Natürlich versucht Madlinn, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Jeden Tag versucht sie es. Hievt die Oberschenkel mit beiden Händen über die Bettkante und setzt sich auf. Schiebt sich vorsichtig näher an den Abgrund. Versucht mit den Fußsohlen den kühlen PVC-Boden des Krankenzimmers zu berühren. Wenigstens mit den Zehenspitzen. Aber jedes Mal, wenn ihr das gelingt, knallt irgendeine Sicherung in ihrem Vegetativsystem raus. Ihr wird schwindlig. Die Farben vor ihren Augen verblassen, sie sieht das Bild in Graustufen. Dann beugt sie sich zurück bis der Rücken die Matratze des hochgelegten Bettes berührt und wartet ab. Singt dabei leise vor sich hin. Meistens dauert es dann einmal „Hotel California“ oder höchstens „Stairway to heaven“ bis sie wieder klar denken kann. Sie singt die klassischen Rocksongs auf die Art, mit der sie berühmt geworden ist. Eine Mischung aus Tori Amos und Barbara Dennerlein nannte sie der Kritiker der FAZ vor ein paar Jahren. Wie sie mit bloßen Füßen an der mächtigen Hammond B3 mit Bass-Pedalen sitzt, begleitet vom schweigsamen Drummer Bug und ihrem Ex-Lover Süver am E-Bass. Schleppend der Rhythmus, synkopisch, magisch die Stimme, wie in einer Eishöhle auf Spitzbergen gesungen.
Bug kommt sie jeden Tag besuchen. Hat ihr ein winziges Korg mitgebracht und richtig gute Studiokopfhörer, versogt sie mit Prepaid-Guthaben für ihren UMTS-Stick am Netbook, damit sie Musik hören kann, den ganzen Tag Musik hören. Kommt rein und sagt: „Na?“ Täschelt ihr den Unterarm. „Brauchste was?“ Sie sagt dann Dinge wie „Neue Beine“ oder „Gesundheit“ oder auch „Einen guten Fick“, und er antwortet immer „Kann ich dir nicht mit dienen.“ Geht wieder. Aber sein Besuch ist das Highlight des Tages. Dann hat er ihr eines Tages so einen Computer mitgebracht zum Komponieren. Hat sie sich selbst beigebracht, das Ding zu bedienen. Und bastelt jetzt eigene Stücke. Die Texte schreibt sie im Traum und hackt sie morgens in die Tasten. Die aktuelle Zimmernachbarin hat kürzlich gefragt, was sie da macht mit den Maschinen. Madlinn hat gesagt: „Die Welt verändern.“ So fühlt es sich auch an.
Dass Süver nur einmal gekommen ist, geht dagegen in Ordnung. Der hat ihr Lilien mitgebracht und Pralinen vom Discounter. Wo sie den Gestank dieser Blumen nicht abkann und wegen ihrer Diabetes keine Süßigkeiten essen darf. Hat sie die ganze Zeit mitleidig angeschaut und Sätze gesagt wie „Wird schon wieder“ und „Kopf hoch“. Mit dem kann sie nur noch gemeinsam Musik machen. Schlecht gealtert ist der, den sie früher für einen traumschönen Mann gehalten hat, der ein sehr fantasievoller Liebhaber gewesen ist. Jedenfalls wenn er genug gekifft hatte. Nun wässern seine blaßblauen Augen über den faltigen Tränensäcken, und er stinkt aus dem Maul. Trotzdem würde sie auch mit Süver jederzeit wieder auf jede Bühne gehen; er war immer genau der Gegner, den sie für ihre Musik brauchte. Im Gegensatz zu Bug, der ihr gleichberechtiger Partner war. Aber das war ja auch ihre Theorie: In einer funktionierenden Band, gerade im Jazz und Rock, muss es Feindschaften geben, damit Reibung entsteht.
Es war ja auch der Schlagzeuger, der auf ihre schleichende Krankheit am schnellsten reagiert hatte: „Und wenn du einfach den Fuß-Bass weglässt?“ Ja, klar, hatte Madlinn gedacht, damit der Süver bestimmt, wo das Fundament der ganze Sache liegt – niemals! Und als es wirklich nicht mehr ging, als sie in dem Maße die Kontrolle über ihre Beine verloren hatte, dass sie nicht mal mehr die einfachsten Basslinien spielen konnte, da hörte sie ganz auf. Jedenfalls mit öffentlichen Auftritten. Übete natürlich jeden Tag an der B3, sang neue Stücke im Studio ein. Schwierigere Songs als je zuvor. Eine tiefschwarze Version von „The Passenger“. Mehrere frühe Beatles-Songs, die plötzlich nach Delta-Blues klangen. Produzierte mit Ohm am Pult ein ganzes Album nur mit der Orgel, ihrer Stimme und einem altmodischen Drum-Computer. Kommerziell ein Flop, aber es hagelte Auszeichnungen. Auch international. Süver war beleidigt und kündigte ihr per SMS an, nie wieder mit ihr zusammen arbeiten zu wollen.
Man lud sie ein, man bot ihr Gigs an, TV-Auftritte, aber sie sagte alles abm weil sie wusste, dass sie diese Musik nicht würde live spielen können. Zumal sie inzwischen im Rollstuhl gelandet war. Gerüchte verbreiteten sich, Madlinn Myth, so nannte sie sich für diese Produktion, sei in Wahrheit schon lange tot, und ehemalige Kollegen hätten das Album posthum herausgegeben. Es gäbe gar keine Madlinn Myth, behaupteten andere, es handele sich um eine reine Kunstfigur. Leute, die das Trio M live erlebt hatten, widersprachen, aber einmal in die Welt gesetzt verbreiteten sich die Legenden rund um Madlinn schnell und intensiv. Madlinn war es recht. Es belustigte sie. Manchmal rief sie in den Redaktionen an, die über die mysteriöse Keyboarderin berichtet hatten, und behauptete, sie kenne Madlinn Myth persönlich, die aber in Wirklichkeit ein ziemlich alter Jazzmusiker sei, der zurückgezogen in einer Kate in der Eifel lebte.
Dann kam der Zusammenbruch und die vollständige Lähmung der Beine, beidseitig, etwa von der Hälfte der Oberschenkel an abwärts. Sie richtete sich darauf ein und hoffte, die Ärzten sollten Recht behalten, dass die Paralyse nicht weiter fortschreiten würde. Zog um. Ein barrierefreies Appartement in einem der Vororte, den sie immer gehasst hatte. Lernte wieder Autofahren. Versuchte sich von allen unabhängig zu machen. Die Hammond fand keinen Platz in der Wohnung, und nur um gelegentlich darauf zu spielen, waren ihr die Fahrten ins Studio zu mühselig. Nur das Singen stellte sie nie ein. Der Anruf des Artzes, es gäbe da eine neue OP-Möglichkeit. Die Entscheidung dafür. Die Tage vor der Operation. Das Aufwachen. Sich ins rechte Bein zu kneifen und den Schmerz zu spüren. Die Enttäuschung, dass die Beine sie noch nicht wieder tragen konnten. Die mühsame Rehabilitation. Die Übungen. Üben. Mühen. Wenig Fortschritt. Dabei hatte Professor Möhrkens noch gesagt: Erwarten Sie kein Wunder, alles braucht seine Zeit.
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