Auf Kunst hatte Hauptkommissar Greiper überhaupt keine Lust. Mangels Tötungsdelikten hatte ihn die Vorgesetzte an die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität ausgeliehen. Und die hatten ihn auf eine Kunstmesse nach Basel geschickt. Immerhin eine Stadt, die er mochte, nachdem er vor vielen Jahren dort einmal den Morgestraich miterlebt hatte.
Sein Freund Heinz hatte ihn eingeladen, und so standen sie morgens um vier am Straßenrand in völliger Dunkelheit, denn wie jedes Jahr hatte man die Beleuchtung ausgeschaltet, und auch die Bürger hielten sich an die Verdunkelung. Und dann war der Zug der Fasnachtscliquen vorbeigezogen. Maskierte mit Laternen auf den Köpfen, schrille Piccoloflöten zu dumpfen Trommeln. Von innen beleuchtete Motivbilder. Beeindruckend und verstörend zugleich.
Aber lange nicht so verstörend wie die alemannische Fastnacht in Elzach, zu der Heinz ihn auch mitgenommen hatte. Männer in roten Zottelanzügen mit schweren Holzlarven auf den Köpfen, bewaffnet mit luftgefüllten Schweinsblasen, mit denen sie nach den Zuschauern schlugen und es besonders auf junge Frauen abgesehen hatten. Die Narren, erklärte Heinz, würden die Masken in der Öffentlichkeit die gesamte Fastnacht tragen, und viele hätten mehrere davon, die sie auswechseln würden, um unerkannt zu bleiben.
Greiper kam es gefährlich vor: Männer außer Rand und Band bei völliger Dunkelheit, und dazu bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und maskiert. Was da alles passieren könnte. Ja, hatte Heinz gesagt, früher sei es gerade in Elzach nicht selten zu Vergewaltigungen gekommen, da hätten die jungen Männer sich an den Frauen vergangen, die sie gerne gehabt hätten, aber nicht kriegen können.
Jetzt im Frühsommer strahlte Basel nichts Gefährliches aus. Schon gar nicht auf dem Messegelände mit den kultivierten Menschen, die unterwegs waren, für sich oder im Auftrag irgendwelcher reicher Leute Kunstwerke zu kaufen. Dazwischen mehr oder weniger junge Künstler, die sich potenziellen Käufern und Galeristen präsentieren wollten. Robert Greiper hatte sich selten so fremd gefühlt wie hier. Er sollte undercover Aussteller identifizieren, die Anteile an mehr oder weniger legalen Fonds anboten, die Eigentumsrechte an irgendwo in zollfreien Hallen gelagerte Kunst darstellten. Beides Dinge, von denen der Hauptkommissar keine Ahnung hatte. Er schlenderte also durch die Hallen, ohne seine Aufgabe allzu ernst zu nehmen und hatte seinen Spaß an den Anwesenden, die durch ausgefallene Kleidung oder gar Performances auf sich aufmerksam machen wollten.
Und dann kam ihm mit verzögertem Schritt eine Gestalt entgegen, bekleidet mit einem Overall mit rotem Zotteln, dazu weiße Handschuhe und auf dem Kopf eine Art Helm. Die Vorderseite schien ein digitales Display zu sein, und auf dem war ein menschliches Gesicht zu erkennen. Bewegt und fotorealistisch. Als die Person näherkam, erkannte Greiper, dass es sein Gesicht war. Es war, als blickte er in einen Spiegel.
Das Wesen im Zottelkostüm steuerte genau auf ihn zu und stoppte. Greiper sah an der Spitze des Helms eine rundliche Erhebung, aus der ihn ein schwaches Licht anstrahlte. Der Verkleidete holte etwas aus einer Tasche des roten Overalls und übergab dem Kommissar eine Visitenkarte. Dann deutete er eine Verbeugung an und ging weiter. Leon Schuttig, stand auf der Karte. Und: Digital Artwork. Dazu die Mailadresse leon@schuttig.com und eine Mobilnummer mit deutscher Vorwahl.
