Letztes Wiedersehen

Sie liegt da wie früher. Halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Das rechte Bein gestreckt, die linke Fußsohle fest an die rechte Wade gepresst. Der Gesicht liegt auf dem einen Arm, der andere umschließt den Kopf. Die Brise, die durch den offenen Spalt der Terrassentür weht, bewegt den Vorhang. Sonnenstrahlen fallen auf ihren Körper und das Muster im Stoff malt Flecken auf ihre Haut. Dann dreht sie sich um. Immer noch diese sehr helle Haut, immer noch die Pigmentflecken. Er sieht die dritte Zitze in der Falte unter ihrer rechte Brust. Das Schamhaar nicht mehr dicht wie damals, nicht mehr so strahlend rot. Der Spalt scheint durch, aber am oberen Rand immer noch die kecke Locke. Sie hatten sich über dreißig Jahre aus den Augen verloren. Dann schrieb sie ihm eines Tages eine Mail: Ich komme in die Stadt, treffen wir uns? Beide nervös im Café. Dann den großen Spaziergang mit dem Hund durch den Park. Und dann waren sie wieder wie das Paar, das sich mit dreizehn, vierzehn Jahren jeden Tag gesehen hat, jeden Tag miteinander geredet hat, alles gemeinsam, blindes Verständnis. Und natürlich gingen sie dann zusammen, so nannte man das damals. „Letztes Wiedersehen“ weiterlesen

Die geheime Stadt

Hinterm Dorf stieg die Wiese zum Wald zunächst sanft an hinter der Senke, durch der Fasanbach floß, dann steiler bis zu den erste Tannen. In dem Sommer, in dem Alfons neun Jahre alt wurde, waren er und seine Freunde jeden Nachmittag nach der Schule und in den Ferien jeden Tag mehrmals mit den Räder aufwärts gefahren und hatten einen Steg angelegt, um einfacher über das Gewässer zu gelangen, das in der warmen Jahreszeit nicht mehr war als ein Rinnsal, im Frühjahr aber durch das Schmelzwasser zu einem rauschenden Bach anschwoll. Auf den Gepäckträgern und ihren Rucksäcken transportierten die Jungen Baumaterial und Werkzeug, weil sie weit oben im Gehölz etwas errichten wollten. „Die geheime Stadt“ weiterlesen

Traumtänzer

Er rutschte in einen schwachen Schlaf. Weite Regionen seines Hirns blieben aktiv. Er erzählte sich stumme Geschichten, memorierte Kochrezepte und stellte passende Einkaufslisten auf. In einem weiteren Teil seines Bewusstsein aber rang er darum, endlich richtig einschlafen zu können. Dabei wurde ihm schleichend klar, dass er in diesem Halbwachzustand mindestens zwei Persönlichkeiten hatte; eine hyperaktive und eine träge. Er verfiel darauf, Schafe zu zahlen, rückwärts ab zehntausend. Aber während er Nummer achttausendneunhundertachtundsiebzig erreichte, lachte ihn das wachte Hirn einfach aus. Malena atmete gleichmäßig neben ihm. Das musste nicht bedeuten, dass sie im Gegensatz zu ihm in Tiefschlaf gefallen war. Ohne dass sie es je zugegeben hatte, wusste Tadé, dass sie nicht selten markierte, schlafend und nicht mehr ansprechbar zu sein. Tat er ja auch, um zu verhindern, dass sie das Bett verließ, um auf der Couch zu übernachten. „Traumtänzer“ weiterlesen

Nichts davon

Sie lässt sich nach dem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen. Obwohl sie Whisky nicht mag. Aber sie findet, es macht sich gut in Interviews und Talkshows zu erzählen, sie lasse sich nach jedem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen, obwohl sie keinen Whisky mag. Bea Dardai weiß, dass es nur die Anekdoten sind, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen. Das findet auch Karl, der ihr den Whisky bringt. Den er trinkt. Dann hilft er ihr mit der Perücke und beim Umziehen und schaut ihr beim Abschminken zu. Er liebt es, diese Verwandlung zu sehen. Auch, weil er die Frau, die dabei zum Vorschein kommt, mehr liebt als die große Bea Dardai auf der Bühne, wenn sie im paillettenbesetzten Abendkleid im Lichtkegel am Mikrofon steht, ihre Chansons singt und dem Publikum zwischendurch kleine Geschichten erzählt, die er natürlich alle schon kennt. Wenn sie privat ist, kommt er sich nicht mehr vor wie der alternde Mann, der eine strahlende, jüngere Frau begleitet. Dann sind sie auf Augenhöhe. [Lesezeit ca. 12 min] „Nichts davon“ weiterlesen

