Katarakt

Eines Tages kletterte Moritz dann doch die Leiter an der Rutsche auf dem Spielplatz hinauf, vierzehn Sprossen. Als er oben angekommen war und auf dem Absatz stand, begann es seinen Waden zu kribbeln und sein Skrotum zog sich zusammen. Da war er vier Jahre alt. Ihm wurde schwindlig, und er bekam keine Luft mehr. Beim Sturz in die Sandgrube brach er sich den rechten Fuß, und es dauerte acht Wochen bis er wieder richtig gehen konnte. Zweiundzwanzig Jahre später lernte er Sara kennen und verliebte sich sofort in sie. Für dich würde ich alles tun, sagte er eines Tages. Ihr gefiel der schüchterne Mann mit den langen dunklen Haaren und den kleinen zärtliche Händen sehr, also wurden sie ein Paar. Dann wurden beide berufstätig, und ihr gemeinsames Leben verlief in ruhigen Bahnen.

Während er in der Freizeit gern las und für sich oder für sie Klavier spielte, hatte sie den Sport für sich entdeckt, ging joggen, fuhr viel Rad und ging klettern in der Boulder-Halle. Irgendwann gelang es ihr, Moritz für das Wandern zu begeistern. Auch wenn er nicht der sportliche Typ war, verfügte er doch über Ausdauer und legte mit ihr gemeinsam große Strecken zurück in den Wäldern der Umgebung. Er bevorzugte das gleichmäßige Tempo und regelmäßige Pausen, während sie eher darauf achtete, körperliche Leistungen zu erbringen, an ihre Grenzen zu gehen. Dies entsprach auch der Art und Weise, auf die sie Sex miteinander hatten. Wir ergänzen uns so gut, sagte Sara oft, und Moritz nickte.

Also reisten sie im Sommerurlaub ihres achten gemeinsamen Jahres ins Mittelgebirge mit dem Plan, die ganze Strecke von H. bis F. zu Fuß zurückzulegen. Sie waren es gewohnt, jede Nacht dicht beieinander zu schlafen. Deshalb machte es beiden nichts aus, unterwegs im kleinen Wurfzelt zu übernachten, gemeinsam in einem Schlafsack auf nur einer Isomatte. Überhaupt hatten sie das Gepäck auf ein Minimum reduziert und verließen sich ganz auf die Wirtshäuser und Hütten an der Strecke, um ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen, vermieden es aber, woanders zu nächtigen als in ihrem Zelt.

Während sie wanderten sprachen sie nur wenig. Aber abends saßen sie auf dem Boden, tranken Tee und erzählten sich gegenseitig, was ihnen jeweils unterwegs aufgefallen war und worüber sie nachgedacht hatten. Bei B. kamen sie in felsiges Gebiet. Nun ging Sara voraus, besonders wenn der Pfad schmal wurde und anstieg. An diesem Tag erreichten sie ein hochgelegenes Tal mit steil aufragenden, gering bewachsenen Felsen, durch das ein sanfter Bach floss. Moritz hatte anhand der Karte festgestellt, dass sie dieses Tal bis ganz bis zu seinem Ende durchqueren mussten, weil es dort eine Schlucht gab, durch die ein Weg zum nächsten Ort führte.

Anfangs wanderte sie am rechten Ufer entlang, aber dann mussten sie die Seite wechseln, weil das Gestein hier bis in den Bach abfielen. Aber auch das linke Ufer war nach einer Weile nicht passierbar. Sie legten eine Rast ein auf einem runden Stein. Der Himmel war nur noch ein schmaler blauer Streifen zwischen den schroffen, nackten Felsen. Sie entschieden, im Bachbett weiter zu gehen, zogen die Schuhe und die Hosen aus, sicherten das Gepäck und schnitten sich Stöcke als Gehhilfen. Je enger das Tal wurde, desto schmaler wurde das Gewässer, und die Gegenströmung nahm zu. Sie kamen immer langsamer voran, mussten nun vorsichtig durch das hüfthohe Wasser gehen.

Gegen fünf standen sie einem massiven Felsen gegenüber, der wie eine Staumauer im Bach aufragte, sicher fast zwei Meter hoch. Über seine Kante stürzte das Wasser gleichmäßig in den Fluss. Sara und Moritz war klar, dass sie nicht umkehren konnten, dass sie den Katarakt überwinden mussten, um einen Platz für die Nacht vor Einbruch der Dunkelheit zu finden. Wir schaffen das, sagte Sara als sie sein Gesicht sah, seine Panik, seine Furcht. Vor der natürlichen Mauer hatte das Wasser ein tiefes Becken ausgewaschen. Sie fanden einen schmalen Absatz am Ufer, wo sie ihr Gepäck lagern konnten. Dann zog sie sich bis auf die Unterhose aus und watete hin zum Wasserfall, dessen Geräusch die Luft im engen Felsental vielfach verstärkt erfüllte.

Es dauerte gut zehn Minuten bis sie einen Kletterpfad am äußeren Rand des Felsens gefunden hatte und sich Hand für Hand und Fuß für Fuß hinauf gearbeitet hatte. Bring unsere Sachen her! rief sie. Moritz fand ein paar Meter bachabwärts einen Baum, schnitt einen Ast ab, sodass er einen gut zwei Meter langen Stock mit einer Astgabel am Ende hatte. Daran befestigte er den einen Rucksack und watete zum Katarakt. Mit äußerster Kraft stemmte er das Gepäck aufwärts, sodass Sara es entgegennehmen konnte. Das gelang auch mit dem zweiten Rucksack. Und jetzt du, rief Sara.

Da stand er mit seiner Höhenangst im kalten Wasser und wusste, er würde seine Furcht überwinden müssen. Sara wies ihn den Weg zum Einstieg in den Pfad aus Steinvorsprüngen und Vertiefungen. Warte, sagte sie noch. Sie fand einen seiner Kapuzenpullover und schnitt ihn in zwei Hälften, die sie zusammenknotete, sodass eine Art Seil entstand. Ein Ende warf sie ihm zu: Ich halte dich! Greif den Stoff immer mit einer Hand und nutz die andere, um Halt am Fels zu finden. Ich ziehe dich vorsichtig hoch. Moritz blieb keine Wahl als sich auf sie zu verlassen. So setzte er einen Fuß auf die erste Stufe. Seine Waden begannen zu kribbeln, und sein Skrotum zog sich zusammen. Er bekam kaum noch Luft, ihm wurde schwindelig. Sara hörte nicht auf, mit ihm zu reden, gab ihm Anweisungen, wo er sich festhalten, wohin er seine Füße setzen konnte.

Auf halber Höhe ergriff ihn Todesangst. Er war gelähmt, konnte weder hinauf, noch hinab. Er brauchte mehr als diesen Pullover, er brauchte ihre Hand. Sara lag flach im Wasser, den Kopf und die Hände über der Kante. Sie streckte den Arm aus, aber er konnte den Griff nicht lösen. Aber dann wandte er ihr sein Gesicht zu und sah die Sicherheit in ihren Augen. Zwei Schritte noch, dann konnte er ihre Hand greifen, und plötzlich wurde alles ganz einfach. Das Tal weitete sich an dieser Stelle, das Ufer wurde breiter. Vier-, fünfhundert Meter weiter fanden sie eine Lichtung, die für ihr Zelt und eine Feuerstelle ausreichte und schlugen ihr Nachtlager auf. Vier Jahre später durchquerten sie die Alpen zwischen W. und M. zu Fuß und erstiegen dabei insgesamt sieben Gipfel.

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