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So zynisch, sich über das Massaker in der Kunstakademie zu freuen, war Hauptkommissar Robert Greiper dann doch nicht. Immerhin brachte ihn das fürchterliche Gemetzel wieder an seinen angestammten Arbeitsplatz in der Mordkommission. Drei Studentinnen hatte der Täter oder die Täterin angegriffen, nur eine konnte schwerverletzt entkommen. Hätte sich der An-schlag nicht in den Semesterferien ereignet, wären möglicherweise viel mehr Opfer zu beklagen gewesen.
Greiper war kurz nach den Beamten der Bereitschaftspolizei vor Ort eingetroffen. Zwei Tote fand man vor dem Eingang zur Aula. Das dritte Opfer auf demselben Gang gut zehn Meter entfernt. Die Überlebende lag auf den Stufen des zentralen Treppenhauses in ihrem Blut, nicht bei Bewusstsein, nicht ansprechbar. Der Notarzt war innerhalb von kaum zehn Minuten da. Man versorgte die schwerverletzte junge Frau und brachte sie in die Uniklinik, wo man sie in ein künstliches Koma versetzte.
Dann kam die Spurensicherung, begleitet von der diensthabenden Gerichtsmedizinerin, die sich schon nach einer flüchtigen Begutachtung der Leichen über die Todesursache sicher war. „Jeweils nur ein Stich in die Herzgegend mit einer außergewöhnlich schweren Waffe, vielleicht einem Kochmesser oder einem Bowie-Knife“, erklärte sie dem Ermittler und ergänzte: „Der Täter muss seinem jeweiligen Opfer sehr nahegekommen sein. In allen drei Fällen habe ich eine massive Austrittsöffnung am Rücken gefunden. Außerdem haben sie dem Killer direkt gegenübergestanden und sich im Moment der Tat nicht abgewendet.“
Da war Hauptkommissar Greiper schon auf dem Weg zur Pförtnerloge. „Hat jemand das Gebäude verlassen, nachdem Sie die Polizei gerufen haben?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Gibt es mehrere Ausgänge?“ Der Pförtner hatte seinen Glaskasten verlassen und sagte: „Nicht in den Semesterferien. Aus Sicherheitsgründen. Alles verschlossen. Auch die Mensa im Keller.“ – „Seit wann sind Sie im Dienst?“ – „Hab um neun aufgeschlossen.“ – „Und dann sind wie viele Leute reingekommen?“ – „Hab ne Strichliste. Moment.“ Und ging wieder zurück in die Pförtnerloge. „Zwölf Personen. Alles Mädchen.“ – „Und sonst ist niemand im Haus?“ – „Doch. Der Professor Hecker. Aber der ist sowieso fast immer hier. Der wohnt ja in seinem Atelier.“ – „Haben Sie den heute schon gesehen?“ Der Pförtner schüttelte den Kopf. „Na dann“, sagte Greiper, „wollen wir das Gebäude mal durchsuchen. Und wo finde ich den Professor?“ – „Raum 96“, sagte der Mann im Glaskasten, „aber der macht nicht auf, wenn jemand klopft.“ – „Kann man den anrufen?“ Der Angesprochene nickte. „Dann machen Sie das bitte mal und sagen, dass die Polizei ihn sprechen möchte. Und geben Sie meinem Kollegen bitte einen Generalschlüssel für die Durchsuchung.“
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Das Atelier von Professor Johannes Hecker, Raum 96 der Kunstakademie, fand Greiper in der zweiten Etage, nur drei Türen entfernt vom Eingang zur Aula. Er klopfte. Keine Reaktion. Schlug gegen die Tür und rief „Öffnen Sie! Polizei!“ Nach einer Weile hörte er von innen: „Moment!“ Es dauerte noch einmal ein paar Minuten, bis er den Schlüssel im Schloss hörte und die Tür sich öffnete. Der Professor erschien ihm viel jünger zu sein als erwartet. Ein schlanker Mann, kaum größer als er selbst. Schwarze Hose, schwarzes Hemd und rote Sneakers an den Füßen. „Ja, bitte?“ Der Hauptkommissar hielt ihm seine Visitenkarte hin: „Greiper, Mordkommission. Professor Hecker?“ – „Der bin ich“, sagte der Mann. – „Ich möchte Sie sprechen.“ – „Worum geht’s?“ – „Sie haben nicht mitbekommen, was sich Vormittag hier in der Akademie ereignet hat?“ – „Nein, ich habe gearbeitet. Sehr konzentriert.“
Also schilderte Greiper kurz und knapp das Massaker an den drei Studentinnen. „Das hat sich beinahe direkt vor Ihrer Tür abgespielt.“ Der Professor zeigte sich wenig schockiert und sagte nur: „Ich trage Kopfhörer bei der Arbeit.“ Und: „Kommen Sie doch herein.“ Der Künstler ging vor, und der Kommissar betrat einen hohen Raum mit zwei ebenfalls hohen Fenstern, vor denen sich ein heller Vorhang sanft im Wind bewegte. Mehrere Arbeitstische, darauf ein halbes Dutzend Flachbildschirme, Tastaturen, Computermäuse und vier, fünf tragbare Computer verschiedener Größe. Auf einem Tisch ein Haufen Platinen und elektronische Bauteile, deren Zweck Greiper nicht erkannte. Kabel verliefen kreuz und quer durch den Raum.