Hauptgewinn

Sie hockt im Schneidersitz auf dem Flokati und schaut zu ihm auf. Warum arbeitest du nicht? fragt sie und knabbert dabei an ihrem Daumennagel. Er betrachtet ihre Schlüsselbeine und die Rippenansätze am Brustbein und ist gerührt. Bist du reich? setzt Caren nach und bearbeitet den anderen Daumennagel. Peer wiegt den Kopf hin und her. Aber du hast genug Geld und musst nicht mehr arbeiten, oder? Jetzt nickt er. Geerbt? Ding gedreht? Nein, sagt er, gewonnen. Sie kreuzt die Arme vor der Brust: Viel? Ziemlich, antwortet Peer. Wie viel? Er zeigt ihr alle zehn Finger, ballt die Hände dann zu Fäusten und öffnet sie wieder und noch einmal und dann noch einige Male bis sie sagt: Reicht. Stimmt, sagt Peer. Er steht mit dem Rücken zur Küchenzeile und stützt sich jetzt nach hinten ab. Caren mustert seinen Penis: Ganz schön groß für einen kleinen Kerl wie du. Das sagen sie alle, gibt er zurück und grinst. Nach einer Weile: Und, wie viel willst du? Er zeigt einen Finger, dann eine Hand und dann beide. Sie liegt jetzt auf der Seite und sagt: Nothing, niente, nichts. „Hauptgewinn“ weiterlesen

Meta, Minka und Matilda

Meta schiebt die Gardine ein Stück beiseite und schaut durch den Spalt auf den Vorgarten und den Gehsteig. Weißt du noch als Herbert gestorben ist? Minka dreht sich um und wischt die Hände an der Kittelschürze ab. Ja, das war eine schöne Beerdigung. Du warst am Ende betrunken. Ihre Schwester hebt den Blick und schüttelt den Kopf: Nein, du. Ich? Ich war ein bisschen beschwipst und hab mit dem Pfarrer getanzt. Bei Helmut war’s nicht so schön. Beide nicken still vor sich hin. Kannst jetzt die Gläser hinstellen, sagt Minka. Im Zehnlitertopf brodelt die Mirabellenmarmelade. Die Katze springt vom Fernsehsessel und setzt sich mitten in die Küche. Der wollte ja unbedingt eine Seebestattung, der Helmut. Meta hat die Gläser aufgereiht und die Schöpfkelle bereitgelegt. Freddy singt im Radio von der Heimat und dem Meer. Schön, dass es solche Sender noch gibt, sagt Minka. „Meta, Minka und Matilda“ weiterlesen

Noch ein Leben

Den Tod hatte sich Fred ganz anders vorgestellt. Irgendwas mit einem weißen Licht, und dass das Leben an einem vorbeizieht. In Wahrheit war der Übergang eine Qual. Zwischendurch blieb er stecken und hatte schreckliche Angst. Ein bisschen wie die Fahrt auf einer sehr flachen Wasserrutsche, die nicht überall richtig nass ist. Mit dem Kopf voran. Durchweg bei trübem, gelblichen Licht, dass im Fokus zu einem bräunlichen Grau wurde. Mit einem winzigen giftgrünen Punkt in der Mitte. Er nahm unterwegs eine Art schräges Knarzen war und fror. Das Ganze zog sich über Stunden hin, vielleicht sogar über Tage und Wochen. Und eigentlich wollte er irgendwann nur noch, dass es vorbei sei, dass er endlich durch sei. Wo auch immer er dann ankäme. Schließlich landete er in einer Höhle, deren Wände in sanften Rottönen leuchteten und dabei in einem angenehmen Rhythmus pulsierten. Körpergefühl hatte er keins mehr, die Sinneswahrnehmungen stark eingeschränkt. Es kam ihm vor, als schwebte er in einer warmen, süßen Flüssigkeit. Je länger er in dieser weichen Höhle antrieblos umher trieb, desto mehr verließen ihn seine Erinnerungen. Sein Körper zog sich zusammen, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Beine angezogen. Grelles Licht voraus, und dann nahm etwas seinen Schädel und quetschte seine Schläfe zusammen, sodass er beinahe bewusstlos wurde. Danach war das dann alles zu Ende. „Noch ein Leben“ weiterlesen

