Frühling in Minsk

Wir sehen eine junge Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen im Sommerkleid im Kreis von fünf anderen jungen Frauen. Die Dunkelhaarige ist meine Mutter. Auf der Rückseite des Fotos steht nur: Hildburghausen 1941. Sie sieht fröhlich aus auf dem Bild, beinahe übermütig, und alle sechs Frauen scheinen getanzt zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, hat meine Mutter erzählt, dass sie ihre Ausbildung zur Telefonistin dort bekommen hat. Nach allem, was ich recherchiert habe, dauerte diese Ausbildung sechs Monate. Danach wurde sie ins besetzte Minsk, der Hauptstadt Weißrutheniens, wie Belarus in der Nazizeit genannt wurde, eingesetzt. Es war für sie eine glückliche Zeit.

Überhaupt war es ein Glücksfall für sie, dass man sie zum Reichsarbeitsdienst eingezogen hatte, der damals für Frauen auf ein Jahr begrenzt war, später auf achtzehn Monate ausgedehnt wurde. Wer als Frau zum Fernmeldedienst kam, hätte in Friedenszeiten hervorragende Aussichten als Fräulein vom Amt gehabt. Einen Beruf hatte meine Mutter nicht gelernt. Sie war das jüngste Kind unter acht Geschwistern. Ihre Mutter war bei der Geburt am 16. April 1921 bereits 44 Jahre alt. Genau wie der Vater, ein Veteran, der seine Familie vor dem Ausbruch des Krieges als Tagelöhner ernährte. Auch für ihn war der Weltkrieg ein Glücksfall, denn wie viele verdiente Soldaten wurde er mit einer Stelle im öffentlichen Dienst für seine Tapferkeit belohnt.

Franz Müller wurde ab 1919 Gärtner der Heil- und Pflegeanstalt im ostpreußischen Tapiau, vom Volksmund nur das Irrenhaus genannt. Beim Ausbruch des zweiten Weltkriegs war er bereits über sechzig Jahre alt und wehruntauglich. Eine der wenigen Geschichten, die meine Mutter über die Zeit vor dem Krieg erzählte, lautete: „Eines Tages kam der Vater schon mittags nachhause und sagte „Keiner mehr da. Sie haben alle Irren abgeholt.“

Meine Mutter wurde zu Ostern 1928 eingeschult und absolvierte die Mindestzeit von acht Schuljahren. Danach gab man sie als Dienstmädchen zu einer wohlhabenden Familie. Darüber hat sie nie gesprochen. Viel Aufmerksamkeit wird sie in ihrer Familie nicht genossen haben als jüngstes Kind. Ihre älteste Schwester Thea hatte 1920 eine uneheliche Tochter geboren, die sie Eva nannte und die bei der Großmutter aufwuchs. Erna Charlotte war ein Jahr jünger als Eva und deren Tante, betrachtete sie allerdings ihr Leben lang als Schwester.

Was sie in der Zeit zwischen dem Ende der acht Volksschuljahre im Jahr 1936 und dem Beginn ihrer Ausbildung in Hildburghausen getan hat, hat sie nie berichtet. Sie wird in der Schule nicht viel gelernt haben. Bis an ihr Lebensende habe ich sie nie auch nur ein Buch lesen sehen, und auf den Einkaufszetteln, die sie uns schrieb, waren die Angaben in einer kaum zu entziffernden Mischung von lateinischen Buchstaben, besonderen Symbolen und Sütterlinschrift verfasst. In ihrem Nachlass fand ich nur vier weitere Fotos aus der Vorkriegszeit, und unter dem dicken Packen Briefe meiner Eltern gibt es nur zwei kurze Schreiben von ihr, die ich nur mühsam entschlüsseln konnte.

Aus ihrer Zeit in Minsk stammen zwei Berichte, die sie immer wieder erzählte. Einmal, so Mutti mit Stolz, habe sie sogar ein Führergespräch vermittelt. Die längste Geschichte ging ungefähr so. Man muss dazu wissen, dass die Fernmeldehelferinnen vor Schränken mit einem Raster runder Buchsen saßen, in die sie Stecker zu platzieren hatten, um so eine Verbindung herzustellen. Die Stecker wurden mitsamt Kabeln durch Gewichte in ihren Kasten zurückbefördert. Das machte die Tätigkeit zu einer unangenehmen körperlichen Arbeit.

So hatte sich Mutti im Frühjahr 1943 eine Sehnenscheidenentzündung zugezogen. Sie erzählte, dass sie eines Tages vom Lazarett kam und eine große Flasche einer Tinktur trug, mit der sie ihr linkes Handgelenk regelmäßig einreiben sollte. Auf dem Weg zu ihrer Unterkunft sei ihr plötzlich ein Russe – für sie waren auch die Bewohner Minks Russen – entgegengekommen. Sie habe furchtbare Angst gehabt. Zumal der Mann unmittelbar vor ihr stehenblieb, etwas sagte, was sie nicht verstehen konnte, und auf die Medizinflasche zeigte. Sie habe befürchtet, er habe ihr die Arznei stehlen wollen. Und fügte an „Oder sonst was“. Dabei habe der freundliche Russe nur angeboten, die Flasche für sie zu tragen.

Wohin sie im Frühjahr 1944 nach der Rückeroberung Minsks durch die Rote Armee versetzt wurde, hat sie nie berichtet. Nur dass sie gegen Kriegsende wieder zuhause in Tapiau bei ihrer Mutter gewesen sei, mit der sie dann, vermutlich im Oktober 1944, aus Furcht vor den Russen Richtung Westen geflohen sei. Mutter und Tochter landeten in Stedesand in Nordfriesland und wurden beim Großbauern Johannsen zwangsweise einquartiert. Auf demselben Hof war auch die Stiefmutter meines Vaters untergebracht. Weihnachten 1947 kam er aus britischer Kriegsgefangenschaft nach Holstein und lernte dort meine Mutter kennen.

Kurz vor der Geburt meines Bruders im Oktober 1948 heirateten sie. Mein Vater, ein gelernter Maurer, fand Arbeit auf dem Bau in Kiel. Ende 1949 unterbreitete ihm ein Bauunternehmer das Angebot für ihn in Düsseldorf zu arbeiten; im ersten wiederhergestellten Haus könne er dann eine Wohnung für seine Familie beziehen. Etwa ab ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr und der Geburt meiner Schwester habe ich meine Mutter nie anders als krank erlebt. Später wurde sie beinahe jedes Jahr auf Kur geschickt, und durch den frühen Tod meines Vaters wurde sie im Sommer 1967 Witwe. Am Rosenmontag 1981 starb sie mit 59 Jahren an einer kurzen, schweren Krebserkrankung.

Es kann gut sein, dass die vier Jahre zwischen 1941 und 1944 die glücklichste Zeit ihres Lebens war.