In den nächsten Monaten erscheint mein nächster Roman mit dem Titel „Alle Hoffnung – eine unmögliche Liebesgeschichte“, den ich 2014 schon einmal publiziert habe, in einer neuen, korrigierten und überarbeiteten Fassung. Hier die Zusammenfassung und eine Leseprobe. [Lesezeit ca. 14 min]
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Die Zusammenfassung:
Walter hat Rosi verloren. Nach über vierzig Jahren Ehe. Weil er nicht weiß, was er tun soll, macht er eine Reise. Nicole, seine älteste Tochter, ist skeptisch. Sein Sohn Martin interessiert sich nicht. Und Marie, das Nesthäkchen, ist schon vor Jahren abgehauen. Auf Guadeloupe lernt Walter Gwen kennen. Sie verlieben sich ineinander, der alte Mann aus Deutschland und die junge Frau von Dominica. Sie will eine Zukunft, und er will noch einmal Hoffnung schöpfen. Es kommt etwas dazwischen. Und keiner weiß, wie es weitergeht.
Die Leseprobe:
Walter über das Reisen
Dass mir das noch passieren würde. Sie strahlte mich an, weiße Zähne, schwarze Augen. Sie lächelte mich mit einer Liebe an, die ich gerne früher gesehen hätte, als ich noch jung war. Mir war nicht klar, ob ich das aushalten würde. Vielleicht hatte ich aber auch darauf gehofft, dass diese Reise eine unerwartete Wende bedeuten würde.
Auf das Ziel bin ich zufällig gestoßen. Einmal im Leben wollte ich in die Karibik. Mit Rosi war ich immer nach Skandinavien gefahren, nach Dänemark mit den Kindern, nach Schweden und Norwegen allein. Sie hatte eine Art Allergie gegen den Süden, nein, keine Sonnenallergie, auch keine nachweisbaren Probleme mit der Hitze, einfach ein Unwohlsein, das sie entdeckte bei unserem einzigen Urlaub an der Costa Brava, den wir nach sechs Tagen abbrachen, weil es ihr schlecht ging.
Es war auch okay all die Jahre in den Norden zu fahren, ich habe nichts vermisst. Aber jetzt, wo Rosi tot ist, musste ich es ausprobieren. Die Reise hatte ich mir von meiner Tochter zusammenstellen lassen, die arbeitet ja in der Tourismusbranche. Was wirst du denn da machen, zwei Wochen lang? Ich werde mir ein Motorrad mieten und kreuz und quer über die Insel fahren. Aus verschiedenen Gründen hatte ich mir Guadeloupe ausgesucht. Ich stellte mir vor, dass es da sein würde wie in Südfrankreich, nur eben mit einem anderen Klima. In ganz jungen Jahren bin ich einmal mit ein paar Biker-Freunde bis nach Saint Tropez gekommen, eher zufällig, und es hatte mir ganz gut gefallen da, obwohl wir gerade mal eine Nacht dortblieben und dann vom Ehrgeiz getrieben, in den wenigen Tagen unserer Tour möglichst viele Kilometer abzureißen, weiterfuhren.
Ich habe immer ein Motorrad besessen, seit ich sechzehn war, außer in den letzten acht Jahren vor Rosis Tod. Nach dem Unfall, bei dem ich mir den rechten Knöchel brach bei einem dummen Sturz. Ein komplizierter Bruch, der nie richtig ausheilte. Ich bin nicht gehbehindert im eigentlichen Sinn, aber lange Strecken zu laufen, macht mir Mühe, und rennen kann ich gar nicht mehr. Auf unebener Strecke neige ich dazu, mir den beschädigten Fuß zu vertreten, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Bruch hat eine ganze Kette an Folgeschäden nach sich gezogen, starke Rückenbeschwerden zum Beispiel, ständige Gelenkentzündungen, Magenprobleme wegen der Medikamente. Vor zehn Monaten bin ich einundsechzig geworden. Man hat mich frühpensioniert.
