Familienleben und Arbeitskampf

Der Wecker schellt um 5 Uhr 35. Ester erwacht und steht ohne Zögern auf. Sie trägt ein übergroßes T-Shirt mit Hello Kitty auf der Vorderseite. Die Morgenroutine: Duschen, Kaffee und Müsli. Dann rüber ins Werksschwimmbad, zehn Bahnen. Sie wohnt im Verwaltungsgebäude und fährt nur am Wochenende nach Hause. Anziehen und Make-up. Pünktlich um sieben landet der Helikopter auf dem Parkdeck. Meeting mit dem Vorstand um acht. Als Betriebsratsvorsitzende nimmt Ester Castaño-Kröner regelmäßig an diesen Sitzungen teil. Gerade jetzt in der Krise ist das wichtig. Das Management hat die Schließung von drei Fabriken und die Entlassung von mehr als 5000 Mitarbeitenden angekündigt. [Lesezeit ca. 17 min]

Wir sehen die Familie am Strand, aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Ihr Mann überragt Ester um gut zwei Köpfe. Hager ist er, dünn, leptosom. Mit weißblondem Haar und hellen Wimpern. Er hat den Fotoapparat aufgebaut, den Selbstauslöser gestartet und ist dann schnell zu Ester und den Söhnen gelaufen. Ganz außen sehen wir Ester im schwarzen Einteiler, den sie mit ihren Rundungen perfekt ausfüllt. Sie hat das leicht krause, schwarze Haar im Nacken zusammengebunden. Rechts neben ihr steht Miguel, mit vierzehn Jahren der ältere der beiden Jungs. Die Söhne haben gegensätzliche Merkmale von ihren Eltern geerbt. Der dreizehnjährige Jorge ist jetzt schon größer als sein älterer Bruder, ziemlich stämmig und mit fast weißen Haaren wie sein Vater. Miguel ist dagegen spindeldürr, aber dunkelhaarig.

Roland ist ein ruhiger Typ und als Rentner gerne Hausmann. Bei den hohen Bezügen, die Ester erhält, muss er nichts hinzuverdienen und kann sich um die zwei Söhne, das Haus und den Garten kümmern. Das beruhigt die Betriebsratsvorsitzende, und ihr Heim am Rande der Kleinstadt ist ein sicherer Hafen, in dem sie jetzt, wo es dem Unternehmen so schlecht geht, zur Ruhe kommen kann.

Miguel Castaño, ihr Vater, kam 1964 nach Deutschland. Als seine Frau Maria ihre erste und einzige Tochter geboren hatte, holte er beide nach. Esters Urgroßvater Bieto Castro hat im Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gekämpft und unter Franco acht Jahre im Gefängnis gesessen. Auch Miguel litt unter kleineren und größeren Repressalien der Diktatur. Als gelernter Maschinenschlosser fand er problemlos eine Stelle in der Autofabrik. Im selben Betrieb absolvierte Ester ihre Lehre als Industriemechanikerin. Nach dem Abschluss arbeitete sie am Band.

Wir sehen einen Konferenzraum, am Tisch sieben Personen, darunter die Betriebsratsvorsitzende. Ein großgewachsener Mann im dreiteiligen Anzug steht am Kopfende und führt durch eine Präsentation, die auf das Whiteboard projiziert wird. 1,8 Milliarden will der Vorstand im nächsten Jahr einsparen. Natürlich auf Kosten der Arbeitenden. Noch im Vorjahr hat man 4,2 Milliarden an Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet. Ester Castaño-Kröner ist wütend. Bei den Managern gilt sie als angenehme und pragmatische Verhandlungspartnerin, niemand ahnt, wie sehr sie den menschenfeindlichen Kapitalismus hasst.

Jedes Jahr fährt die Familie nach Galicien, wo Esters Verwandte in der Nähe von La Coruña leben. In der ersten Woche treffen sie die Großeltern, alle Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen und Menschen, von denen Ester nicht weiß, auf welche Weise sie mit ihnen verwandt ist. Immer sind die Tische voller Speisen und Getränke. Alle reden, man lacht und weint auch manchmal. Gegessen wird ununterbrochen, und nach dieser Woche ist die Familie Kröner urlaubsreif.

Sie heiratet jung und bekommt die beiden Söhne im Abstand von anderthalb Jahren. Sie wird SPD-Mitglied wie ihr Mann. Mit zweiundzwanzig schlägt sie den zweiten Bildungsweg ein und meldet sich an der Abendschule an. Zu der Zeit ist Roland noch als freier Handelsvertreter unterwegs, kommt unter der Woche fast nie nachhause und ist manchmal drei Wochen am Stück unterwegs. Ester arbeitet Wechselschichten in der Autofabrik, sodass sie alle zwei Wochen nach Feierabend sofort Unterricht hat. Die Schwiegermutter entlastet sie bei der Kinderbetreuung und im Haushalt. Natürlich ist sie auch der Gewerkschaft beigetreten und nimmt an den Versammlungen der Werksgruppe teil.

