Testament

Wenige Tage bevor Thibaud nach Amerika verschwand, hatte er mich abends besucht. Er sah bedrückt aus und hielt sich gar nicht erst mit Smalltalk auf. „Weißt du,“ begann er, „ich habe mir Gedanken über mein Sterben und das Danach gemacht. Ich würde das Ergebnis nicht mein Testament nennen, sondern eine Wunschliste an den Tod.“ Ich erschrak, und in den ersten Tag nach seinem Verschwinden dachte ich manchmal, er habe sich umgebracht. Aber dagegen sprach, was er mir sagte:

„Weißt du, wie der begnadete Kabarettist Wolfgang Neuss gestorben ist? Im Sitzen. Freunde, die dabei waren, berichten, er habe da vor seiner Fotowand gesessen. Mit dem letzten Joint hatte er seine schweren Schmerzen betäubt. Er habe sanft gelächelt, dann sei eines seiner Augen trüb geworden, er habe die Lider geschlossen und einen letzten Atemzug getan. Ich möchte auch im Sitzen sterben und im Kreis von Freunden. Wenn ich die Ahnung hätte, es könnte vorbei sein, würde ich euch rufen.“ Er sah zu Boden und schwieg.

„Neuss hat auch gesagt: Wir leben immer, immer, immer. Das glaube ich auch. Ich weiß ja, dass du vieles von mir aufschreibst. In diesen Berichten werde ich weiterleben. Selbst wenn unsere Sprache vergangen ist, wird irgendwer deine Texte in die neue Sprache übersetzt haben und das veröffentlichen. Es geht immer weiter. Deshalb möchte ich um keinen Preis begraben werden. Nein, es soll keinen sichtbaren Schlusspunkt geben, zu dem Menschen gehen, um sich zu vergewissern, dass ich tot bin. Lasst mich verbrennen und streut die Asche in der Strom.“

Aber das war noch sein ganzes Testament. Er sprach von seinem Besitz. „Falls und sobald ich wüsste, wie lange ich noch zu leben habe, würde ich beginnen, meinen Besitz so weit wie möglich zu verbrauchen. Also all mein Geld ausgeben. Zudem würde ich alle Gegenstände verschenken. Nach dem Zufallsprinzip an Leute, die ich kenne, an Fremde und an Menschen, die meinen Kram gebrauchen können. Meine Idealvorstellung ist, völlig besitzlos zu sterben mit nicht mehr als den Kleidern am Leib. Materielles vererben zu wollen, ist der kindische Wunsch, sich durch Geld, Besitz und Dinge die Erinnerung der Erben zu erkaufen. Das ist bürgerlich, also kleinkariert und dumm.“

Dann stand er auf, umarmte mich und ging.

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