Wenn andere Frauen Angst davor haben, dass der Mann als Rentner nur noch zuhause herumhängt und sie stört, dann war das bei Rosi ganz anders. Sie freute sich und hatte einen Haufen Ideen, was wir alles zusammentun könnten. Zwischen Weihnachten und Neujahr saßen wir eines Abends am Tisch und machten Pläne für zukünftige Aktivitäten. Rosi schlug sogar vor, einen Schrebergarten zu pachten. Mir kam das übertrieben vor. Nachdem die Kinder alle ausgezogen waren, hatten wir das Haus verkauft und damit auch den großen Garten aufgegeben. Erleichtert war sie gewesen, und hatte gemeint, dass es reichen würde, den Balkon unserer Dreizimmerwohnung in der Stadt zu bepflanzen.
An größere Reisen hatten wir nicht gedacht. Rosi konnte sich nicht vorstellen, sich in ein Flugzeug zu setzen, irgendwohin zu fliegen, auszusteigen und dann Urlaub zu machen. Das geht zu schnell, sagte sie oft, da kann ich mich ja gar nicht daran gewöhnen, von zuhause weg zu fahren. Wir haben das auch nie gemacht. Bevor die Kinder kamen, fuhren wir mit dem Motorrad durch die Gegend und schliefen im Zelt, später reisten wir mit Sack und Pack und den Kindern nach Norden und verbrachten die Ferien grundsätzlich in Ferienhäusern.
Guadeloupe faszinierte mich auch wegen der Form, dass da zwei ganz verschiedene Inseln zusammengewachsen sind, an einem dünnen Landstück aneinanderhängen, wie zwei Schmetterlingsflügel. Außerdem kann man recht einfach rüberfliegen von Paris aus. Martin hatte mir einen Mietwagen besorgt, mit dem ich dorthin fahren und ihn am Flughafen Charles de Gaulle abgeben konnte, weil ich nicht zweimal fliegen wollte. In Point-a-Pitre am Flughafen sollte ich mir ein Taxi nehmen und mich nach Saint Anne bringen lassen. Ich hatte mich für eine Ferienanlage direkt am Strand entschieden, wo es kleine Häuser gab für Selbstversorger.
Gwen erinnerte mich sofort an meine Älteste: sehr groß, kaum kleiner als ich, und schlank, fast dünn. Martin hatte sich mit Nicole oft gestritten, weil er es nicht ertragen konnte, dass sie ihn, die nur zweieinhalb Jahre älter ist als er, mit siebzehn um mehr als zwei Köpfe überragte. Nicole kommt mehr auf mich, während Marie in vieler Hinsicht das Abbild ihrer Mutter ist. Martin ist dagegen eine gleichberechtigte Mischung.
Marie zog als erste aus, mit knapp achtzehn, sie war immer sehr rebellisch gewesen, hatte oft den Familienfrieden gestört, nette Abende mit ihrem Trotz boykottiert, ihre Geschwister geärgert bis aufs Blut. Mit vierzehn hatte sie angefangen, nachts wegzubleiben. Immer mit der Begründung, dass es ja fast unmöglich sei, das Scheißkaff – so nannte sie den Vorort, in dem wir wohnten – mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach zehn noch zu erreichen. Sie ging im Streit, und ich habe sie jetzt seit mehr als drei Jahren nicht gesehen. Sie war auch bei Rosis Beerdigung nicht da.