Die Betriebsratsvorsitzende ergreift das Wort und spricht aus, was ihre Kolleginnen und Kollegen längst wissen und was inzwischen auch die Medien als Ursache der Krise ausmachen: schwere Managementfehler. Der seit drei Jahren amtierende Vorstandsvorsitzende hat ganz aufs Luxussegment gesetzt und die Modellpalette zu Lasten der Kleinwagen und Mittelklasseautos ausgedünnt. Große Fahrzeuge, so hat er argumentiert, bringen eine bessere Rendite. Dadurch hat das Unternehmen in verschiedenen Märkten seine führende Rolle eingebüßt. In die Entwicklung der großen, teure Autos hat die Firmenleitung viele Milliarden gesteckt, die neuen Modelle kamen zu spät, waren zu teuer und erwiesen sich durchgehend als Flops. Dabei hatte ein Grünen-Politiker einige Jahre zuvor noch gesagt, dass der Konzern im Markt scheitern werde, wenn er 2025 kein E-Mobil für unter 20.000 Euro anbieten kann.

Ester studiert Jura und Betriebswirtschaft. Schließt die Studiengänge an der Fernuni in Rekordzeit und mit Auszeichnung ab. Dann stirbt die Schwiegermutter. Inzwischen ist Ester Vorarbeiterin in der Endmontage, immer noch hat sie zweimal im Monat Nachtschicht. Roland bemüht sich um einen Job, bei dem er nicht mehr reisen muss, findet aber keine passende Stelle. Die Hypothek auf dem Einfamilienhaus frisst große Teile ihres Lohns auf. Dann stellt ein örtliches Logistikunternehmen ihren Mann als Disponenten ein. Die finanzielle Situation entspannt sich.

Der Aufsichtsrat beschließt die Entlassung des Vorstandsvorsitzenden, der insgesamt 3,8 Millionen als Abfindung kassiert. Neuer Firmenchef wird ein Norweger, der als harter Hund gilt und vor allem als jemand, der die Lieferanten bis aufs Blut auspresst. Gespart wird bei den Kosten für Zulieferteile. Außerdem leitet er die Kooperation mit einem kleineren südkoreanischen Hersteller ein mit dem Ziel, gemeinsam preiswerte Familien- und Stadtautos zu entwickeln. 2026 sollen die ersten Modelle auf den Markt kommen.

In beiden Fächern hat sie nun den Bachelor, ein Masterstudiengang in BWL wäre der richtige Weg, aber die finanziellen Verhältnisse der Familie erlauben es nicht, dass Ester weiter studiert. Sie bewirbt sich firmenintern um eine leitende Stelle in der Produktionsplanung. Weil sich intern niemand sonst auf die Ausschreibung meldet, wird sie kommissarische Leiterin der Robotereinsatzplanung. Nie wieder Schichtdienst, jubelt sie. Und das Gehalt ist auch ein wenig höher als beim Job am Band.

Weil die Luxuskarossen sich schlecht verkaufen und die kleineren Modelle noch nicht produktionsreif sind, gerät das Unternehmen in den Fokus von Shortsellern. Massenhafte Leerverkäufe lassen den Kurs sinken. In zwei der fünf Werke in Europa wird Kurzarbeit angeordnet. Der einst größte Autohersteller des Kontinents kündigt sein millionenschweres Sponsoring des Fußballbundesligisten. Die Zuschüsse zum Kantinenessen werden halbiert und die Rabatte, mit denen Neuwagen an Mitarbeitende verkauft werden, drastisch reduziert.

Vor sechzehn Jahren, als die Mitarbeiterrabatte besonders hoch waren, haben die Kröners einen praktischen Familienkombi angeschafft. In der Zeit der Kurzarbeit hat Ester zwei zusätzliche Wochen unbezahlten Urlaub genommen, und sie haben sich auf die Reise nach Spanien gemacht. Frankreich wollten sie kennenlernen, also fahren sie über Nebenstraßen von Ort zu Ort und übernachten in preiswerten Hotels und Herbergen. An der Atlantikküste bei Arcachon bleiben sie ein paar Tage bevor sie Richtung La Coruña aufbrechen. Nie wieder hat Ester einen Wagen mit Rabatt gekauft, und vom Dienstwagen mit Fahrer, der ihr zusteht, macht sie nur im äußersten Notfall Gebrauch. Dafür fliegt sie gern. Im Gegensatz zu den Vorständen hat sie immer der Versuchung widerstanden, einen Firmenjet für private Zwecke zu ordern.

Auf Drängen etlicher Kollegen kandidiert Ester für den Gesamtbetriebsrat und wird mit großem Stimmenanteil gewählt. Entsprechend der Gesetzgebung wird sie freigestellt und entsprechend des geltenden Tarifvertrags bezahlt. Roland kündigt seinen Job und wird Hausmann. Unter den Gewerkschaftern gilt Ester Castaño-Kröner als gemäßigt, und den Respekt der männlichen Kollegen muss sie sich erkämpfen. Zu dieser Zeit beginnt sie damit, die Klassiker der Gewerkschaftsbewegung und des Sozialismus zu lesen. Sie diskutiert oft und heftig mit ihrem Mann, der sich wie viele Sozialdemokraten zum Kapitalismus bekennt und meint, dieses Wirtschaftssystem könne reformiert und menschenfreundlich gemacht werden.

