„Vielleicht ist diese Demenz ja doch keine schlechte Sache,“ flüsterte Thibaud, der wie immer am Kopfende der Tafel saß. Und natürlich wandten sich ihm alle Köpfe zu, weil er die Stimme gesenkt hatte, einer seiner Tricks, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern. „Es heißt doch,“ setzte er fort, „dass glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Zilly schnaufte kurz: „Das hörte sich bei dir neulich noch ganz anders an. Da hast du gejammert, du könntest dir kaum noch etwas merken.“ „Glücklich ist“ weiterlesen
Die Nadel
Keine Ahnung, wie ich hier hochgekommen bin. Wundert mich auch, dass hier an der Spitze dieses eigenartigen Bauwerks ein Sitz angebracht ist. Man hat mich zum Glück angeschnallt. Und gut, dass ich keine Höhenangst habe, denn in gut fünfundsiebzig, achtzig Metern auf der Spitze einer Nadel zu hocken, ist nichts für furchtsame Gemüter. So überblicke ich die Stadt, die selbst aus dieser Höhe bis über den Horizont hinausreicht. Es geht ein leichter Wind, und die Nadel bewegt sich erstaunlicherweise nicht ein bisschen. Muss an der Konstruktion liegen, wozu immer die gut sein mag. Nur daran, wie ich wieder herunterkommen, darf ich nicht denken. „Die Nadel“ weiterlesen
Nicht leichtgemacht
„Ich habe es mir im Leben nicht leichtgemacht,“ sagte Spinks, senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen als sei er erschöpft. „Das sagt er immer,“ merkte Thibaud an und verzog das Gesicht. Wir kannten die Geschichte der beiden, zumindest Thibauds Sicht der Dinge, denn er hatte uns vor Längerem von Spinks erzählt. Sie hatten sich damals in einer dieser Szenekneipen kennengelernt und beschlossen, sich beim Pipeline-Bau in Alaska zu verdingen. Es hieß, hatte Thibaud erklärt, da könne man in ein paar Monaten ein Vermögen verdienen; zwar sei der Job hart, aber für 3000 Dollar die Woche müsse man eben mal etwas aushalten. Viele Kerle redeten in jenen Jahren von dieser Sache, ohne dass wirklich eine nennenswerte Anzahl tatsächlich in den Norden Amerikas zog. Bei Spinks und Thibaud gab es aber einen gewichtigen Grund: Sie wollten einen Verlag gründen, ein Medienhaus für sozialistische Zeitungen, für linke Bücher, die sonst niemand druckte. Sie wollten aktiv an der Revolution mitarbeiten. Sie rechneten damit, mehr als 100000 Dollar zu verdienen und spätestens nach einem halben Jahr zurückzukehren. „Nicht leichtgemacht“ weiterlesen
Leben und Tod
In Wirklichkeit, sagte Thibaud unvermittelt, geht es doch um ganz was anderes. Und hielt inne. Wir warteten auf eine Fortsetzung des Satzes, eine Erläuterung, Erklärungen, Antwort, auf Argumente. Wir warteten darauf, dass er wie sonst zu einem Vortrag anheben würde, einem verschlungen Pfad aus Gedanken, Vorstellungen, aus ineinander verschachtelten Sätzen, die sich in Spiralen und Parabeln durch den Raum winden würden, bis am Ende niemand mehr weiß, wo der Ausgangspunkt lag. Aber Thibaud schwieg. Auf eine theatralisch-buddhistische Weise hatte er die Hände mit den Flächen nach oben vor sich auf den Tisch gelegt und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Wir alle ware unsicher, und eine Weile schwiegen auch wir. Bis Hanshubert aus dem Nichts heraus sagte, Ja,ja. Und Ellen mit einem Wißt ihr noch begann, über etwas zu reden, was mit Thibauds Statement nichts zu tun hatte. Aber in dem Augenblick, als Gernot oder einer der anderen aus der Runde auf das neue Thema einsteigen wollte, sprach Thibaud mit erhobener Stimme: Es geht um Leben und Tod. „Leben und Tod“ weiterlesen
Seelenleben
