Letzte Arbeit (3)

Jörg war kühl, Albert dagegen warm. Aber bis zur ersten Nacht mit Albert hatte sie nicht geahnt, wie sehr ihr die Wärme zuvor gefehlt hatte. Seine Wärme war nicht nur eine körperliche, sondern eine allumfassende. Wenn sie ihn sah, wurde ihr warm ums Herz, wie in einem Liebesroman. Immer wollte sie ihn berühren, und er ließ das im Gegensatz zu Jörg nicht nur zu, sondern freute sich über ihre Zuwendung. Ihr Leben veränderte sich, weil sich der Sinn dieses Lebens änderte. Ohne dass sie es so gewollt hätte, stockte ihre Karriere, aber durch ihr Fachwissen und die lange Erfahrung war sie für die Firma unverzichtbar, und man ließ sie trotz mangelnden Ehrgeizes in Ruhe. Sie zog in die Stadt, nahm eine ziemlich schicke Wohnung nahe des Zentrum, ganz oben mit einer Dachterrasse, von der aus man auf der einen Seite bis zum Rhein und auf anderen bis zu den ersten Hügeln des Bergischen Landes sehen konnte. Albert wohnte anfangs noch in einem kleinen Appartement in der Altstadt, zog aber nach ein paar Wochen zu ihr, und sie wurden ein Paar, bildeten eine Lebensgemeinschaft.

Er war ein Sonnenmensch, der aufblühte, wenn es hell draußen war, wolkenlos, und in eine Art Kältestarre verfiel, wenn der Herbst kam und es trüb, kalt und dunkel wurde. In dieser Zeit sprach Albert langsamer, bewegte sich träge, war aber nie depressiv. Sie entdeckte die Kraft der Sonne für sich, verbrachte nach Feierabend und bei Sonnenschein jede freie Minute draußen auf der Terrasse und machte mit ihm zum allerersten Mal einen Strandurlaub. Mit seinem alten Volvo reisten sie in vielen langsamen Etappen an die französische Atlantikküste südlich von Arcachon. Jeden Morgen ging er Croissants holen, dann frühstückten sie auf der Terrasse, um anschließend bis mittags an den Strand zu gehen. Dann gingen sie zurück in ihr Ferienhaus. Vor dem Mittagsschlaf liebten sie sich, und gegen drei waren sie dann wieder am Strand. So ging es Tag für Tag, und es tat ihr gut. Albert hatte Unmengen an Jazz auf seinem MP3-Spieler und abends und nachts teilten sie sich oft die Kopfhörer.

Immer noch fuhr sie gern mit dem Zug, beschränkte ihre Leidenschaft aber auf berufliche Reisen. Beinahe jede Woche musste sie nach Frankfurt und buchte dann immer das Abteil direkt über dem Fahrstand im ICE, um bei Tempo 300 nach vorne schauen zu können. Oder auch zu erleben, wie der Zug raste, während selbst die schnellsten Sportwagen auf der Autobahn nebenan aussahen, als ob sie sich in Zeitlupe bewegen würden. Und immer noch gefiel es ihr, wenn der Schnellzug ungebremst durch einen kleinen Bahnhof raste. Albert konnte der Eisenbahn wenig abgewinnen und war überhaupt eher ein Freund der Langsamkeit.

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Musik ist die einzige Macht, die Albert respektiert. Zuhause gab es Hausmusik, Verwandte und Nachbarn machten oft mit. Der Vater spielte die Geige, die Mutter sang, und seime ältere Schwester blies die Querflöte. Albert selbst übernahm den Klavierpart, obwohl er nie wirklich gut war an den Tasten. Später dann der Jazz, den er für den Vater aller modernen Musik hält. Klassik, sagt er immer, war immer die Musik der Reichen. Aber das ist eigentlich nur ein Spruch ohne tiefere Bedeutung. Er hat seine sechs Kinder alle mindestens ein Instrument lernen lassen, und jetzt, wo sie erwachsen sind, sind drei von ihnen hauptberuflich Musiker geworden. Amanda, die älteste Tochter, ist zweite Violinistin am Kammerorchester seiner Heimatstadt, Arno hat einen Abschluss als Percussionist und sucht gerade einen Job. Annemarie ist als Sängerin einer Popband sogar einigermaßen erfolgreich und berühmt. Nur Anton und die Zwillinge haben ganz normale Berufe ergriffem.

Seine Frau starb kurz nach der Geburt der Zwillinge an einem Herzinfarkt. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs zum Markt. Ein Passant beobachtete wie sie stehenblieb, die Füße am Boden, und sich gegen einen Laternenmast lehnte. Dann sackte sie über dem Lenker zusammen. Ein Büdchenbesitzer versuchte noch sie zu reanimieren. Aber der Notarzt, der nur wenige Minuten später kam, konnte nur ihren Tod feststellen. Annemarie wurde nur dreiundvierzig Jahre alt. Sie war seine große Liebe und die einzige Frau in seinem Leben. Albert vermisst sie noch heute. Fast jeden Tag. Die Kinder hat er gemeinsam mit Annemaries Schwester und deren Mann großgezogen. Die hatten einen ziemlich großen Reiterhof am Rande der Stadt und nahmen sie auf. Immer noch hielten Albert und seine Kinder zusammen, sahen sich untereinander so oft es ging und trafen sich mindestens einmal im Monat zu einem gemeinsamen Abendessen auf dem Hof von Lieselotte und Karl.

Die junge Band mit dem viel älteren Gitarristen arbeitet sich durch ein zähes, langsames Stück. Wie ein Lavafluss aus geschmolzenem Zucker. Albert merkt, dass er ganz verkrümmt auf seinem Platz hockt und versucht sich aufzurichten. Das Medikament betäubt das Tier, aber auch bestimmte Bereiche seines Hirns. Außer de Musik nimmt er wenig wahr, schon gar nicht das Publikum, das vor allem aus Leuten seines Alters besteht, vermutlich durchweg pensionierte Lehrer. Im Oberrang, der für Zuschauer gesperrt ist, bläst ein Ventilator künstlichen Nebel auf die Bühne, und er hat das feine Sirren des Propellers im Ohr. Der Schmerz ist weiter nach unten gewandert und pocht etwa da, wo früher sein Blinddarm saß. Das war sein erster Krankenhausaufenthalt, als man ihm dieses überflüssige Stück Innerei entfernt hat. So überflüssig der Blinddarm, so überflüssig war auch die Operation wie sich herausstellte. Dafür brachte die Mandel-OP ihm, da war er zweiundzwanzig, ein Ende ständiger Zahnschmerzen und Entzündungen am Auge. Weil man aber zu lange gezögert hatte, hatte die fast ununterbrochene Iritis soviel Schaden angerichtet, dass er am rechten Auge im Alter von ungefähr vierzig mehrfach operiert werden musste.

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