Esters kurzer Vortrag erntet das Schweigen der Vorstandsrunde. Mit Pauschalkritik käme man doch nicht weiter, wirft der Finanzvorstand ein, und die Personalchefin nickt dazu. Man sei schließlich zusammengekommen, so der Vorsitzende, um einen umfassenden Sparvorschlag zu beschließen, der dann dem Aufsichtsrat vorgelegt würde, und an Personalkürzungen führe nun mal kein Weg vorbei. Dass sie dem Konzept auf keinen Fall zustimmen werde, sagt Ester, und kündigt Kampfmaßnahmen an. Der versammelte Vorstand ist empört.

Miguel Castaño, ihr Vater, war Sozialist, seit er denken konnte, und blieb es auch, nachdem er nach Deutschland gekommen war. Hätte es eine kommunistische Partei gegeben, sagte er einmal, wäre er ihr beigetreten, denn die Sozen erschienen ihm zu brav, zu systemkonform. Er hatte seiner Tochter immer wieder erklärt, dass die Welt erst dann gerecht und friedlich werden könnte, wenn das Land den Bauern und die Fabriken den Arbeitern gehören. Ester hatte im Studium die Mechanik der Gewinnerzielung in- und auswendig gelernt und hasst dieses System, das die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.

Draußen warten die Medienvertreter. Während der Vorstandsvorsitzenden einem Journalisten des Privatfernsehens versichert, es herrsche Einigkeit über den zukünftigen Kurs des Unternehmens, spricht Ester in das Mikrofon der Reporterin eines öffentlich-rechtlichen Senders. Sie werde dem Gesamtbetriebsrat vorschlagen, eine Urabstimmung zu organisieren über die Frage, ob gestreikt werden soll. Die organisierte Mitarbeiterschaft werde die Sparpläne des Managements nicht hinnehmen.

Zuhause erklärt sie Roland, dass die Firma nie in diese großen Schwierigkeiten gekommen wäre, hätte der Vorstand auf die Arbeiterinnen und Arbeiter gehört. Nicht nur die gewerkschaftlich organisierten Leute hätten schwere Zweifel an der neuen Modellpolitik geäußert. Die Mitarbeitenden waren sich einig, dass der Erhalt der Marktposition durch eine breite Modellpalette wichtiger sei als hohe Renditen. Und im privaten und vertraulichen Gespräch mit dem entlassenen Vorstandsvorsitzenden hatte Ester gesagt, ein Unternehmen könne sich nicht nur als Profitmaschine für die Aktionäre verstehen, sondern habe eine soziale Verpflichtung gegenüber der Belegschaft. Und der ehemalige Chef hatte ihr zugestimmt.

Vor der letzten Betriebsratswahl hatte es Konflikte gegeben. Gegen den bisherigen Betriebsratsvorsitzenden hatte es Korruptionsvorwürfe gegeben. Als polizeiliche Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden, war er zurückgetreten, hatte aber als Nachfolger einen seiner alten Kumpel vorgeschlagen. Ester war empört und hatte sich als Kampfkandidaten aufstellen lassen. Dass sie mit mehr als 70 Prozent gewählt wurde, galt als Sensation und machte die Medien auf sie aufmerksam. Bald saß sie bei Maischberger und Lanz und galt als Vorzeigegewerkschafterin, ja, als politisches Talent, das es noch weit bringen würde.

Ester hatte sich beim ersten Zusammentreffen mit Roland heftig in ihn verliebt. Da war sie siebzehn und ging jeden Samstag ins Jugendzentrum, wo die gute Musik lief und die Cola billig war. Äußerlich war er gar nicht ihr Typ, aber seine lässige, ruhige Art gefiel ihr. Und sein trockener Humor. Auch Roland war angetan von der spanischen Schönheit. Bei der Silvesterfeier 1986 wurden sie ein Paar, und ein halbes Jahr später war Ester zum ersten Mal schwanger. Sie waren sich einig, schnell zu heiraten, und ihre Eltern stimmten zu. Roland war Vollwaise, bei einer Tante aufgewachsen, und hatte schon mit zweiundzwanzig hatte er eine eigene Wohnung.

Eine Mail liest sie noch im Hubschrauber. Die Kollegen der Lackiererei in Osnabrück haben den Betrieb besetzt und den Werkschef in seinem Büro festgesetzt. Ein wilder Streik, denkt sie, ist das Letzte, was jetzt weiterhilft. Sie lässt sich sofort mit dem Hubschrauber dorthin bringen, um mit den Leuten zu reden, sie zu überzeugen, die illegale Aktion zu beenden. Ihr Postfach füllt sich mit Anfragen von Medienvertretern, die um ihre Stellungnahme bitten. Vor Ort warten schon die Kamerateams auf sie.

