Wietten und die Tilde (2)

Sie schwebten in ihrem Bett über den glitzernden Lichtern der Stadt. Sie war einfach mitgekommen als Wietten nach F. reiste, wo er zwei Wochen lang an einem Problem bei der C.-Bank zu arbeiten hatte. Also hatte er die Suite im 22. Stockwerk gemietet, die mit den deckenhohen Fenstern und dem freien Blick nach Südwesten bis hinüber zum Flughafen, wo jetzt die Maschinen davonflogen wie Leuchtkäfer im Juni. Er hatte keine Ahnung, was sie tagsüber unternahm. Wenn er gegen sechs aus dem C.-Tower zurückkam, saß sie immer entspannt auf dem Sofa der Suite und tat als schaue sie Fernsehen. Dann vögelten sie ein bisschen, gingen essen oder ließen sich etwas bringen, lagen den ganzen Abend im Bett und unterhielten sich. Wobei es Wietten war, der die Unterhaltung führte, denn sie redete wenig. Nicht nur an diesem Ort zu dieser Zeit. Am Wochenende verließen sie das Hotel gar nicht. Wechselten nur von der Suite ins Spa, ins Restaurant oder in die Bar.

Und vögelten mehrmals am Tag. Natürlich war Wietten ein bisschen stolz auf die Manneskraft, die er jetzt jenseits der Siebzig noch aufbrachte. Dass er kein Viagra brauchte, um drei, vier Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine stabile Erektion zustande zu bringen. Natürlich hatte er schon mit der pharmanzeutischen Hilfe experimentiert. Vor gut einem Dutzend Jahren. Als Gerti innerhalb kurzer Zeit sichtbar alterte und von Monat zu Monat immer weniger attraktiv für ihn wurde. Aber sie brauchte Sex immer noch sehr. Und weil sie auch nach dem Ende ihrer Liebe immer noch treue Gefährten waren, half er nach, obwohl sie ihn erotisch überhaupt nicht mehr reizte. So ging das bis zu ihrem frühen Tod. Er wusste, dass sie ihm bis zum Schluss dankbar dafür war, dass er regelmäßig mit ihr schlief.

Natürlich war das bei dieser jungen Frau ganz anders. Manchmal stand sie nackt am Fenster und schaute hinaus auf die Stadt. Früher hätte man jemand mit ihrer Physis vielleicht stämmig genannt. Dabei waren es vor allem ihre Beine, die stark waren und immer wie verwachsen mit dem Grund, auf dem sie stand. Er kannte inzwischen jeden ihrer Muskel, liebte es, die Fasern unter der makellosen Haut zu spüren, wenn sie sich spannten. Auch dass sie sich zwischen den Beinen rasierte, erhöhte ihren Reiz. Denn er war es müde, bei jungen Frauen immer wieder dieselbe Konstruktion zu sehen, dieselben Falten und Hügel, oft wie schlecht gerupfte Hühnerhälse. Breit waren ihre Hüften, eher klein die Brüste. Das wenige Fett an ihrem Körper saß genau an den richtigen Stellen.

Was ihn aber schon bei ihrer ersten Begegnung viel mehr angezogen hatte als ihr Körper war dieses Gesicht. Eine Hochebene, auf die der Wind mit den Wolken Schatten malte. Immer in Bewegung, ein Spiegel ihres Inneren, eine Sprache, die ihr das Sich-Erklären-Müssen sparte. Ihre Mundwinkel waren ständig in Bewegung, die Nasenflügel, die elegant geschwungenen Brauen. Ihre Augen konnten auf ein Dutzend Weisen Schlitze bilden: wütend, geblendet neugierig. Und manchmal wurde alles ganz flach und ruhig. An jenem Abend beim Barcamp in H. hatte sie das Haar noch lang getragen mit einem Zopf, sehr hellblond gefärbt. Aber als sie de ICE betrat, in dem er schon auf sie wartete, sah er sie mit raspelkurzen, merkwürdig silbrig getönten Haar. Und es gefiel ihm sehr.