Überfahrt

Das Meer hat es nicht immer gut gemeint mit uns. Damals am Atlantik, als du wie ein Kind wieder und wieder in die Brandung liefst, mit ausgestreckten Armen unterhalb der Wellenkronen eintauchend, um dann im nächsten Tal wiederaufzutauchen. Wieder und wieder. Bis diese eine Woge kam, die war doppelt so groß wie die anderen. Ich sah nur wie du hochgeschleudert wurdest, wie du einem Moment in der Gischt schwebtest, dann hinab stürzest ins gläserne Meer und nicht wieder auftauchtest. Wie dich drei Männer auf den Strand zogen nachdem sich das Wasser zurückgezogen hatte. Du hattest das Bewusstsein verloren, atmetest aber. Sie drehten dich auf die Seite, und ich sah Hunderte kleine Schnitte in deinem Rücken, aus denen Blutstropfen quollen, so sehr hatten dich die Wellen auf den Grund geschleudert, die mit Millionen Scherben von Muscheln bedeckt war. „Überfahrt“ weiterlesen

Wir im Hausboot

Manchmal war ich nicht sicher, ob ich dich überhaupt kannte. Oft warst du völlig fremd. Wie jemand, der gerade erst die Wohnung betreten hat. Mir ist damals klar geworden, dass ich fast nichts über dich weiß. Außerdem dem, was ich selbst während unserer Zeit mitbekommen habe. Das liegt natürlich daran, dass du keine Geschichtenerzählerin bist. Bis zu unsrer Reise kannte ich ein knappes Dutzend Anekdoten, die du gelegentlich erzähltest. Merkwürdig, dass weder deine besten Freunde, noch deine Geschwister je darüber berichteten, was du in diese oder jenem Alter in dieser oder jener Situation getan hast. Bei uns in der Familie ist das anders, da gibt es einen großen Schatz an Geschichten, die meist mit „Weißt du noch als…“ beginnen. Ich dagegen kennen selbst die faktischen Stationen deines Lebens nur sehr ungenau. Wenn du neben mir auf dem Sofa saßt und wir gemeinsam einen Film anschauten, betrachtete ich manchmal dein Profil aus den Augenwinkeln und dachte: Wer ist sie? „Wir im Hausboot“ weiterlesen

Klaus auf Kuba

Viele Menschen in seiner Umgebung finden Klaus attraktiv. Aber er selbst bekommt das nicht mit. Und wenn er es mitbekäme, dann würde er es nicht glauben oder abstreiten. Er sieht sich selbst nicht im Spiegel, nicht einmal wenn er beim Rasieren hineinschaut. Eigentlich müsste er sich bewusst sein, dass man ihn für gutaussehend hält. Denn er war ein außergewöhnlich niedlicher Säugling und ein hübsches Kind, und oft genug hatten ihm Verwandte mitgeteilt, er sein ein schöner Mensch. Klaus beschäftigte sich nicht damit, so wie er sich auch sonst nicht mit seinem äußeren beschäftigte. Er war mehr berüchtigt als berühmt für seine karierten Hemden und die altmodischen Schuhe. Weil er aber keine Freunde hatte, erfuhr er nicht, was die Leute von ihm hielten. [Lesezeit ca. 16 min] „Klaus auf Kuba“ weiterlesen

Komm, süße Depression

„Trauer ist ein Tier mit braunem Fell und großen Kinderaugen, das an meinem Brustbein aufwärts kriecht und mir dann direkt ins Gesicht starrt. Das rührt mich zu Tränen.“ Thibaud stand auf und ging ein paar Schritte hin und her. „Vermutlich nennt ihr den Zustand, wenn das Tier namens Trauer kommt, Depression. Im Rheinischen sagt man von einem, der deprimiert ist: Er hat dar ärme Dier.“ Er hatte sein Glas Wein vom Tresen geholt und sich wieder hingesetzt. Zilly fand, er sähe erholt aus, entspannt und auf unbestimmte Weise klar und sicher. „Die Menschen verstehen immer weniger, je mehr an fundierter Information ihnen zur Verfügung steht. Sie wollen lieber auf ihren Bauch hören. Und um jeden Preis fröhlich sein. Nur Idioten sind immer gut drauf. Kluge Menschen brauchen Depressionen. Und nutzen sie.“ „Komm, süße Depression“ weiterlesen

Marianne und ich (Fragment)

Es war Robby, der mich überredet hat, das hier aufzuschreiben, in unserem Stammlokal nach seiner Rückkehr von einer großen Reise einschließlich Transatlantik. Er hatte sich inzwischen auf mittelalte Passagierinnen spezialisiert, allein reisende, nicht zu attraktive. Eine davon eine Niederländerin namens Nele, die er fotografieren durfte. Am zweiten Tag der Atlantiküberquerung erotisch, am fünften dann pornografisch. Er zeigte mir die Bilder und meinte: Na, sieht doch aus wie Marianne. Da er Marianne nie persönlich kennengelernt hatte, das wurde mir klar, hatte er eine Vorstellung von ihr, die aus meinen vielen Erzählungen über sie und mein Leben mit ihr stammte. So groß war aber die Ähnlichkeit eigentlich nicht. Wenn ich mir allerdings Neles Gesicht wegdachte, was mir auf den späteren Fotos nicht schwerfiel, weil der Fokus auf anderen Regionen lag, dann sah ich Mariannes Körper wie ich mir vorstellte, dass er inzwischen aussah. [Lesezeit ca. 24 min] „Marianne und ich (Fragment)“ weiterlesen