Wenn es nach ihr ginge, hatte sie Roland gesagt, als sie sich beim Abendbrot stritten, müsste der ganze Konzern vergesellschaftet werden. Wäre ja auch kein Problem, jetzt, wo das Bundesland mehr als fünfzig Prozent der Anteile hielte. Das, so ihr Ehemann, würde die Politik niemals zulassen. Sie als Betriebsratsvorsitzende, fügte er an, trage Verantwortung und müsse mäßigend auf die Belegschaften einwirken. Sonst käme es zum Chaos. Was denn ein Streik nach den geltenden Gesetzen bringen könnte, hatte Ester gefragt. Und Roland hatte darauf keine Antwort.

Wir sehen Esters jüngsten Sohn im grünen Dress auf dem Fußballplatz. Jorge spielte seit seinem achten Lebensjahr in den Jugendmannschaften des Werksclubs. Seit er mit zwölf Jahren vorzeitig in die U16 geholt wurde, gilt er als herausragendes Talent. Er träumt davon, Profi zu werden, und bemüht sich sehr, schon jetzt wie ein Berufssportler zu leben. Außer der Schule und dem Fußball ist ihm beinahe alles egal. Er hat keine Freunde, nur die Kameraden in der Mannschaft. Ester und Roland unterstützen ihn, haben aber deutlichgemacht, dass die Schule bis zum Abschluss der zehnten Klasse nicht unter dem Sport leiden dürfe. Jorge ist großer Fan von Atlético Madrid, dem Arbeiterverein, für den schon der Großvater und der Ur-Großvater waren, und er träumt davon, später für diesen Club in der Primera Division zu spielen. Der Opa hatte ihm eingebläut, dass alle spanischen Vereine, die das Real im Namen tragen, für sie als Republikaner nicht in Frage kämen.

Im Werk am Rand von Brüssel, das als eines der ersten geschlossen werden soll, sind die Arbeiter ebenfalls in einen Streik getreten. Vor dem Werkstor brennen Barrikaden. Die Polizei ist kurz davor, die Fabrik zu stürmen. Die Besetzer drohen damit, Werksgebäude in Brand zu setzen, sollten die Ordnungskräfte angreifen. Ester sieht die Bilder von den Unruhen auf einem Fernseher im Ü-Wagen des NDR. Deutsche und belgische Politiker halten Reden und fordern dazu auf, friedlich und besonnen zu bleiben. Die Kollegen haben die Betriebsratsvorsitzende ins Werk gelassen. In der Kantine wird erregt diskutiert. Einige Arbeiter beschimpfen sie und sagen, sie würde gemeinsame Sache mit der Unternehmensführung machen. Ester streitet das empört ab. Später tritt sie mit einem Sprecher der Belegschaft vor die Kameras.

Der ältere Sohn ist ein stiller Junge, ein Träumer, einer, der viel liest, der oft stundenlang in seinem Zimmer Gitarre spielt und Comics zeichnet. Miguel ist kein schlechter Schüler, aber nur gut in den Fächern, die ihn interessieren. Er soll das Abitur machen und studieren, finden Roland und Ester. Die Uroma war es, die ihm von den keltischen Wurzeln der Galicier erzählt hat und alte Mythen und Märchen aus der Zeit kannte, in der die Kelten das Land erobert hatten und sich mit den Ureinwohnern mischten. Miguel hat eine Comicfigur entwickelt, die er Boudicca nannte; so habe eine keltische Fürstin geheißen, hatte die Großmutter berichtet, die ihm auch die galicische Sprache beibrachte.

Der Bundeskanzler ruft an. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland ruft die Betriebsratsvorsitzende des einst führenden Autokonzerns der Welt ab. Er duzt Ester, nennt sie Genossin und gibt sich jovial. Was denn das los sein in den Werken. Das ginge ja nun gar nicht. Wenn das Unternehmen den Bach runterginge, habe das schlimme Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes. Ob sie da nicht was machen könne. Sie berichtet, dass sie bereits mit den Anführern der wilden Streiks gesprochen und gefordert habe, die Ausstände sofort zu beenden. Bisher ohne Erfolg. Was er als Kanzler da tun könne. Ja, sagt Ester, er müsse auf das Management einwirken, ihre Sparpläne zurückzunehmen. Das könne er leider nicht, sagt der Kanzler, da gäbe es keine Handhabe. Er verspricht aber, mit der belgischen Regierung Kontakt aufzunehmen, damit die gewalttätigen Aktionen im Brüsseler Werk gestoppt werden.

Wir sehen Ester und Roland im Bett, dicht bei dicht unter einer gemeinsamen Decke. Sie hat immer gern mit ihm geschlafen und tut es immer noch. Anfangs haben sie bei jeder Gelegenheit Sex miteinander gehabt, sicher fünf- oder sechsmal in der Woche. Oft wild wie die Raubkatzen, aber manchmal auch still wie die Echsen im heißen Sand. Jetzt nur noch, wenn sie am Wochenende zuhause ist. Ester ist jetzt Ende fünfzig und einigermaßen gut durch die Wechseljahre gekommen. Ihr Mann ist nur wenig gealtert. Nur seine Körperhaltung ist noch schlechter geworden, und ab und zu quälen ihn Rückenschmerzen. Sie lieben sich immer noch.

