp.
Vor vier Wochen war ich unterwegs in Luxembourg. Mailte ihn an, ob wir uns an seinem Wohnort treffen sollten. Klar, antwortete er, komm in den Goldenen Adler, da sitze ich fast jeden Abend ab sieben Uhr. Tatsächlich war ich drei Tage später in seiner Stammwirtschaft. Fand ihn an einem Ecktisch. Und erschrak. Albert war buchstäblich um Jahre gealtert. Hey, sagte ich, du siehst nicht gut aus, was ist los? Er grinste schief. Mir geht’s auch nicht gut. Mit mir geht’s auch zu Ende. Wie das? fragte ich entsetzt. Ach, weißt du, vor ein paar Wochen begann es. Ich bekam leichte Magenschmerzen. Das kannte ich schon. Dann nahm ich eine Talcid, und dann ging der Schmerz wieder weg. Aber dieses Mal ging er nicht weg. Nun bekam ich etwa eine halbe Stunde nach jeder Mahlzeit Magenschmerzen, egal was ich gegessen hatte. Keine schlimmen Schmerzen. Eher so ein Brennen, ein Druck. Eines Nachts wachte ich von diesem Schmerz auf. Ich spürte, dass ich mich würde übergeben müssen. Rannte ins Bad. Und erbrach Blut. Da wusste ich: es ist so weit. Ich spülte meinen Mund mit Wasser aus, ging ins Wohnzimmer, goss mir einen Brandy ein und setzte mich an den Tisch. Hallo, sagte ich, da bist du ja, Krebs. Hab schon auf dich gewartet. Prostete ihm zu und trank den Schnaps in einem Zug aus. Der Magenkrebs hielt sich wacker und blieb ganz still.“
Die Runde hatte sich Thibaud zugewandt und lauschte seiner Geschichte. Er hatte sich ein weiteres Glas vom Roten eingeschenkt, nahm einen Schluck und dachte nach. „Albert und ich sind beide in den Fünfzigern geboren. So um 1985 herum sagte mal ein Mediziner meines Alters: Wir werden alle Krebs kriegen. Nur manche werden das nicht erleben weil sie vorher an was anderem sterben. Wir werden alle am Krebs sterben, weil sie uns in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vergiftet haben. Die radioaktiven Wolken der oberirdischen Atomwaffentests kreiste bis etwa 1963 immer rund und rund um den Erdball. Da hate jeder sein Quäntchen karzinogener Strahlung abgekriegt. Ich auch. Du auch. Ja, Albert eben auch.
Ich fragte ihn an jenem Abend in Trier, was er denn zu tun gedenke. Er lächelte sanft: nichts. Keine Chemotherapie? Er schüttelte den Kopf. Irgendwelche Palliativmaßnahmen? Nein. Er werde wie geplant in zwei Wochen in Dubai an Bord des Cruiseliners gehen. Dann würde er reisen. Keinem auf dem Schiff was von seinem Krebs sagen. Und wenn die Schmerzen zu stark würden, dann würde er sich zunächst vom Schiffsarzt die üblichen Mittel verabreichen lassen. Reichten die nicht mehr, dann würde er zu den Substanzen greifen, die er sich besorgt habe. Und wenn’s gar nicht mehr ginge, dann hätte er da eine Überdosis geplant.“
Er legte eine Pause ein und ließ sich noch einmal das Glas füllen. „War halt ein Langweiler, der Albert. Hatte aber einen Brief an der Rezeption vom Schiff hinterlegt. Da stand mein Name drin, samt Telefonnummer und Mailadresse. Den haben die natürlich geöffnet nachdem man Albert tot in seiner Kabine gefunden hatte. Und mich verständigt. Für seine Beerdigung habe er vorgesorgt, ich müsse mich um nichts kümmern. Aber der Herr Winzen habe in diesem Brief darum gebeten, seinen guten, alten Schulfreund über seinen Tod zu unterrichten. Dem sei man nun nachgekommen.“
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