Die Stimmung im Nebenzimmer des Bahrer Hofs war gedrückt. Wir saßen da, tranken unsere Getränke, redeten ein paar Worte mit dem Tischnachbarn, aber nie über den Tisch. Thibaud hatte nicht seinen üblichen Platz am Kopfende eingenommen, sondern hockte ganz hinten auf der Bank. “Wie geht’s dir denn mit deiner neue Freiheit?” versuchte ich ihn ins Gespräch zu ziehen. Ohne aufzuschauen begann er einen Monolog, so leise, dass ich mich zu ihm hinüberbeugen musste: “Gut, gut. Das Geschäft ist besser angelaufen als ich dachte. Halb soviel arbeiten, doppelt soviel verdienen, sage ich allen, die mich fragen. In Wirklichkeit habe ich nackte Angst. Angst davor, dass es abreißt, dass es wieder schlimm wird. Ich rede mit Auftraggebern, ich übernehme Jobs und arbeite stetig. Aber eigentlich suche ich nur nach einem Ausweg.Wenn ich morgens in den Spiegel sehe, dann schwebt über meinem Abbild ein Foto von mir. Da war ich Mitte Zwanzig. Ein begabtes und arrogantes Kerlchen. Die Augen weit geöffnet, das Kinn angehoben, mit einem leichten Lächeln. Und unter diesem Bild sehe ich mein altes Gesicht, nur noch müde Sehschlitze und Mundwinkel, die sich nach unten gebogen haben mit den Jahren. Mir war alles immer zuviel. Immer meinte ich, die Verantwortung zu tragen. Und je älter ich wurde, desto mehr Sorgen hab ich mir gemacht. Vor allem um andere. Jetzt müsste ich mir Sorgen um mich machen. Zwei Stunden nach dem Einschlafen wache ich auf und denke: Warum kümmert sich niemand um mich? Warum sorgt sich keiner darum wie es mir geht? Dann stehe ich auf, heule mein Selbstmitleid heraus und trinke eine Flasche Wein. Ulla hat gesagt, ich müsse mehr auf mich selbst achten, mehr für mich tun. Aber das habe ich nie gelernt. Dann wünsche ich mir, ich wäre zehn, und hätte Vater und Mutter, die mir sagen, was zu tun ist. Ja, ich funktioniere noch. Und ich fürchte mich vor mir selbst, vor der Aussichtslosigkeit.”
Später erzählte er mir zum hundertsten Mal seine Version vom Mythos des Sysiphos.