Die DGB-Vorsitzende ruft an. Ihr Ton ist schneidend, und sie meint, Ester vorzuwerfen zu müssen, sie habe wohl vergessen, was die Aufgabe der Gewerkschaften in diesen schwierigen Zeiten sei. Fordert, dass Ester energisch gegen die wilden Streiks vorgeht. Ihr sei klar, dass sie als Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats keinen Einfluss auf den Aufstand in Brüssel habe, sich darum zu kümmern, sei Aufgabe der Politik. Aber mit den Ausschreitungen in Osnabrück sei sofort Schluss zu machen. Sie nennt Ester Kollegin, siezt sie aber. Die hört sich alles an, schweigt eine Weile und erklärt dann, dass sie volles Verständnis für die Wut der Arbeiter in der Lackiererei habe, die Kollegen vor Ort aber aufgefordert habe, ihre Aktion sofort zu beenden. Das reiche nicht, antwortet die DGB-Frau, sie habe dem Bundeskanzler versprochen, das dort umgehend Ruhe einkehre. Außerdem unterstütze sie die Sparpläne des Vorstands. Ester legt grußlos auf. Eine halbe später kündigt sie ihre Mitgliedschaft in der IG Metall per Mail.

Ebenfalls per Mail geht wenig später die Kündigung des Konzerns ein. Sie habe sofort ihre Wohnung in der Werksverwaltung zu räumen, außerdem stünden ihr Fahrdienst und sonstige Dienstleistungen, die Betriebsratsvorsitzenden üblicherweise genießen, mit sofortiger Wirkung nicht mehr zur Verfügung. Ester ruft Roland an. Sie brauche seine Hilfe. Was denn los sei, fragt er besorgt und hört sich ihre Schilderung an. Sie solle sofort ein Taxi nehmen und nach Hause kommen, schlägt er vor. Er werden ihren Anwalt verständigen.

Wir sehen ein brennendes Polizeifahrzeug vor dem Brüsseler Werk. Tausende Demonstranten haben sich versammelt und bekunden ihre Solidarität mit den Werktätigen in der Fabrik. Der Arbeiterrat hat dem Konzern ein Ultimatum gestellt und verlangt, der Vorstand solle erklären, dass die Fabrik nicht geschlossen werde. Andernfalls werde man beginnen, die technischen Einrichtungen in den Hallen zu zerstören. Die Polizei hat Wasserwerfer und Räumpanzer aufgefahren. Auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes weht die rote Fahne. Und dann gibt es den ersten Toten. Aus einem Bus der Ordnungskräfte heraus wird ein junger Mann erschossen, der mit einem Feuerlöscher in der Hand auf das Fahrzeug zugelaufen ist. Gleichzeitig lösen die Polizeikräfte die Demonstration vor dem Werkstor mit Gewalt auf. Molotow-Cocktails fliegen, und ein Bulldozer hebt das Werkstor aus den Angeln.

Auf welcher Seite stehst du? hätte ihr Vater gefragt. Ester sitzt am Küchentisch mit Roland und dem Anwalt zusammen. Auch der hat sich ihren Bericht angehört und Notizen gemacht. Er werde umgehend Eilklage gegen ihre Entlassung einlegen und eine einstweilige Verfügung erwirken. Kaum ist der Jurist weg, nimmt Roland seine Frau in den Arm. Lohnt sich das alles? fragt er. Dann sehen sie im Fernsehen, dass auch die Kollegen in der Produktion im Saarland die Arbeit niedergelegt und die Werksleitung davongejagt hat. Fast alle Abteilungsleiter und Hallenmeister haben sich auf die Seite der Arbeiter gestellt. Sie haben einen Rat gebildet. Der hat eine Presseerklärung abgegeben, dass die Belegschaft den Betrieb übernommen hat und die Fertigung störungsfrei weiterläuft. Sie erklären das Werk für enteignet.

Wir sehen Ester vier Jahre zuvor bei den Feierlichkeiten zum fünfundsiebzigsten Jubiläum des Unternehmens. Sie trägt einen roten Hosenanzug, wie sie ohnehin fast immer in Rot gekleidet ist. Dafür ist sie berühmt, das hat ihr die Beachtung der Medien eingetragen, die sie die rote Ester nennen. Sie steht mit den Vorständen und dem Aufsichtsrat auf der Bühne vor einem Kammerorchester und fühlt sich nicht wohl in dieser Situation. Später tanzt sie mit Kollegen in der großen Kantine, wo eine Liveband spielt. Die Stimmung ist hervorragend, allen Mitarbeitenden geht es gut. Der Konzern zahlt immer noch überdurchschnittlich und gönnt der Belegschaft viele Sonderleistungen. Niemand kann sich vorstellen, dass es der Firma schon bald schlecht gehen wird. Wo doch das erste Elektroauto des Unternehmens von der Fachpresse mit Wohlwollen aufgenommen wurde.