Das Skurrile an der folgenden Geschichte ist, dass kein lebendes Wesen sie jemals wird lesen können. Denn während ich diesen Text schreibe, bin ich schon tot. Und recht eigentlich schreibe ich die Wörter und Sätze auch nicht. Ich denke sie. Das ist auch das Einzige, was uns Toten übrig bleibt, nachdem wir den Körper losgeworden sind. Zu Lebzeiten habe ich nie an einen Gott, an irgendein höheres Wesen oder eine höhere Mächte geglaubt. Alles Religiöse, Spirituelle und Esoterische war mir zuwider. Jetzt nach meinem Tod weiß ich, dass ich damit richtig lag. Bis auf eine Ausnahme vielleicht: Ja, es gibt die Seele. Jeder Mensch, jedes Tier, beinahe jedes Lebewesen hat sie, und alle möglichen biologischen Formen von außerhalb unseres Sonnensystem auch. Und diese Seele ist unsterblich, also ewig. „Seelenleben“ weiterlesen
Elf-Achtundsechzig
Die Uhr im Wohnraum zeigte vier Uhr dreiundfünfzig. Ich war den fliegenden Punkten gefolgt, die mich geweckt hatten. Zuerst dachte ich, jemand auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer leuchte mit einer Taschenlampe durchs Fenster. Oder jemand habe einen Laserpointer auf das Haus gerichtet. Aber es waren mehrere, sanft bläulich strahlende Kugeln, die durch den Raum schwebten, vielleicht vier oder fünf. Ihre Bewegung folgten keinem Muster, und es sah auch nicht aus, als flögen sie in fester Formation. Manchmal nahm einer dieser Lichtbälle Geschwindigkeit auf und kreuzte die Bahnen der anderen. Das alles völlig geräuschlos. Wie gesagt: Ich stand auf und folgte den Kugeln ins Wohnzimmer. „Elf-Achtundsechzig“ weiterlesen
Die Sieben und der Schmerz
Als ich heute früh erwachte, sagte Thibaud, hatte ich sieben Schmerzen; erfreulich wenige. Ja, ja, warf Storck ein, in unserem Alter ist man ja froh, wenn morgens was weh tut, denn dann weiß man, dass man noch am Leben ist. Immer noch kannst du keiner Banalität aus dem Weg gehen, entgegnete Thibaud und ergänzt: Lasst uns über physische Schmerzen sprechen, nicht über das Alter. Denn wenn eines das gesamte Leben begleitet, dann sind es Schmerzen. Aber in den letzten Jahren vor dem Tod, wandte Storck ein, ist jeder Schmerz ein Alarmsignal dafür, dass dieses oder jenes Körperteil funktional am Ende ist. Nimm die Leber. Ist die durch ständigen Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch angeschwollen, dann wird sie sich zersetzen und ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Und daran stirbt man. Gut, dass du dieses Organ erwähnst, stimmte Thibaud zu, es sendet nämlich einen meiner sieben Schmerzen aus. „Die Sieben und der Schmerz“ weiterlesen
Noch ein Leben
Den Tod hatte sich Fred ganz anders vorgestellt. Irgendwas mit einem weißen Licht, und dass das Leben an einem vorbeizieht. In Wahrheit war der Übergang eine Qual. Zwischendurch blieb er stecken und hatte schreckliche Angst. Ein bisschen wie die Fahrt auf einer sehr flachen Wasserrutsche, die nicht überall richtig nass ist. Mit dem Kopf voran. Durchweg bei trübem, gelblichen Licht, dass im Fokus zu einem bräunlichen Grau wurde. Mit einem winzigen giftgrünen Punkt in der Mitte. Er nahm unterwegs eine Art schräges Knarzen war und fror. Das Ganze zog sich über Stunden hin, vielleicht sogar über Tage und Wochen. Und eigentlich wollte er irgendwann nur noch, dass es vorbei sei, dass er endlich durch sei. Wo auch immer er dann ankäme. Schließlich landete er in einer Höhle, deren Wände in sanften Rottönen leuchteten und dabei in einem angenehmen Rhythmus pulsierten. Körpergefühl hatte er keins mehr, die Sinneswahrnehmungen stark eingeschränkt. Es kam ihm vor, als schwebte er in einer warmen, süßen Flüssigkeit. Je länger er in dieser weichen Höhle antrieblos umher trieb, desto mehr verließen ihn seine Erinnerungen. Sein Körper zog sich zusammen, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Beine angezogen. Grelles Licht voraus, und dann nahm etwas seinen Schädel und quetschte seine Schläfe zusammen, sodass er beinahe bewusstlos wurde. Danach war das dann alles zu Ende. „Noch ein Leben“ weiterlesen
