Adele und Wilhelm

Wenige Tage nach der Beerdigung ihres geliebten Mannes beschloss Adele, sich das Leben zu nehmen. Schon als sie ganz allein hinter dem Wagen mit der Urne ging und später als der Bestatter den Behälter in einem Loch in der Erde versenkte, war ihr der Gedanke gekommen. Wider Erwarten hatte dieser Beschluss nichts Trauriges an sich. Sie saß bei einer Tasse Tee an der offenen Terrassentür, blickte auf den Garten, den sie und Wilhelm einst angelegt und beinahe vierzig Jahre gepflegt hatten, und war heiterer Stimmung. Natürlich dachte sie ständig an ihn, so wie sie in den fast sechsundsechzig Jahren ihrer Ehe immer an ihn gedacht hatte. Immer waren sie ein schönes, aber beinahe unmögliches Paar gewesen, die sie beide im selben Jahr und im selben Monat und nur mit zwei Tagen Abstand voneinander geboren waren. Kaum drei Wochen vor Wilhelms Tod waren sie neunundachtzig Jahre geworden und hatten wie immer gemeinsam an einem Tag gefeiert. Zum ersten Mal allein, denn mit Adeles Schwester Claire war die letzte Verwandte gestorben.

Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Über viele Jahre hatten sie beide sehr darunter gelitten, aber als der Krieg kam, waren sie froh, keinem Kind diesen Zustand zumuten zu müssen. Bis ins hohe Alter hatten sie regelmäßig miteinander geschlafen und sich daran erfreut. Erst im Winter vor drei Jahren war Wilhelm dazu nicht mehr in der Lage, aber die Zärtlichkeiten im Bett und überall blieben. Immer waren sie ein auffälliges Paar gewesen. Er ein stattlicher Mann mit markantem Gesicht, das sich schon in jungen Jahren herausgebildet hatte. Sie nur unwesentlich kleiner als er mit starken Armen und Beinen, ausladenden Hüften und großen Brüsten. Dass sein linker Arm und sein linkes Bein verkrüppelt waren, nahm kaum jemand war, rettete ihn aber davor, aktiv am Krieg teilnehmen zu müssen. Zumal er in seiner Position als unabkömmlich galt.

Dass Wilhlem mit sechzehn Jahren die Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte, gefiel Adeles Mutter gar nicht, dafür aber ihrem Vater. Wer weiß, wozu es noch einmal gut sein wird, Staatsdiener zu sein, hatte er gesagt und der frühen Ehe seinen Segen gegeben. Seine Gattin, die aus besseren Kreisen stammte und vor ihrer Verheiratung am Beginn einer Karriere als Opernsängerin stand, hatte sich für ihre Töchter Künstler als Ehemänner gewünscht. Oder wenigstens einen wohlhabenden Mann, der ihnen einen angemessenen Lebenswandel ermöglichen konnte. Aber weil sie Wilhelm auf Anhieb mochte, willigte auch sie in die Verbindung ein. Da waren die jungen Leute noch nicht einmal einundzwanzig Jahre alt, und die NSDAP hatte gerade die Mehrheit bei den Reichstagswahlen gewonnen. Natürlich trat Wilhelm sofort in die Partei ein, um seinen Beamtenstatus langfristig zu sichern.

So beliebt er bei den Kollegen im städtischen Einwohnermeldeamt war, so wenig hielten seine Vorgesetzten von ihm. Er galt als lethargisch und zeigte zu wenig Ehrgeiz. Mit fünfundzwanzig erreichte er den höchsten Punkt der Laufbahn und bemühte sich weder um einen Aufstieg in die gehobene Laufbahn, noch um eine Beförderung. Im war in jeder Hinsicht genug, was er tat. Jeden Morgen erschien er exakt zur befohlenen Uhrzeit im Amt, um es genauso präzise zum Feierabend zu verlassen. Dabei zeigte er nie schlechte Laune, und in den Jahren, in denen er direkten Kontakt zu Bürgern hatte, galt er rasch als freundlicher und flexibler Beamte, der auch einmal Fünfe gerade sein ließ – natürlich immer nur im Rahmen des Ermessensspielraum. Mehr Zeit widmete er seinen Liebhabereien und natürlich seiner geliebten Frau.

Als Adele mit einem herausragenden Abitur ihre Schulzeit am Stiftsgymnasium absolviert hatte, begann sie das sehnlichst herbeigewünschte Medizinstudium, das sie schneller als gewöhnlich abschloss, um gleich anschließend ihre Zeit als Assistentärztin an der Städtischen Klinik zu beginnen. Mit kaum dreißig Jahren eröffnete sie ihre Allgemeinpraxis an der Kronprinzenstraße, die sie über den Krieg hinweg betrieb und erst mit achtundsiebzig Jahren an eine junge Kollegin weitergab. Auch dieser Unterschied in den Berufen machte aus Adele und Wilhlem ein ungewöhnliches Paar.