Jetzt ruft der Ministerpräsident an. Der Ministerpräsident des Landes, das 49 Prozent der Aktien des Konzerns hält, ruft die Betriebsratsvorsitzende an. Er ist in derselben Partei, und sie kennen sich von diversen öffentlichen Anlässen. Der Mann, Offizier der Reserve, ein schneidiger Typ und gerüchteweise regelmäßig in außereheliche Affären verwickelt, hat ein-, zweimal heftig mit Ester geflirtet. Die Versuche hat sie jeweils recht schnell unterbunden. Der Ministerpräsident ist ihr ausgesprochen unsympathisch. Er bellt am Telefon, was denn da los sei im Hauptwerk, in Osnabrück und im Saarland. Da müsse sie doch einschreiten. Ob ihr nicht klar sei, dass die Krise des Konzerns zulasten seines – er sagt tatsächlich seines – Landes gehe und dass darunter die gesamte Bevölkerung zu leiden habe. Sie wolle doch sicher auch, dass es allen Bürgern gut gehe. Nein, sagt Ester sehr klar, nicht allen, vor allem nicht den Investoren, also den ohnehin reichen Leuten, die noch im vergangenen Jahr 4,2 Milliarden Dividende eingestrichen haben, als großen Teilen der Belegschaft schon klar war, dass die massiven Managementfehler zu einer schweren Krise führen würde. Sie wolle, und dies nicht nur in ihrer Eigenschaft als Betriebsrätin, dass es vor allem den Arbeitern und ihren Familien gut geht. Sie hört den Ministerpräsidenten schnaufen und kann sich sein verbissenes Gesicht mit den zusammengepressten Kiefern und den mahlenden Wangenmuskeln gut vorstellen. Die einzige Lösung sei ihrer Ansicht nach, dass der Ministerpräsident anordne, die Anteile des Landes drastisch zu erhöhen. Und zwar so sehr, dass die Landesregierung den Aufsichtsrat beherrscht, den Vorstand rauswirft und die Sparpläne zurücknimmt. Sie wollen, dass wir den Konzern vergesellschaften? blafft der Mann. Sind Sie Kommunistin? Stehen Sie überhaupt auf dem Boden des Grundgesetzes? Genau dort, antwortet Ester, und zitiert den Artikel 14, in dem die Enteignung zum Wohl der Allgemeinheit zulässig ist. Der Ministerpräsident legt grußlos auf.

Wir sehen Ester und Roland vor Jahren beim Notar, wo sie den Kaufvertrag für ihr Häuschen unterschreiben. Noch nie hat jemand in ihrer Familie ein Haus besessen. Der Bausparvertrag und ein großzügiges Darlehen des Unternehmens zu einem äußerst geringen Zinssatz haben den Kauf möglich gemacht. Ihr zukünftiges Eigenheim liegt etwas außerhalb einer Kleinstadt zwischen der Landeshauptstadt und dem Hauptwerk. Ester wird anfangs täglich mit dem Zug zur Arbeit fahren. Eine knappe Stunde braucht der Regionalexpress für die Strecke. Nur wenn sie zweimal im Monat Spätschicht hat, nimmt sie das Auto. Von einem lieben, alten Kollegen hat sie günstig einen Kleinwagen zu diesem Zweck erworben. Die Söhne, damals acht und neun Jahre alt, sind natürlich nicht begeistert, umziehen zu müssen, aber es wird sich zeigen, dass sie sich schnell an die neue Umgebung und die neue Schule gewöhnen.

Jetzt melden die Medien, dass die Mitarbeitenden der Montage im Hauptwerk in einen Warnstreik getreten sind und sich so mit den Kollegen in Osnabrück und im Saarland solidarisieren. Die Aktionen der Leute im Brüsseler Werk lehnen sie wegen der dort angewendeten Gewalt ausdrücklich ab. Zwei Stunden später legen auch die Arbeiter im Karosseriebau vorübergehend die Arbeit nieder. Die Unternehmensleitung schweigt dazu, und die Sprecherin des Konzerns ist für Medienvertreter nicht erreichbar. Eine Mail geht bei Ester ein. Das Arbeitsgericht im Firmensitz hat eine einstweilige Verfügung erlassen, nach der ihre Kündigung mindestens bis zum Gütetermin unwirksam ist.

Wir sehen einen Zeitungsbericht mit einem Foto des Todesopfers. Der 21-jährige Danny Haag trägt das schwarzweiß gestreifte Trikot des Erstligisten seiner Heimatstadt Charleroi. Bernard Haag, sein Urgroßvater, war einer der Arbeiterführer beim Bergarbeiterstreik in der Borinage von 1932, der sich zum Generalstreik ausweitete. Bernards Enkel Raymond saß in den Achtzigerjahren für die Parti Communiste im belgischen Parlament. Jacky Haag, Dannys Vater, fand nach langer Arbeitslosigkeit eine Stelle im Kanalhafen von Charleroi und zog mit seiner jungen Familie aus Mons dorthin.