Marie über die Familie
Hab nie kapiert, warum die ganze Familie sich derart aufgeblasen hat, nur weil ich ausgezogen bin. Voll das Drama: Marie ist abgehauen! Bullshit! Ich bin einfach nur ausgezogen. Hab ordnungsgemäß die zehnte Klasse fertig gemacht und bin weggezogen. Alles kein Problem. Nur für Papa und Mama und für meine große Schwester. Meine riesengroße Schwester. Als ob die alles so cool geregelt hätte. Was man so hört, war sie die Megamusterschülerin. Einser-Abi und so. Große Karriere im Blick. Und dann macht sie einen auf Reisebüro. Mama war entsetzt, und Papa wollte sie irgendwie dahin quatschen, dass sie studiert. Die hat denen sozusagen den Stinkefinger gezeigt. Auch nicht viel anders als das, was ich gemacht hab. Nur dass sie dabei immer so einen Hauch schleimerisch rumgemacht hat. Macht euch keine Sorgen, blablabla, ich pass auf, blablabla, ist ein Beruf wie jeder andere … bla-und-tröt. Die wollte auch bloß weg. Die wollte einfach ihre Ruhe haben, damit sie sich mit ihren Mädels treffen konnte, ohne dumm angemacht zu werden von den Eltern.
Und dann erzählt mir die Überschwester auch noch, dass sich alle voll die Sorgen gemacht hätten, weil ja keiner wusste, wo ich war. Ach ja? Ich hab dem Martin doch ne Karte geschrieben aus Freiburg, da war ne Adresse drauf und ne Telefonnummer. Kann ich was dafür, dass er die Info wie ein Staatsgeheimnis gehütet hat? Der hätte mir doch Bescheid geben können, dass Mama gestorben ist. Hätte der die Nummer in Freiburg angerufen, hätten die Kollegen ihm schon gesagt, wo ich zu kriegen gewesen wäre. Aber darauf ist Bruderherz nicht gekommen. Hat er wahrscheinlich keine Zeit für gehabt vor lauter Rumpopperei. Da war ich schon in München und hab im Ostpark gejobbt. Ganz legal und korrekt. Mit Steuerkarte und allem Pipapo. Erst mal gucken, hab ich mir gedacht. Bevor ich irgendeine Ausbildung mache und nach ein paar Monaten feststelle, dass das Scheiße ist. Jedenfalls hätte Martin mich jederzeit erreichen können. Hat ja jetzt auch geklappt. Ich hab da in seiner Versicherung angerufen. Die haben mir seine Handynummer gegeben, und dann hab ich ihm auf die Mobilbox gequatscht. So einfach.
Walter über Rosi
Als ich auf der Insel aus dem Flugzeug stieg nach zehn Stunden, traf mich die Luft unvorbereitet. Es war weniger die Mittagshitze als vielmehr das Gefühl, pure Nässe einzuatmen, als ob man durch ein feuchtes Handtuch hindurch Atem holt. Mir lief sofort der Schweiß in Strömen von der Stirn, und ich war nicht sicher, ob ich das Klima zwei Wochen lang würde ertragen können. Aber das verging schon auf dem Weg von der Gepäckausgabe zum Taxistand, wo ich zum ersten Mal die karibische Brise spürte, die kühlt und erfrischt und alles ganz leicht macht. Die Taxifahrt kam mir vor wie die Tour in einem rollenden Kino. Was an den Fenstern vorbeizog, war fremd und schön, der Fahrer lieferte den Soundtrack im eisgekühlten Auto. Er redete nicht, er sang mit, unentwegt, die ganze Dreiviertelstunde lang bis wir an der Rezeption des Feriendorfs ankamen.
Ich hatte mich darauf vorbereitet, Englisch sprechen zu müssen, musste aber feststellen, dass der fette Schwarze mit dem orangefarbenen Hemd nur Französisch sprach. Aber wir kamen klar. Er gab mir die Schlüssel und malte ein Kreuz auf den Plan der Anlage, dort sei mein Studio. Zum Glück hatte ich wenig Gepäck dabei, den Rollkoffer und einen Rucksack. Das Haus bestand aus zwei Zimmern: dem Wohnraum mit der Küchennische und einem winzigen Schlafzimmer mit einem Ventilator über dem Bett. Von der Terrasse aus konnte ich das Meer zwischen den Palmen sehen.
