Marianne und ich (4)

An einem verregneten Junimorgen gegen acht Uhr fuhren wir los. Marianne hatte eine Flasche Sekt mitgenommen, und wir tranken abwechselnd. Im Saarland blieben wir liegen. Der Dauerregen hatte die Elektrik lahmgelegt, und der Mechaniker in der Werkstatt in Saarlouis meinte, es sei eine größere Reparatur fällig. Das ginge nicht, wandte ich ein, wir müssten rasch weiter. Er dachte eine Weile nach, griff dann zum Telefon und redete eine Weile in seinem merkwürdigen Dialekt. Also, sagte er, ich kann euch einen Diplomat V8 besorgen, könnt ihr gleich haben. Dafür nehm ich den Ford, und ihr legt 1200 Mark drauf.

Das war die erste Konfrontation mit ihrem Leichtsinn. Klar, sagte sie, und schlug ein. Ich protestierte, weil ich an unsere Reisekasse dachte. Stell dich nicht so an, so kommen wir weiter, und sparen können wir an anderen Sachen. Der große Opel war ein wunderbares Auto: goldfarben mit dunkelbraunem Vinyldach. Am nächsten Tag meldeten wir den Wagen um und fuhren weiter. Leider hatten wir nicht nur mehr als 1000 Mark weniger für unsere Riese; der riesige Motor verbrauchte auch noch deutlich über zwanzig Liter auf einhundert Kilometer. Dazu einen halben Liter Öl.

Im Elsass stiegen wir in einem Gasthof ab und aßen im zugehörigen Sternerestaurant. Bei Beaune war es eine umgebaute Mühle, in der wir ein herrliches, rundes Zimmer mit einem luxuriösen Bad hatten. Bei Montpellier fanden wir ein Schlösschen, in dem man kleine Wohnungen mieten konnten, und blieben drei Nächte. Als wir bei Saint Jean die Grenze überquerten, hatte ich noch knapp achthundert Mark im Brustbeutel. Dann eben anders, meinte sie. Wir übernachteten nur noch im Auto und kauften die billigsten Lebensmittel und den billigsten Wein.

Es gibt einen Karton mit ungefähr zweihundert Polaroids, die sie alle auf dieser Reise geknipst hat. Denn eine Sofortbildkamera hatte sie vor der Abfahrt angeschafft und eine ganze Menge Filme. Man kann nicht sagen, dass das Fotografieren einer ihrer Stärken war. Die meisten Aufnahmen sind belanglos, aber ein gutes Dutzend gibt zumindest mich so wieder, dass ich mich an meine Gefühlswelt in jenen Wochen erinnern kann, eine Mischung aus völliger Losgelöstheit und einer unbestimmten Furcht. War ja ohnehin eher der Sorgenmensch, auf jeden Fall im Vergleich zu ihr, die vor nichts Angst hatte und der Zukunft mit fatalistischem Optimismus entgegensah.

Obwohl sie einen Führerschein hatte, überließ sie das Fahren meistens mir; einige Polaroids zeigen mich im Profil am Lenkrad. Und während ich den schweren Wagen über die dreispurigen Fernstraßen lenkte, erzählte sie mir aus ihrem Leben. Bisher kannte ich nur ihre Erlebnisse in den Jahren als Au-pair und ein bisschen etwas über ihre Familie. Eine ihrer Geschichten kreiste um den Typ, den sie die Liebe ihres Lebens nannte, einen gewissen Christoph, den sie während der Schulzeit kennengelernt hatte. Während er das Jungengymnasium besuchte, war sie an einer katholischen Mädchenschule in der nächstgelegenen Stadt. Jeden Morgen musste sie mit dem Bus ins benachbarte Kaff, dann mit dem Bummelzug in die Stadt und dort wieder mit dem Bus bis zur Schule. Jeden Morgen eine Stunde vierzig Minuten unterwegs. Jeden Morgen pünktlich um zehn nach sechs an der Haltstelle sein. Jeden Morgen um kurz nach fünf aufstehen. Im Sommer wie im Winter.

Christoph bewohnte dagegen ein komfortables Appartement gleich neben dem Gymnasium, also um die Ecke der Nonnenschule. Seine Eltern waren wohlhabend, hatten ihn aber verdonnert, nun endlich sein Abitur zu machen. Sie stellten ihm die Wohnung und ein mehr als angemessenes Taschengeld, drohten aber damit, ihn zu enterben, sollte er die Reifeprüfung nicht schaffen. Sie trafen sich in der Teestube der katholischen Jungen Gemeinde, und sie verliebte sich auf der Stelle. Nach zwei Wochen zog sie zu ihm und sparte sich die fürchterliche Pendelei am Morgen. Sie lebten zusammen wie Mann und Frau. Bis er ihr nach etwa einem Jahr eröffnete, seine Pläne hätten sich geändert. Er wolle nun zur See fahren, habe schon einen Platz in der Marineschule, und in drei Tagen würde er abreisen. Sie könne aber gern wohnen bleiben.