Die Situation in Brüssel eskaliert. Mehr als zehntausend linke Aktivisten aus ganz Europa haben sich vor Ort versammelt und liefern sich Scharmützel mit der Polizei, die sich mit Wasserwerfern, CS-Gas und Gummiknüppeleinsätzen wehrt. Molotow-Cocktails fliegen, und vom Dach eines benachbarten Gebäudes schießt jemand mit einer Zwille Stahlkugeln auf die Ordnungskräfte in ihren dunkelblauen Kampfanzügen mit den schweren Schutzhelmen. Brennende Autos werden immer wieder in die Kampfzone geschoben. Die Besetzer haben die Feuerlöschanlage im Hauptlager deaktiviert und die Halle in Brand gesetzt haben. Der rechtspopulistische Ministerpräsident ordnet den Einsatz von Militär an. Am Abend verlautbart die Konzernleitung die sofortige und endgültige Schließung des Werkes und droht mit Schadenersatzforderungen in Höhe von mindestens 280 Millionen Euro.

Wir sehen Ester und Roland fünf Jahre später auf einer Holzbank vor einem niedrigen Schafstall aus grobem Stein. Er sitzt aufrecht da, während sie auf der Bank liegt und den Kopf in seinem Schoss hat. Gut fünfzehn Meter unterhalb der Terrasse liegt die menschenleere Playa de Arnao, eine gewundene Steintreppe führt hinab. Die Biskaya gibt sich ungewöhnlich ruhig, eine flache Brandung schlägt an den Strand. Noch vor einer Viertelstunde schwamm Ester in der See, während Roland in seinem Buch las. Er hat Kaffee gekocht und Ester mit einem Badetuch empfangen. Die Sonne schafft es von Südwesten gerade noch über den Kamm der Felsen, am Rande des Rias von Ribadeo. Gleich werden sie zusammenpacken und nach Hause fahren.

An dem Tag, an dem die Fabrikbesetzer in Brüssel die Feuerlöschanlage im Hauptlager deaktiviert und die Halle in Brand gesetzt haben, ruft der Vorstandsvorsitzende Ester an. Der Vorstandsvorsitzende des Konzerns ruft die noch amtierende, aber vom Unternehmen gekündigte Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats an. Ester hat gerade ein Bad genommen und sitz nackt auf dem Wannenrand. Er habe, sagt der Topmanager, ihr ein Angebot zu unterbreiten. Eigentlich seien es sogar zwei Vorschläge. Voraussetzung sei, dass sie mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt im Gesamtbetriebsrat zurücktrete, jetzt wo sie nicht einmal mehr Gewerkschaftsmitglied sei.

Man biete ihr an, die Kündigung zurückzunehmen und sie zum 1. Januar wieder in ihre alte Position als Leiterin der Robotikabteilung einzusetzen. Außerdem werde man ihr Gehalt anpassen und ihr als Zeichen des guten Willens einen brandneuen Pkw aus der Serie der E-Autos schenken. Die zweite Möglichkeit sei, dass sie der Kündigung zustimmt. Dann würde man ihr eine Abfindung im mittleren sechsstelligen Bereich gewähren, und den Pkw würde sie auch dann bekommen. Ester schweigt, und der Vorstand fragt, was sie davon hält. Sie müsse sich nicht gleich entscheiden, könne sich übers Wochenende mit ihrem Mann und ihrem Rechtsbeistand beraten. Die Verträge seien vorbereitet, sie solle sich bitte Anfang der Woche melden. Nach einer Weile sagt sie nur kurz Ja und drückt den Anrufer weg. Sie ahnt, dass im Hintergrund Verhandlungen zwischen dem Konzern, der IG Metall und auch dem DGB geführt werden.

Wir sehen Ester und Roland auf dem Teppich vor dem Kachelofen sitzen. In der Nacht von Freitag auf Samstag ist der Schnee gekommen, erst leicht und sanft, dann mit schweren Flocken. Die Büsche im Garten tragen weiße Hauben, der Rasen versteckt sich unter einer dicken Schicht Schnee. Die beiden trinken Tee und beraten über die Vorschläge der Unternehmensleitung. Im Hintergrund läuft der Fernseher, der ist stummgeschaltet. Nur Ester kann die Bilder aus den Augenwinkeln sehen. Sie springt auf, greift nach der Fernbedienung und schaltet den Ton ein. Sie hat die Gesichter des Personalvorstands, der DGB-Vorsitzenden und des Bezirksleiters der IG Metall, mit dem sie eine starke gegenseitig Abneigung verbindet, erkannt. Man habe sich geeinigt, sagt der Manager. Die Frontfrau des DGB ergreift das Wort und beginnt zu erklären, dass und wie der Konzernvorstand den Mitarbeitenden entgegengekommen sei.