Jetzt spaziert sie durch den bunten Garten bis zur Laube, die Wilhelm damals errichtet hatte, als er mit dem Aquarellieren begonnen hatte. Heute benutzt sie den schattigen Platz oft dazu, Gedichte auf ihrem tragbaren Computer zu verfassen. Heute sitzt sie einfach nur auf dem schweren Holzstuhl und plant ihren Rückzug aus der Welt. Sie würde es allein schaffen, das war klar, weil sie es allein schaffen müsste. Es gab niemanden mehr, der ihr hätte helfen können. Sie dachte daran, einen Cocktail aus verschiedenen sedierenden Präparaten per Infusion aufzunehmen. Der würde sie erst einschlafen lassen und dann für den erwünschten Herzstillstand sorgen. Sie stellte sich diesen Tod als angenehm vor. Wie auch Wilhelm auf die bestmögliche Weise gestorben war. Sie hatten in der Morgendämmerung eng umschlungen im Bett gelegen und den Vögeln gelauscht. Dann stand er auf und ging ins Bad. Ein dumpfer Aufprall, und sie wusste gleich, was passiert war. Konnte nur noch seinen Tod feststellen, denn der herbeitelefonierte Kollege bestätigte. Sie stimmte einer Obduktion zu, die er gab, dass sich kurz nacheinander zwei wesentliche Gefäße zum Gehirn durch Gerinsel verschlossen hatten und so der Tod innerhalb von Sekunden eingetreten war. Wilhelm, das wusste sie so, hatte weder Schmerzen empfunden, noch bewusst gelitten.

Zumal er in all den Jahren nie ernsthaft erkrankt war. Beide waren sie durchgehend gesund und hatten sogar den Mangel der Kriegs- und der Nachkriegszeit folgenlos überstanden. Ihr Haus hatten sie noch vor Kriegsbeginn einer jüdischen Familie abgekauft und dabei den tatsächlichen Wert der Immobilie abgegolten. Wilhelm war zu der Zeit zuständig für die Indentifizierung der Juden in der Stadt, die bis dahin noch nicht als solche bestimmt worden waren und sich nicht gemeldet hatten. Mit dem Fahrrad fuhr an einem milden Herbsttag zur Adresse einer Familie, die er so herausgefunden hatte, um sich deren Haus anzusehen. Durch seine Warnung und mit dem durch den Kauf erlösten Geld konnte die Familie problemlos über die Schweiz in die USA emigrieren. Nach dem Krieg hatte er versucht, mit den Vorbesitzern seines Hauses Kontakt aufzunehmen, aber die Familie reagierte auf seine Briefe nicht.

Während Adele sich vorwiegend auf ihren Beruf und die Praxis konzentrierte, ging Wilhelm in der Freizeit wechselnden Interessen nach. Über ein paar Jahre war Feuer und Flamme für die Amateurfilmerei und drehte Rolle um Rolle. Dann waren es Autos, die ihn faszinierten, und kurz spielte er mit dem Gedanken, am Rennsport teilzunehmen. Nach dem Krieg entdeckte er seine Liebe zum Hund und hätte beinahe eine Zuchtstätte für Deutsch-Drahthaar eröffnet. Schließlich wurde der Gartenbau mit all seinen Facetten sein letztes großes Hobby. Die Filme aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren hatte er zm Glück digitalisieren lassen, sodass sie sich sein Werk immer wieder gern ansahen, und in der Garage stand ein perfekt erhaltenes Adler 2 Liter Cabriolet. Adele beschloss nun auch, das Haus, den Oldtimer und was sonst von Wert war, zu verkaufen, um das Geld dann einem guten Zweck zukommen zulassen noch bevor sie starb.

Am nächsten Tag begann sie, die juristischen Umstände ihres Todes zu regeln. Zwar war der bewährte Notar Herkott nicht mehr aktiv, aber bereit sie so weit zu unterstützen, dass ein junger Kollege die eigentlichen Beurkundungen würde vornehmen können. In der Zwischenzeit reiste Adele noch einmal an den Comer See, wo sie und Wilhlem in vielen Jahren ihren Urlaub verbracht hatten, und beschaffte sich anschließend die benötigten Medikamente bei Frau Mieren, der Pharmazeutin, mit der sie gut vierzig Jahre immer in bestem Kontakt gestanden hatte. Sie wäre der einzige Mensch gewesen, dem ihren Plan zu offenbaren sie bereit gewesen wäre, aber die erfahrene Apothekerin wusste anhand der Bestellliste sicher Bescheid. An einem regnerischen Tag genau sieben Monate nach Wilhelms Beerdigung legte sich Adele auf die grüne Couch im Wohnzimmer, von der aus sie einen schönen Blick auf den Garten hatte, installierte den Shunt, verband ihn mit der Infusionsflasche am Stände und öffnete das Tropfventil.

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