Sie weinte während sie das erzählte. Ich konnte nichts dazu sagen, hatte keine Ahnung, ob und wie ich sie trösten könnte. Jedenfalls schockierte sie dieser Vorfall, sie war damals siebzehn Jahre alt, so sehr, dass sie beschloss, nie wieder irgendwo Wurzeln zu schlagen. Sie brach die Schule ab und trampte in den Süden. Kam bis nach Ibiza, wo sie ein knappes Jahr mit den Hippies in den Höhlen lebte. Ein Foto von Christoph in der Uniform eines Offiziers der Handelsmarine trug sie immer bei sich – ein attraktiver Mann mit einem gewinnenden Lächeln, das auf mich aber immer falsch wirkte.

Wie gesagt: Ich hatte nicht damit gerechnet, Marianne nach dieser einen Nacht kurz vor Weihnachten 1977 wiederzusehen. Am Sonntag ging es mir noch gut, aber schon am Montag vermisste ich sie. Ich kannte nicht einmal ihren Nachnamen, wusste nicht, wohin sie gefahren war. Am Dienstag ging es mir schlecht. Und am Heiligen Abend legte ich nacheinander alle sentimentalen und melancholischen Platten auf und betrank mich fürchterlich. Den ersten Feiertag verlebte ich im Dämmerzustand. Am zweiten Feiertag kompensierte ich mein Leid und brachte die Bude auf Vordermann. Am Freitag ging ich einkaufen.

Um von der Straße zur Wohnungstür zu kommen, waren exakt achtundachtzig Stufen zu überwinden. Ich trug drei Plastiktüten, eine davon gefüllt mit Bierflaschen und einer Pulle vom billigen Wodka. Ich erreichte das vorletzte Podest und ließ ausgerechnet die Tüte mit dem Alkohol fallen. Sie saß auf der obersten Stufe und grinste mich an: Was machst du denn für eine Schweinerei? Vor der Tür standen ein altmodischer Koffer und eine Reisetasche. Da bin ich, sagte sie, ich ziehe jetzt zu dir. Freust du dich?

Wir landeten zuerst auf dem kratzenden Sisalteppich und vögelten, während die Wohnungstür noch offenstand. Dann im Bad im Stehen. Schließlich auf dem Bettsofa. Ohne mir etwas anzuziehen schlich ich ins Treppenhaus und rettete so viel Bier wie möglich. Auch die Schnapsflasche hatte den Sturz aufs Steinholz überlebt. Später holte sie den Rest rein, und ich kochte uns aus allem, was da war, ein mehrgängiges Menü. Zum Schluss aßen wir Götterspeise, für die ich Wodka anstelle von Wasser verwendet hatte. Und, fragte sie noch einmal, freust du dich?

Ja, ich freute mich wahnsinnig, sie wiederzusehen. Ich genoss es, mit ihr Sex zu haben. Und hatte dabei ihre Aussage verdrängt, sie würde nun bei mir einziehen. Hör zu, sagte sie, ich habe in den letzten fünf Tagen meinen Lebensplan geändert. Du wusstest ja gar nicht, dass ich meinen Job zum Ende des Jahres gekündigt habe und meine Wohnung auch. Ich hatte auch gar nicht vor, zurück zu kommen. Wollte bei meiner Mutter bleiben, der es wieder nicht so gut geht. Am Sonntag war noch alles okay. Meine Schwestern kamen mit ihren Männern. Wir hatten einen lustigen Abend. Am Montag begann ich, dich zu vermissen. Am Dienstag ging es mir schlecht. Und am Heiligen Abend betrank ich mich nach dem Gänseessen fürchterlich mit Korn und Bier. Den ersten Feiertag verbrachte ich im Bett mit einem gewaltigen Kater. Und am zweiten Feiertag wurde mir klar, dass ich zu dir wollte. Hier bin ich.

Eigentlich hätten wir beide zwischen den Jahren arbeiten müssen. Aber schon am Montag rief ich ihre Abteilung an und meldete sie krank. Umgekehrt sagte sie Herrn König Bescheid, dass ich krankheitsbedingt nicht kommen könnte. Wir blieben fünf Tage im Bett und erlebten den Jahreswechsel mitten in einem wunderbaren Fick. Zweimal rannte ich rüber zum Supermarkt, mitten im Winter barfuß in Turnhose und mit einem dünnen T-Shirt, ich kaufte dicke Steaks, ein bisschen Salat und vor allem Bier und Schnaps.

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