Komm, süße Depression
„Trauer ist ein Tier mit braunem Fell und großen Kinderaugen, das an meinem Brustbein aufwärts kriecht und mir dann direkt ins Gesicht starrt. Das rührt mich zu Tränen.“ Thibaud stand auf und ging ein paar Schritte hin und her. „Vermutlich nennt ihr den Zustand, wenn das Tier namens Trauer kommt, Depression. Im Rheinischen sagt man von einem, der deprimiert ist: Er hat dar ärme Dier.“ Er hatte sein Glas Wein vom Tresen geholt und sich wieder hingesetzt. Zilly fand, er sähe erholt aus, entspannt und auf unbestimmte Weise klar und sicher. „Die Menschen verstehen immer weniger, je mehr an fundierter Information ihnen zur Verfügung steht. Sie wollen lieber auf ihren Bauch hören. Und um jeden Preis fröhlich sein. Nur Idioten sind immer gut drauf. Kluge Menschen brauchen Depressionen. Und nutzen sie.“ „Komm, süße Depression“ weiterlesen
Der Igel an den Bären
Nur weil wir beide immer den Winter verschlafen, sind wir noch lange nicht Kollegen. Und du brauchst dir auf deine Größe und deine Kraft nun wirklich nichts einzubilden. So offensiv wie du bist, so defensiv bin ich. Man sagt dir ja nach, alter Brummbär, dass dein Hirn in Relation zur Körpermasse winzig sei. Bei mir ist es umgekehrt. Deshalb hast du über alles gesehen keine Chance gegen mich. Es ist auch bekannt, dass du Gewalt für eine Lösung hältst. Das muss mit deinem kleinen Hirn zusammenhängen, denn wer gern nach vorne geht und draufhaut, hat zweifellos Angst vor der intellektuellen Auseinandersetzung, der er sich nicht gewachsen fühlt. Ich würde trotzdem nicht so weit gehen, dich dumm zu nennen. Und böse bist duch auch nicht. Du kannst an guten Tagen ziemlich nett sein. Außerdem sagen alle übereinstimmend, dass du treu wie Gold bist und deinen Freunden immer beistehst, wenn sie dich brauchen. Das gefällt mir. Aber trotzdem möchte ich nicht dein Freund, nicht einmal dein Kollege sein – wir spielen einfach in zwei ganz unterschiedlichen Ligen. So, und jetzt troll dich bevor ich meine Stacheln ausfahre.
Der Adler zu den Hühnern
Ich fliege nicht so hoch, sagte der Adler zu den Hühnern, weil ich mich über euch erheben will, sondern weil die Höhe mein angemessener Lebensraum ist. Natürlich wirkt es lächerlich wie ihr mit gesenkten Köpfen hin und her trippelt und auf dem Boden herum pickt. Oder hüpft und das für Fliegen haltet. Ich verachte euch nicht dafür, denn ich weiß, ich käme nicht besser weg, würde ich mich auf den Boden begeben. Sicher bin ich euch überlegen, weil ich den Überblick habe, weil ich den Horizont sehen kann und einen Blick auf die Erde einschließt, der mehr Dinge einschließt, als ihr euch vorstellen könnt. Aber das heißt nicht, dass ihr nicht auch Vögel seid wie ich, mit Feder und gelegten Eiern. Manchmal bewundere ich euch für eure große Friedfertigkeit und bin neidisch, dass ihr nicht töten müsst um zu überleben. Aber so ist es eben. Selbst wenn ich wollte könnte ich euch nicht das Fliegen beibringen, ihr seid dafür nicht geschaffen. Und ich kann nicht werden wie ihr, weil ich von Körnern allein nicht leben könnte. Also hört auf schlecht über mich zu denken, euch gegenseitig zu versichern, wie arrogant und überheblich ich sei, dass ich einfach immer weit über euren Köpfen am Himmel kreise als sei ich etwas Besseres. Lasst mich einfach in Ruhe so wie ich euch in Ruhe lasse.