Rosi mochte den Wald. Den dichten Mischwald wie in Südschweden, aber auch die Nadelbäume an den norwegischen Fjorden. Gute Luft war ihr wichtig, sie wollte durchatmen, die Lungen füllen, sie suchte das Klare, Saubere. Wir haben sehr früh geheiratet. Ich war gerade einundzwanzig geworden und sie noch nicht einmal siebzehn. Im Sommer vor unserer Hochzeit waren wir mit der BMW hoch in den Norden gefahren, bis zum Sognefjord und weiter. Es war wenige Tage nach der Mittsommernacht, als wir am Fuß der großen Gletscher von Jotunheimen angekommen waren. Eine steile Wiese, durch die ein kalter Bach floss. Wir hatten das Zelt aufgebaut und saßen im Zwielicht zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang draußen und redeten darüber, was wir unterwegs gesehen hatten. Dann schwiegen wir eine Weile. Der Gletscherbach gluckste ein bisschen, und von weiter her hörten wir das Klingeln der Glöckchen an den Hälsen von frei weidenden Schafen.
Plötzlich sprang Rosi auf und begann zu schreien, ein wildes, freies Rufen. Sie riss sich die Kleider vom Leib, und tanzte über das Gras. Ich kam zu ihr, auch nackt, und wir tanzten und schrien vor Glück. Dann legten wir uns erschöpft unter den einzigen Baum dort, und schliefen zum ersten Mal miteinander. Wir haben damals Nicole gezeugt in der kühlen Luft. Die Sonne weckte uns, und wir probierten, das, was wir gerade gelernt hatten, noch einmal und noch einmal, bis wir müde genug waren und uns zum Schlafen ins Zelt legten.
Mein Haus hatte keine Klimaanlage. Trotzdem war es angenehm kühl im Inneren, denn zwei große Palmen warfen ihren Schatten auf das Dach. Ich zog mich um, wählte die Khakishorts und ein weißes T-Shirt und versuchte zum Strand zu kommen. Aber da war ein hoher Zaun zwischen dem Gelände und dem Weg, hinter dem die Bucht lag mit ihrem weißen Sand. Also ging ich zurück zur Rezeption und überquerte die stark befahrene Straße, die parallel zum Strand verlief. Auf der anderen Seite gab es einen Markt mit Ständen, an denen man Tücher kaufen konnte, bunte Kleidung, Souvenirs und Obst. Etwas weiter, da wo die Straße in einer halbrunden Asphaltfläche endete, standen Imbisswagen, manche mit einem Grill davor, auf dem Fische brieten. Ich kaufte mir eine Flasche Wasser und schlenderte den Weg entlang. Rechts von mir der schmale Sandstreifen, auf dem Familien lagerten, schwarze Menschen, rothäutige Weiße. Kinder sprangen umher, und ganz nah am Wasser lagerten große Gruppen Jugendlicher mit ihren Ghettoblastern, ganz dicht beieinander.
Rosis Eltern waren weniger schockiert über die Tatsache, dass ihre Tochter schwanger war, als wir befürchtet hatten. Sie waren zufrieden, dass wir heiraten wollten und gaben uns Geld für den Start. Ich hatte gerade meinen Vorbereitungsdienst beendet und eine Planstelle in der Stadtverwaltung bekommen. Die Bezüge waren nicht üppig, aber wir kamen gut zurecht. Ich konnte mir weiter mein Motorrad leisten und einen gebrauchten Ford Taunus dazu. Wir wohnten draußen in der Vorstadt, ich fuhr meist mit der BMW zum Dienst, während Rosi halbtags Lesemappen auslieferte und so dazu verdiente. Meine Tante, die nur zwei Straßen entfernt wohnte, passte so lange auf Nicole auf. Wir waren sehr zufrieden in dieser Zeit, in der überall Menschen unseres Alters nach Veränderung riefen.
Ich kann nicht sagen, dass mir mein Beruf je Spaß gemacht hätte, aber es war auszuhalten. Das Arbeitstempo war damals nicht sehr hoch, man saß den größten Teil der vierzig Wochenstunden ab, die Kollegen waren insgesamt gesehen recht nett, die Kontakte untereinander hielten sich in Grenzen. Wir hatten ein paar Freunde, alte Motorradkumpel von meiner Seite, dazu Rosis beste Schulfreundin und deren Kreis. Es gab einen Kegelclub, der sich einmal in der Woche traf, später bildete sich eine Gruppe von Eltern, die mehr unternahm als nur an irgendwelchen Schulveranstaltungen teilzunehmen.