Karin und Josèphe

Er war der schwärzeste Mensch, den ich je gesehen habe. Wenn Josèphe und ich in jenem Sommer mit den Kindern im Freibad auftauchten, lagen alle Augen auf ihm. Damals kamen aber auch so gut wie keine Schwarzafrikaner ins Schwimmbad, und überhaupt gab es in der Stadt viel weniger Dunkelhäutige als heute. Seine Haut war nicht dunkelbraun, sondern schwarz. Es gab ein paar Stellen mit helleren Schattierungen und natürlich die Handflächen und Fußsohlen, aber sonst war Josèphe schwarz wie die Nacht. Und wenn wir im Schwimmbecken Ball spielten, dann glänzte seine Haut vom Wasser wie die fabrikneue Lackierung eines Mercedes. Mein Sohn Philipp und seine Tochter Zizi waren etwa gleich alt und wurden einen Sommer lang dicke Freunde. Verrückt genug, dass Phil in diesen sonnigen Monaten viel brauner wurde als Zizi. Die war in dieser Hinsicht ganz offensichtlich genetisch eine Fiftyfifty-Mischung. Denn Karin, ihre Mutter, war strohblond und hatte eine fast schneeweiße Haut. So weit sich das feststellen ließ, weil sie selbst bei größter Hitze und hier im Freibad nie mehr auszog als ihre Schuhe. „Karin und Josèphe“ weiterlesen

Erik allein

Auf einmal war alles zu groß und unübersichtlich. Erik hatte am Tag von Olivers Beerdigung die grundsätzliche Orientierung verloren in seinem Raum-Zeit-Kontinuum. Er erwachte Stunden früher oder später als all die Jahre, konnte kaum noch länger an einem Platz sitzen und legte Wege in der Wohnung zurück, die sich von den gewohnten Pfaden unterschieden. Sein Leben geriet zunehmen aus den Fugen. Und je chaotischer die Dinge wurden, desto weniger trauerte er um seinen Mann. Erik wurde wütend. Er begann mit dem toten Olli zu reden, ihm Vorwürfe zu machen, dass er ihn allein zurückgelassen hatte. Ständig gingen Dinge zu Bruch. Alle Akkus waren auf einmal leer, und nachdem der Kühlschrank seinen Geist aufgegeben hatte, stellte bald auch die Spülmaschine ihren Dienst ein. Oliver hätte solche Probleme mit links geregelt. Der wusste, wo Garantieunterlagen abgeheftet waren, und hatte ein Telefonverzeichnis ausschließlich für Handwerker, Notdienste und Hersteller. Erik wusste davon nichts und stand dem Desaster hilflos gegenüber. „Erik allein“ weiterlesen

Metin und Denise

Als sich Metin in Densise verliebte, bekam niemanden aus seinem Umfeld es mit. Die Menschen, mit denen er zu tun hatte, hätten es auch nicht verstanden. Zu unmöglich war diese Liebe. Damals lebte er im Haus seines Cousins Can in einem Vorort. Drei Jahre zuvor war seine Frau gestorben. Der einzige Sohn hatte seine Eltern schon mit siebzehn verlassen und war in das Dorf an der Schwarzmeerküste zurückgekehrt, in dem seine Großeltern wohnten. Außer Can, seiner Frau, den sechs Kindern und ihm hatten noch zwei Neffen und der alte Onkel Zimmer im Haus. Metin war einundvierzig und arbeitete seit mehr als zwölf Jahren als Busfahrer. Als er an einem sonnigen Junimorgen Denise in ihrem Rollstuhl an der Endhaltestelle sah, tat er, was vorgesehen war. Er holte die Rampe aus ihrem Fach, legte sie am mittleren Ausstieg an und half ihr in den Bus zu kommen. Dabei achtete er nicht besonders auf die junge Frau. Drei Haltestellen lang waren sie allein im Bus, und er bemerkte, dass sie ihn über den Spiegel genau beobachtete. Ihre schwarzen Augen begannen, ihn zu hypnotisieren, sodass er froh war, als weitere Fahrgäste zustiegen. „Metin und Denise“ weiterlesen