Anstelle von drei Werken werde nun neben der Niederlassung in Brüssel, deren Ende ja unabhängig vom Sparplan wegen der aktuellen Vorkommnisse beschlossen ist, nur die Produktion in der Slowakei und in Deutschland lediglich die Lackiererei in Osnabrück geschlossen. Insgesamt würden weltweit statt 5800 lediglich rund 3000 Arbeitsplätze wegfallen, vor allem in Belgien und im Werk bei Bratislava. Im Gegenzug verzichten die Arbeitnehmervertreter auf die geforderte Lohnerhöhung von sieben Prozent. Man habe sich auf ein Plus von 5,1 Prozent verständigt, die Erhöhung werde aber nicht ausgezahlt, sondern in Arbeitszeitverkürzungen umgewandelt. Die über dreißig Jahre geltende Arbeitsplatzsicherungsvereinbarung, die der Konzern ein paar Wochen zuvor aufgekündigt hatte, sei Gegenstand weiterer Diskussionen. Zudem werden die Zuschläge und Boni für das Management im Schnitt um je rund vier Prozent gekürzt. Außerdem wolle das Unternehmen prüfen, ob und in welcher Höhe man bei der Dividende sparen könne.

Ganz im Gegensatz zu den Vorurteilen, die manche Deutschen immer noch gegenüber sogenannten Südländern hegen, gilt Ester Castaño im Konzern, bei den Kollegen und unter den Gewerkschafter als ruhig und kontrolliert. Einigen Arbeitern ist sie sogar zu beherrscht und emotionslos; sie wünschen sich kämpferische Leute im Betriebsrat. Roland kennt dagegen Esters andere Seite. Wie sie manchmal vor Glück gleichzeitig lacht und weint, vor allem wenn sie in Galicien bei der Familie ist. Regt sie sich über etwas auf, wird ihre Stimme schneidend, man sieht, dass ihr Körper sich spannt, und die Augen blitzen. Jetzt aber erlebt er ihren ersten richtigen Wutanfall. Sie schleudert die Teetasse in Richtung des Fernsehers. Der Becher zerschellt an der Schutzscheibe, das heiße Getränk tropft aufs Parkett. Sie wirft den Sessel um und trommelt mit den Fäusten auf den gläsernen Couchtisch. Sie tobt und schreit einen Schwall Flüche heraus, auf Gallego und Spanisch, dann auch auf Deutsch, nennt die Gesichter im TV Arschlöcher, Hurensöhne und Wichser. Und zuletzt brüllt sie bei jedem Faustschlag nur noch Verräter! Verräter! Verräter!

Wir sehen Jorge im Trikot von Atlético Madrid. Er hat es tatsächlich geschafft. Nach dem Umzug der Familie wurde er ins Nachwuchsleistungszentrum des Vereins aufgenommen und hat dort einen Internatsplatz bekommen. Er hat im B-Team in der Primera Federacion gespielt und ist auf dem Sprung in den Kader der ersten Mannschaft. Wann immer es die Trainings- und Spielpläne erlauben, besucht er die Eltern in Ribadeo. Miguel ist dagegen nicht mit nach Spanien gekommen, und so ganz genau wissen Ester und Roland nicht, wo er lebt und was er tut. Zuletzt hat er sich mit einer WhatsApp gemeldet, er sei jetzt in Hamburg, habe ein WG-Zimmer und wolle an der HBFK Kunst studieren.

Sie haben sich noch in der Stunde ihres Wutausbruchs geeinigt. Es gebe keinen Weg zurück in den verfluchten Konzern. Sie wolle mit den Schweinen im Management und den Verrätern bei der Gewerkschaft nichts mehr zu tun haben. Roland stimmt zu. Ester geht ins Arbeitszimmer und tippt ihre Antwort an den Vorstand im Stehen ein.

Über verwandtschaftliche Kontakte haben sie ein Objekt in Ribadeo gefunden, ein vergammeltes Gästehaus an den Hängen des Mondigo, das von einem Ehepaar in ihren Achtzigern geführt wird. Die sind mehr als bereit, Haus und Grundstück zu verkaufen, um sich zur Ruhe zu setzen. Ester und Roland sind ihr Haus am Rande der Kleinstadt schnell und zu einem höheren Preis als erwartet losgeworden. Drei Jahre lang haben sie mit Hilfe von Freunde und Verwandten das Haus, das die Inhaber Hotel genannt haben, saniert, renoviert und modernisiert. Gut die Hälfte von Esters Abfindung haben sie investiert. Aber zusammen mit dem Erlös des Hausverkaufs in Deutschland ist noch genug übrig, um viele Jahre komfortabel zu leben, ohne dass ihr Hostel größere Überschüsse erzielt. Denn die Herberge hat nur acht Zimmer und liegt fernab der Touristenströme der Jakobs-Pilger nach Santiago. Sie haben den Sohn eines Großcousins und dessen Frau eingestellt, die sich um alles kümmern. Ester und Roland genießen die ruhige Zeit in Galicien am Meer.

Nachdem sich Konzern und IG-Metall geeinigt haben, trafen Krisenmeldung anderer Autohersteller im Wochentakt ein. Nicht nur die Hersteller der großen Marken entließe Tausende von Mitarbeitenden, auch die Zulieferer und viele von der Automobilindustrie abhängige Firmen bauten Arbeitsplätze ab. Und die Aktionäre ärgerten sich im Folgejahr über Dividendenzahlungen, die fast ein Viertel geringer ausfielen als in den Vorjahren.