Rosi war rasch wieder schwanger geworden. Wir haben uns sehr gefreut, weil wir wussten, dass erst ein zweites Kind eine Familie aus uns machen würde. Sie gab den Nebenjob auf, ich wurde unerwartet schnell befördert. Schon mit meinem Einstieg in die Verwaltungslehre hatte ich einen Bausparvertrag abgeschlossen, und mit den Förderungen, die ich als Beamter bekam, bauten wir bald ein eigenes Haus draußen am Rand des Dorfes, das jetzt eine Kleinstadt ist. Wir fanden ein Grundstück von fast zwölfhundert Quadratmetern Größe zwischen dem wachsenden Gewerbepark und dem Naturschutzgebiet, auf den wir einen Bungalow setzten, der dem Geschmack der Zeit entsprach. Natürlich haben wir damals nicht daran gedacht, das Haus jemals wieder zu verkaufen, aber als auch Martin ausgezogen war, beschlossen wir, wieder in die Stadt zu ziehen. Es war uns auch gar nicht bewusst, wie wertvoll unser Eigentum geworden war, nachdem ein neuer Flächennutzungsplan dafür gesorgt hatte, dass unser Haus das einzige am Waldrand sein würde und der Gewerbepark einer Reihenhaussiedlung Platz machen musste. Mit dem Verkaufserlös konnten wir uns nicht nur die Wohnung in der Stadt kaufen, es blieb genug übrig, um Geld anzulegen und mit den Kapitalerträgen die Pension aufzubessern.
Nicole hatte mich ausgelacht, als ich ihr von meinen Reiseplänen erzählte. Das ist doch nichts für dich, Papa, sagte sie. Du wirst dich da nicht wohl fühlen, es wird dir alles fremd sein. Und: Mit wem willst du denn reden. Nicole hatte gut lachen, sie war rumgekommen. Sie war ja unser Wunderkind, legte mit knapp siebzehn, sie hatte zwei Klassen übersprungen in ihrer Schulzeit, ein glänzendes Abitur hin, absolvierte eine Lehre als Reisekauffrau, verbrachte je ein Jahr in Australien, in Kanada und in Spanien und war mit fünfundzwanzig Chefeinkäuferin eines internationalen Tourismuskonzerns – eine brillante Karriere, auf die wir sehr stolz waren. Nicole neigt mir gegenüber zur Überheblichkeit, das war schon immer so, aber damit kann ich leben, weil ich nicht nur den angemessenen Vaterstolz habe, sondern sie mit all ihren Fähigkeiten und Erfahrungen bewundere. Sie hatte mir von Guadeloupe abgeraten und gesagt, ich wäre sicher besser in der Dominikanischen Republik aufgehoben, wenn es denn unbedingt die Karibik sein sollte. Da sprach man wenigstens überall deutsch in den All-Inclusive-Clubs, da würde sie sicher auch etwas für mich arrangieren können. Nicole hatte überhaupt nicht verstanden, warum ich diese Reise machen wollte.
