Olav und seine neue Freundin hatten in diesem Jahr das Weihnachtstreffen organisiert. Auf der Terrasse ihrer Wohnung im siebzehnten Stock stand ein Christbaum, der sparsam mit Elektrokerzen bestückt war. Sie hatten ein breites Büffet angerichtet und ein Faß portugiesischen Weins bereitgestellt. Nach und nach trafen die Mitglieder der Gruppe ein. Die Stimmung war fröhlich, freundschaftlich, aber nicht ausgelassen angesichts dessen, was wir alle auf uns zukommen sahen. Thibaud erschien als einer der letzten. Ulla würde nachkommen. Dann saßen wir zu sechst am Küchentisch und redeten über unsere Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste. Olav sagte: „Ich erlebe Weihnachten immer als Mangel. Weil ich nie gelernt habe, das Fest naiv zu begehen. Die Traditionen sind mir fremd. Meine Familie war nicht christlich, überhaupt nicht religiös. Es gab auch keinen bestimmten Grund dafür, dass meine Eltern sich mit dem ganzen Weihnachtsdingen nicht gut auskannten. Vielleicht der Krieg. Aber Vater berichtete, dass er auch als Kind nie Weihnachten mit Christbaum und so weiter gefeiert hatte. Sein Vater war nämlich Proletarier, ein Werftarbeiter und strammer Kommunist, der religiöse Fest als bürgerlichen Kram abtat. Immerhin gab es bei uns an Heiligabend Geschenke.“
„Und jetzt hast du einen Weihnachtsbaum auf dem Balkon. Warum hast du die nicht-christliche Tradition deiner Eltern nicht einfach übernommen und weiterentwickelt? Es stimmt ja, dass das Fest zur Geburt Christi schon seit der Machtergreifung der Bourgeosie seiner religiösen Bedeutung völlig entkleidet ist, dass sich das feiste Bürgertum in diesen Tagen nur selbst feiert in frechster Heuchelei. Wenn sie von Frieden und Gerechtigkeit schwafeln und beides nur für sich und ihre Familien wollen. Wenn sie diese Feiertage nur nutzen, um sich vollzustopfen mit Essen und Dingen, die sie sich gegenseitig schenken, um dann zwischen den Jahren abzurechnen, ob die Bilanz aus Geschenktem und Bekommenen zu ihren Gunsten ausgegangen ist. Wenn sie plötzlich in die Kirchen strömen, weil ihnen Gottesdienst und Kirchenmusik ein warmes Gefühl geben und sie sich gut vorkommen, gerecht und friedlich und irgendwie an der Verbesserung der Welt beteiligt.“
Die Runde schweig bis Hansherbert das Wort ergriff: „Das ist doch gefühlssozialistischer Quark der sechziger Jahre, was du hier predigst. Trotz allen Konsumterrors und aller Bigotterie ist doch Weihnachten eine der wenigen Gelegenheiten, dem alle Bindungen auflösenden Kapitalismus etwas entgegenzusetzen: das Beisammensein der Familien oder der Freunde. Da kann man sich doch die sinnentleerten Symbole des Bürgertums gut zu Nutzen machen.“ – „Ja,“ sagte Thibaud, „da hast du Recht. Das ist ein Ansatz, mit Weihnachten menschlich umzugehen.“
Es wurde zwar keine wilde Party an diesem zweiten Weihnachtstag, aber gegen Mitternacht tanzten wir alle zu der Musik unserer Jugend, wurden laut und fröhlich und hatten gegen vier das Faß vollkommen leer getrunken.