Letzte Arbeit (4)

Es ist Freitag, und sie hat beschlossen, übers Wochenende nach Frankfurt zu fahren, dort zweimal zu übernachten, um sich die Stadt endlich ein wenig anzuschauen, und dann am Montag dieses ganztägige Meeting bei der Bank zu absolvieren. Albert ist ohnehin ab Mittag unterwegs nach Leverkusen zu diesem Jazz-Konzert, sodass sie deb Abend nicht miteinander verbringen würden. Wie sie überhaupt nicht unbedingt jeden Abend miteinander verbringen müssen. Das ist etwas, was sie an ihm auch schätzt, dass er sie in Ruhe lassen kann und es auch braucht in Ruhe gelassen zu werden. Jörg war da anders, weil er der Ansicht war, Paare hätten gemeinsam aufzutreten. Wann immer sie eingeladen war: Jörg wollte mit. Und wer eine Veranstaltung zu besuchen hatte, bestand er darauf, dass sie ih begleitet. Vermutlich gehörte das zu seinem Statusdenken, dass er als erwachsener Mann nun mal mit einer Frau an seiner Seite anzutreten habe. Gerade in den letzten Jahren wäre sie ein paar Mal gern allein gereist, aber Jörg verstand es, ihr das auszureden oder sich einfach dazwischen zu drängen.

Natürlich hatte sie Albert gefragt, ob er Lust hätte, sie nach Frankfurt zu begleiten. Er hatte mit der Bemerkung abgewinkt, Frankfurt gefalle ihm nicht. Er sei beruflich ein paar Mal dagewesen, aber diese mit Hochhäusern verbaute Stadt habe ihn ziemlich abgestoßen. Außerdem brauche er auch wieder mal eine Portion Jazz. Auch wenn er keine der Bands kenne, die da auftreten würden, so habe er mehr Lust zum Festival zu fahren. Dagegen war nichts einzuwenden.

Jetzt ist es kurz vor acht, und der ICE verlässt den Hauptbahnhof, um mit mäßiger Geschwindigkeit südwärts aus der Stadt zu rollen, am Volksgarten vorbei, durch Eller, unter der Autobahn durch, vorbei an Benrath. Dann nimmt der Zug Fahrt auf, beschleunigt auf knapp 200 Stundenkilometer und wird so durch die Bahnhöfe von Langenfeld und Leverkusten rasen.

***

Zwölf Jahre lagen zwischen seiner letzten OP und der Diagnose. Albert gewöhnte sich daran, dauerhaft gesund zu sein. Er hatte ein Abo in einem Fitness-Studio abgeschlossen, trainerte dreimal die Woche, ging viel zu Fuß und fuhr Fahrrad wann immer möglich. Körperlich ging es ihm blendend, und als er Monika kennenlernte und sich verliebte, war er so glücklich wie selten zuvor. Ein neues Leben schien für ihn zu beginnen mit gerade einmal sechzig Jahren, vorzeitig pensioniert, finanziell gut versorgt, ein Renter, der sich nie langweilen würde. Allein rund um die Musik gab es noch so viel zu entdecken. Reisen würden sie, Essen und Trinken genießen, ja, und auch den Sex wieder entdecken. All das wurde auch Realität. Dann hatte er zum ersten Mal diese schlimmen Magenschmerzen, aber der Hausarzt meinte, es sei bloß ein viraler Infekt, also einfach Magen-Darm, das ginge vorbei.

Albert war trotzdem beunruhigt, denn er hatte sich drei Nächte nacheinander übergeben, etwas dass ihm selbst in seiner wilden Jugend nach schweren Alkoholexzessen nie passiert war. Er verlor in diesen Tagen gut sechs Kilo, die auch nicht wieder kommen würden. Ein paar Wochen später hatte er erneut heftige Bauschmerzen und konnte das Essen nicht bei sich behalten. Und ab dem Winter spürte er nach jeder Mahlzeit einen dumpfen Schmerz an einer Stelle ein Stück unterhalb vom Ende des Brustbeins. Und dann der erste Anfall. Er saß in seinem Musiksessel, den Monika ihm geschenkt hatte, damit er auch in ihrer Wohnung einen ruhigen Platz hatte, an dem er sich aufhalten und Platten hören konnte. Weil sie auf der Couch ein Nickerchen hielt, hatte er Kopfhörer aufgesetzt und hörte obskure Musikanten aus der Cool-Jazz-Ära. Als plötzlich die Bestie in seinem Inneren zu kreischen begann, sich in sein Inneres krallte, zu biss, ganze Fetzen rauszureißen schien. Ein Schmerz der aus der Mitte emporstieg und ihm Nägel ins Schädelhirn trieb bis sich der Körper ergab und er bewusstlos wurde.

Zehn Tage nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, teilte ihm der zuständige Abteilungsarzt beim Nachgespräch die Diagnose mit. Man können sicher etwas ausrichten mit der Chemotherapie, aber die Aussichten seien gering. Er könne sich auch eine Morphinpumpe einsetzen lassen, um selbst nach Bedarf gegen den Schmerz zu arbeiten. Aber Albert hatte abgelehnt und nur um ein passendes Schmerzmittel in Tablettenform gebeten, das er allerdings nur dann einzunehmen gedenke, wenn es gar nicht anders ginge. Monika log er an, er habe da was am Mageneingang, das müsse demnächst mal operiert werden, aber dann sei auch alles wieder okay. Er fühlte sich ungerecht behandelt: vom Schicksal, vom Leben, von dem Gott, an den er nicht glaubte. Er war wütend. Und beschloss, selbst zu entscheiden, wie lange er das aushalten wollte.

Mitte in einem hymnischen, beinahe hysterischen Stück der jungen Truppe schlägt das Tier trotz des Medikaments wieder zu. Albert eilt aus dem Konzertsaal, durchquert das Foyer, raus vor die Tür, runter zum Weg, der auf den Bahnsteig führt, wo die S-Bahnen halten. Die Treppen hinunter, durch den Gang, hoch zum Bahnsteig 5. Er möchte auf Händen und Füßen kriechen, kann sich kaum noch aufrichten. Erreicht die Bahnsteigkante. Hört die Warnung vor dem durchfahrenden Zug. Springt aufs Gleis. Der ICE trifft ihn wie eine große Faust und löscht sein Leben aus.

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