Kanne Eistee

Weiter auseinander konnten Meinungen kaum liegen als die zwischen Siw und ihm. Der Seminarleiter ordnete eine Pause an, um zu verhindern, dass aus dem Disput ein handfester Streit wurde. Unbeabsichtigt trafen sie sich in der Teeküche oben an der Empore. Sie beobachtete ihn, wie er mit einer Kanne und dem Wasserkocher hantierte.

Er sah zu ihr hinüber. „Weißt du, im Sommer und an den warmen Tagen im Frühjahr und Herbst braue ich mir jeden Tag mindestens eine Kanne Eistee nach eigenem Rezept.“
Siw hatte sich an die Rückwand gelegt und schaute ihm wortlos zu, während er drei Teebeutel aus der Tasche zog.
„Ich nehme zwei Beutel Früchte- und einen Beutel Pfefferminztee auf anderthalb Liter Wasser.“
Er band die Teebeutel an einen Löffel, den er quer über die Öffnung der Kanne legte.
„Das Wasser muss heiß sein, sollte aber nicht mehr kochen.“

Sie fand das affig. Mit heißem Wasser, dachte sie, mach ich mir einen Nescafé, oder ich gieß mir eine Fünf-Minuten-Terrine auf. Tee mochte Siw ohnehin nicht.
Er hatte so viel heißes Wasser in die Kanne gegeben, dass die Teebeutel eben nass wurden. „Mindestens zwölf Minten ziehen lassen“, sagte er und stellte den Timer an seiner Smartwatch aus.

„Magst du mal für mich nachsehen, ob es im Kühlschrank Eiswürfel gibt?“
Im Eisfach fand sie einen vollen Eiswürfelbehälter und leerte ihn in eine Schüssel, die neben dem Herd stand.
„Danke. So müssten wir noch warten, bis der Tee ganz und gar abgekühlt ist.“

Hält er mich für blöd, dachte Siw. Ich weiß schon, wozu Eiswürfel gut sind.
„Ich wollte dich vorhin im Seminar nicht persönlich angreifen“, sagte er.
Sie reagierte nicht.
„War überrascht, wie weit auseinander unsere Meinungen lagen.“
Siw nickte. Dann standen sie schweigend an der Küchentheke.

„So“, sagte er, „fertig. Jetzt geb ich die Eiswürfel hinein und fülle mit kaltem Wasser auf.“
Sieht aus wie ein leichter Rotwein, dachte Siw und entschied, dass die zum Abendessen Rotwein bestellen würde.
„Und nun der Saft einer halben Zitrone.“ In einem Drahtkorb lagen Orangen, Limetten und auch Zitronen. Er griff eine davon und zog ein Messer aus der Hosentasche.

„Ein echtes Laguiole, begleitet mich schon seit vielen Jahren. Hab ich in meiner Zeit in Montpellier gekauft. Wird immer bestaunt, wenn ich es im Steakhaus heraushole und damit das Fleisch schneide.“
Sie verdrehte die Augen: Will er mir jetzt sein Leben erzählen? Ich mag ihn einfach nicht, dachte Siw, egal, welche Meinung er vertritt.
Er hatte inzwischen die Zitrone halbiert und presste den Saft einer Hälfte in den Tee.
„Und jetzt noch süßen. Ich nehm immer fünf Stück Süßstoff. Aber das ist Geschmacksache…“

Sie war ein paar Schritte zur Seite gegangen, lehnte auf dem Geländer und blickte hinunter in den Seminarraum, der sich langsam mit den Teilnehmern füllte. Eine schöne Frau, dachte er, wenn sie nur nicht so biestig wäre. Und nicht nur schön, sondern sehr schlau. Hat richtig Ahnung, und eigentlich liegt sie mit ihrer Position auch richtig.
„Magst du probieren?“ Er reicht ihr ein gefülltes Glas, und sie trinkt in langen Schlucken.
Echt lecker, denkt sie. Eigentlich ein ziemlich attraktives Kerlchen. Wenn er nicht so ein Klugscheißer wäre.

Der Seminarleiter eröffnete die Fortsetzung der Session, und er meldet sich: „Ich würde gern noch einmal Stellung zu unserer Diskussion vor der Pause nehmen.“
Er räuspert sich: „Siw und ich haben in der Pause miteinander gesprochen. Und ich muss sagen: Sie hat mich überzeugt. Ich ziehe meinen Debattenbeitrag zurück.“