Ein Mädchen namens Stern
Sie saß ganz am Ende der Bank und hatte ihre Hand flach mitten auf der Tischplatte liegen. Gelangweilt sah sie sich um im Hinterhof, wo das Fest stattfand. Ich saß ihr gegenüber und versuchte, ihren Blick aufzufangen. Dann schob ich meine Hand in ihre Richtung, und nach einer Weile berührte sich unsere Fingerspitzen. Sie rückte ein wenig hin und her, um sich noch mehr von mir abwenden zu können. Diese Familienfeier in Krakau zu besuchen, war eine Schnapsidee. Einen Großonkel kannte ich, aber der erkannte mich nicht als ich ihn begrüßte. War auch schon sehr betrunken der alte Mann, ein Bruder meiner polnischen Großmutter. Nur die wenigen alten Menschen sprachen Deutsch, aber auf eine Art, dass ich kaum etwas verstand. Die jungen Leute amüsierten sich prächtig, tranken und tanzten. War schon schwierig genug, den Ort der Party zu finden, weil mir keiner den Straßennamen mitgeteilt hatte. Der Hof gehörte zu einer Tischlerwerkstatt, dessen Besitzer weitläufig mit der Sippe verwandt war, und der hieß Nowak. Jeder den ich ansprach, kannte einen Schreiner oder Tischler namens Nowak, nur waren es offensichtlich ganz verschiedene Personen, deren Werkstätten an ganz verschiedenen Ecken der Stadt lagen. Als ich nach Stunden durchs Kasimir-Viertel ging, fand ich eher zufällig die richtige Straße und die richtige Toreinfahrt. „Ein Mädchen namens Stern“ weiterlesen
Dialektik
Dialektik ist, wenn der Postmann zweimal klingelt. Der Postmann besteht aus den zwei Seiten einer Medaille und ist zusammengenommen dein altes Ego. Wie die zwei Backen, die den Arsch bilden. Zwischen den Seiten das Vakuum, das Nichts. Insofern ist der Hintern eine wunderbare Metpaher für das dialektische Prinzip: zwei antagonistische Seiten und dazwischen ein Arschloch.
Viele Räume, das Haus
Eine Zeitlang zählte es zu den Ritualen unserer Treffen, dass jemand von einem Traum berichtete. Ich erinnere mich vor allem daran, wie Rudolph einen Traum auf seine besondere Art vortrug. Den meisten kam es vor, als stammele er, aber wir anderen wussten, dass sein Sprechen ein Spiegel seiner Seele war. Sein Bericht ging ungefähr so: „Viele Räume, das Haus. Das Haus. Schwiegereltern froh über mein Scheitern. Dann mit Frau und Kind ins Vorderhaus. Viele Räume. Gänge, Treppen. Sonne scheint. Wir halb unter der Erde. Kein Weg raus. Beschweren uns. Das Haus. Jetzt oben, oben, Terrasse. Im Licht. Baby weint, Schwiegwermutter schreit: Lieber einen Hund! Hab mich im Keller verirrt. Höre jedes Wort. „Viele Räume, das Haus“ weiterlesen
Kein Wunder
Natürlich versucht Madlinn, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Jeden Tag versucht sie es. Hievt die Oberschenkel mit beiden Händen über die Bettkante und setzt sich auf. Schiebt sich vorsichtig näher an den Abgrund. Versucht mit den Fußsohlen den kühlen PVC-Boden des Krankenzimmers zu berühren. Wenigstens mit den Zehenspitzen. Aber jedes Mal, wenn ihr das gelingt, knallt irgendeine Sicherung in ihrem Vegetativsystem raus. Ihr wird schwindlig. Die Farben vor ihren Augen verblassen, sie sieht das Bild in Graustufen. Dann beugt sie sich zurück bis der Rücken die Matratze des hochgelegten Bettes berührt und wartet ab. Singt dabei leise vor sich hin. Meistens dauert es dann einmal „Hotel California“ oder höchstens „Stairway to heaven“ bis sie wieder klar denken kann. Sie singt die klassischen Rocksongs auf die Art, mit der sie berühmt geworden ist. Eine Mischung aus Tori Amos und Barbara Dennerlein nannte sie der Kritiker der FAZ vor ein paar Jahren. Wie sie mit bloßen Füßen an der mächtigen Hammond B3 mit Bass-Pedalen sitzt, begleitet vom schweigsamen Drummer Bug und ihrem Ex-Lover Süver am E-Bass. Schleppend der Rhythmus, synkopisch, magisch die Stimme, wie in einer Eishöhle auf Spitzbergen gesungen. „Kein Wunder“ weiterlesen