„Das ist mein Labor“, sagte Hecker, „ich mache digitale Kunst, Digital Artwork, wie man heute sagt.“ Er deutete auf einen Bildschirm, auf dem sich Hunderte virtueller Figuren in Zeitraffer durch ein dunkles Labyrinth bewegten. Aus der Nähe erkannte der Kommissar Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, manche gehörnt, manche mit Hufen und Schwänzen. „Teil meines aktuellen Projekts. Ich nenne es ‚Narrenzug‘. Interessieren Sie sich für Kunst?“ – „Nein“, brummte der Ermittler, „überhaupt nicht.“ So wie der spricht, dachte Greiper, erinnert der mich an meinen Freund Heinz und seinen badischen Singsang.
„Der Pförtner sagt, Sie wohnen hier.“ Der Professor nickte: „Kann man so sagen. Das Atelier ist ja groß genug.“ Er deutete auf die Seite des Raums, der durch einen schweren Theatervorhang abgeteilt war: „Mein Heim.“ – „Darf ich?“, fragte der Kommissar, und trat, ohne die Antwort abzuwarten, durch einen Spalt in den abgeteilten Wohnraum. Wirkte die andere Hälfte des Ateliers mit ihren weißen Wänden, den hellen Möbeln mit den Metallbeinen und der ganzen Technik tatsächlich wie ein Labor, stand er nun in einer Höhle, beleuchtet von schwachen Lampen, ausgelegt mit rotbraunem Orientteppich. Darauf zwei üppige schwarze Sofas und ein passender Sessel.
Aber dann bemerkte er an der Wand eine Sammlung hölzerner Masken wie er sie damals in Basel und bei der alemannischen Fasnacht gesehen hatte. „Auch Ihre Kunst?“ Hecker schüttelte den Kopf: „Familienerbstücke. Ich komm ja aus dem Schwarzwald. Da trägt man diese Narrenmasken zur Fasnacht. Da links, das ist ein Bartschuttig, den hat mein Ur-Großvater Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus Lindenholz geschnitzt. Und daneben ein Rägemolli, der meinem Onkel gehörte.“ Greiper nickte, sah sich um und entdeckte einen dunkelroten Zottelanzug an einem Kleiderständer. „Sie nennen sich Leon Schuttig, richtig?“
Der Professor erschrak: „Wie kommen Sie darauf? Woher wissen Sie das?“ – „Tja, wir sind uns neulich auf der Art Basel begegnet. Sie haben mich ein bisschen erschreckt mit Ihrem Helm.“ Hecker hatte ihn am Arm gefasst und wieder in sein Labor geschoben. „Können wir jetzt mit dem Verhör beginnen?“ – „Kein Verhör. Wollte nur wissen, ob Sie heute etwas mitbekommen haben. Oder ob Sie sich denken können, wer diese schreckliche Sache angerichtet hat.“ Greipers Blick fiel auf ein Regal in der Ecke, in dem ein halbes Dutzend Helme verschiedener Größe und Farbe lagen. „Ach“, sprach er den Künstler direkt an, „können Sie das nochmal für mich machen, diesen Trick mit dem Display?“
Professor Johannes Hecker ignorierte die Frage. „Wie gesagt, ich habe nichts mitbekommen? Und, nein, habe keine Ahnung, wer da Amok gelaufen ist.“ Er öffnete die Tür, um den Polizeibeamten loszuwerden. „Noch eine Frage“, imitierte Greiper jetzt Inspektor Columbo, „alle Opfer waren Frauen. Sind ja wohl mehrheitlich Studentinnen hier in der Akademie. Haben Sie auch Frauen in Ihrer Klasse?“ Der Künstler starrte den Kommissar an: „Nur so viele wie ich muss. Quotenregel. Mir sind das zu viele. Vor allem aus Asien. Mir ist die europäische Kultur wichtig. Aber als weißer deutscher Mann hat man ja am Kunstmarkt kaum noch Chancen. Die Mädels machen ihren gefälligen Mainstream-Kram und werden gefeiert. Ach, lassen wir das…“