Eigentlich waren es Gute-Nacht-Geschichten, die er ihr erzählte. Und damit einen Report über sein Leben gegeben. Diesen Fluss aus fünf Ehen und neun Kindern, elf, zwölf Berufen, manchen Siegen und vielen Niederlagen, merkwürdigen Begegnungen und außergewöhnlichen Ereignissen überall auf dem Globus. Schon mit knapp Sechzig hatte er begonnen, einen Vorrat an Anekdoten aufzubauen, die dieses sein Leben zu einem Film machen könnten. Sein bester Freund Bernhard zeigte beim Zuhören nur noch mit den Fingern an, zum wievielten Mal er eine Geschichte er gerade hörte. Sie war eine perfekte Zuhörerin, die konzentriert lauschte und nur dann kurze Nachfragen stellte, wenn ihm die Erzähllogik verlorenging. Auf seine vorsichtigen Aufforderungen, sie möge doch mal von sich zu erzählen, reagierte sie bestenfalls mit einem spöttischen Lächeln.

Bis er am Sonntag gegen dreiundzwanzig Uhr diese eine Frage stellte: Wie heißt du eigentlich richtig? Da hatte sie ihm ihr Gesicht zugewendet, war höher hinauf gerutscht im Bett und hatte gesagt: Das ist eine lange Geschichte. Und sie dauerte bis zum Morgengrauen bis sie fertig war mit ihrem Bericht.

„Als ich geboren wurde, waren meine Eltern schon heillos verfeindet. Geliebt haben sie sich schon zum Zeitpunkt meiner Zeugung nicht. Da hatte mein Vater längst eine andere. Und den Entschluss gefasst, ein Leben mit Frau und Kind un Eigenheim nicht zu führen. Zurückzukehren zu dem Leben, das er fast ein Jahrzehnt lang mit seiner Geliebten und Gefährtin geführt hatte. Die aber nun ein Kind haben und in beruhigte Verhältnisse einkehren wollten. Meine Eltern waren so etwas wie moderne Hippies. Vater war Straßenmusikant, Mutter bastelte Schmuck und schneiderte merkwürdige Sachen. Von einer unerwarteten Einnahmen – Mutter erzählte nie davon, woher die stammte – hatten sie sich ein großes, komfortables Reisemobil gekauft und waren danach ständig unterwegs in Europa. Aus verschiedenen Gründen waren sie wieder einmal pleite und mit dem Bus in der Nähe von Montpellier gestrandet. Ein Bekannter der Familie meines Vaters, ein alter Mann, der seinen Lebensabend im Süden verbrachte, ließ sie auf seinem Grundstück parken und sorgte für die beiden Vagabunden – so nannte er das Paar. Meine Mutter hat mich allein und ohne fremde Hilfe im Mobil geboren.“

Sie hielt inne. Ihr Blich wurde starr und fixierte einen Punkt irgendwo über dem unsichtbaren Horizont der Nacht. Sie tastete unter der Decke nach meiner Hand. Ich hielt sie für den Rest der Erzählung.

„Vater wollte unbedingt, dass ich in Deutschland angemeldet würde, lieh sich Geld bei Onkel Jörg und fuhr mit uns los. Offiziell bin ich in L. geboren, der ersten Stadt, die wir auf bundesdeutschem Boden erreichten. Mutter erzählt, dass sie unterwegs auf einer Strecke von fast vierzehn Stunden kein Wort miteinander gesprochen haben. Bis der Vater sie fragte: Wie soll das Kind heißen? Matilda, sagte meine Mutter. Er wurde sauer und entgegnete: Sie sollte doch wie meine Großmutter heißen. Nämlich Hildegard. Da schlug meine Mutter einen Kompromiss vor. Lass sie uns Mathilde nennen, das stecken beide Namen drin. Weil es aber der Vater war, der auf dem H bestand, habe ich es abgelegt. Und weil auch meine Mutter nie so für mich gesorgt hat, wie ich es nötig gehabt habe, musste auch das MA fallen. Deshalb bin ich die Tilde.“

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