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Der Einsatzleiter brachte Greiper in den kleinen Hörsaal im Erdgeschoss, wo schon die eingesammelten Studentinnen in unterschiedlichen Zuständen der Hysterie warteten. „Meine Damen“, begann der Kommissar, „ich möchte Sie fragen, ob sie etwas bemerkt haben.“ Diejenigen, die ihn verstanden, schüttelten die Köpfe. Eine kleine Frau mit asiatischen Gesichtszügen flüsterte nur: „I was at work.“ Nur eine Studentin saß einigermaßen entspannt in der ersten Reihe. „Und Sie?“ – Die Angesprochene trug die Haare kurzgeschoren, hatte einen Overall an, dazu eine Schweißerbrille wie ein Stirnband. „War in der Metallwerkstatt beim Schweißen. Da ist es laut, da hört man nichts.“
Auch die Kolleginnen von der psychologischen Betreuung waren eingetroffen, verteilten Wasserflaschen und redeten leise mit den schockierten Frauen. Die Große in Arbeitskleidung sprach den Kommissar an: „Schon eine Spur? Einen Verdacht?“ – „Nein. Haben Sie einen Moment Zeit?“ Sie nickte. „Sagen Sie, was halten Sie von Professor Hecker?“ Sie blies die Backen auf: „Absoluter Freak. Ziemlich weird. Gibt viele Gerüchte über den. Warum der nur männliche Studenten in der Klasse hat, und so. Lauter Nerds. Heißt, das wären alle Incels.“ – „Incels? Was heißt das?“ – „Unfreiwillig sexuell enthaltsam. Sind voll frauenfeindlich. Meinen, sie hätten ein Recht auf Sex. Haben schon Aktionen dagegen gefahren, dass inzwischen fast 75 Prozent hier Frauen sind.“ Was es nicht alles gibt, dachte Greiper und bedankte sich.
Zehn Tage später war Lea S. aus dem Koma erwacht. Man hatte Hauptkommissar Greiper verständigt, er könne die Überlebende vernehmen. „Wie geht es Ihnen?“ Die junge Frau machte eine vage Handbewegung. „Können Sie schildern, was passiert ist?“ Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und dafür einen missbilligenden Blick des Arztes kassiert. Lea S. sprach leise: „Kam den Gang an der Aula lang. Da bog jemand aus dem Treppenhaus um die Ecke. Ein Wesen in einem roten Kostüm, auf dem Kopf so eine Art Helm. Hab mir erst nichts dabei gedacht. In der Akademie laufen ja immer komische Typen herum. Dann sah ich an der Vorderseite vom Helm einen Bildschirm und darauf ein Gesicht. Wie ein Video. Und als ich ganz dicht vor der Gestalt stehen blieb, erkannte ich, dass es mein eigenes Gesicht war. Als ob ich in einen Spiegel schaute. Erst dann bemerkte ich das große Messer. Drehte mich um und lief los. Er erwischte mich am Rücken. Dann kamen drei Studentinnen auf uns zu. Ich schaffte es bis zur Treppe und stürzte. Mehr weiß ich nicht.“
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Als Hauptkommissar Greiper ihn in seinem Atelier verhaftet, lief auf den Monitoren ein Video. Es zeigte den roten Schuttig, wie er mit einem Helm auf den Kopf im Saal eines Kunstmuseums tanzte.