Nicole über den verschwundenen Vater
Walter war drei Tage überfällig. Er hatte zwei Wochen Aufenthalt gebucht und hätte am Freitag wieder in der Stadt sein müssen. Ich war nur deswegen angereist. Nun war es bereits Sonntag. Ich hatte vor, ihn am Flughafen abzuholen, um zu hören, wie es für ihn war auf Guadeloupe. Er hat sich in der ganzen Zeit nicht einmal gemeldet, sagte Martin. Auch er war am Freitag extra gekommen aus Hannover, hatte sich sogar einen Tag Urlaub genommen. Und dann kam Walter nicht. Martin fand das ganz okay und sagte: Der Alte hat wahrscheinlich verlängert, weil’s so klasse ist auf der Insel. Ich machte mir Sorgen, denn mein Vater hatte sich nach dem Tod von Rosi meiner Meinung nach sehr verändert. Keine Ahnung, was in einem Mann vorgeht, der seine Frau nach über vierzig Jahren Ehe verliert, der vorher seinen Job hat aufgeben müssen und dem die jüngste Tochter weggelaufen ist. Irgendetwas sagte mir, dass es in der ungewohnten Atmosphäre der Karibik eine Kurzschlussreaktion gegeben hatte, dass ihn die Umstände aus der Bahn geworfen hatten, dass etwas vorgefallen sein musste. Auf den Gedanken, dass er einfach nur verlängert hatte, kam ich nicht.
Wie gesagt: Ich traf Martin Freitagnachmittag in einem dieser schicken Cafés auf der Prachtstraße. Er begrüßte mich überschwänglich und nannte mich Schwesterchen. Das habe ich immer an ihm gehasst, diese Theatralik, die er wie Zuckerguss auf jedes Ereignis schmiert. Wir saßen in der ersten Etage direkt an den großen Fenstern und konnten durch die entlaubten Bäume der Allee auf den Graben sehen, der die beiden Seiten der Straße voneinander trennt. Martin legte seine Hand auf meine und sagte: Nun mach dir mal keinen Kopf, der kommt schon wieder. Vielleicht hat er ja eine Frau kennen gelernt auf dieser Insel. Wer weiß, vielleicht kommt er ja seit Wochen nicht mehr aus der Koje und vögelt, was das Zeug hält. Martin, sagte ich, bitte, zum Glück sind nicht alle Männer so auf Sex fixiert wie du. Unser Vater schon gar nicht. Weißt du’s? gab er zurück. Ich zog meine Hand weg. Ich würde gern wissen, was mit ihm ist. Na, dann rufen wir halt an, ist doch klar. Ach ja, sagte ich, und wo genau rufen wir an? Martin griff in die Innenseite seines viel zu leichten Leinenjacketts und zog ein mehrfach gefaltetes Papier heraus: Club de Paradis, St. Anne; hier die Adresse und eine Telefonnummer. Ganz einfach. Ich trank einen Schluck von meinem Milchkaffee und sah ihn über den Rand der Tasse an: Ganz einfach, ja? Martin nickte heftig und setzte dann dieses überlegene Grinsen auf, für das ich ihn als wir so zwölf, vierzehn waren, ein paar Mal böse verdroschen habe.
Walter über den ersten Kuss
Als ich später mit Gwen darüber sprach, verstand sie sofort. Ich musste nicht viele Worte machen, ich konnte ihr einfach sagen, was mich bewegt hatte nach Rosis Tod. Sie nickte bloß und sagte: Das war eine gute Idee. Dann lächelte sie mich an, schlang ihre dunklen Arme um meinen Hals und küsste mich lange auf den Mund. Dass wir überhaupt darüber sprachen, war die direkte Folge davon, dass wir uns miteinander verständigen konnten. Gwen war nicht von Guadeloupe, sie war auf Dominica geboren und aufgewachsen, wo man englisch spricht, wo in den Schulen Wert daraufgelegt wird, dass die Kinder ein gutes Englisch lernen, eine sehr britische Aussprache, und nicht diese kreolischen Dialekte, in denen sich mindestens vier Sprachen mischen.
Ganz am Ende des Strandes streckte sich eine felsige Landzunge ins klare Meer, der Sand war vom Wind zu einem flachen Hügel aufgeworfen, auf dem in regelmäßigen Abständen junge Palmen standen. Die wenigen Menschen hier lagerten in großen Abständen, und es war sehr ruhig. Ich saß da im Sand und blickte auf die kleine Lagune, auf das Wasser von der Farbe eines Swimmingpools in Hollywood. Den Moment, in dem ich das erste Mal ins Meer steigen würde, wollte ich möglichst lange hinauszögern. Es schien mir respektlos, einfach die Sachen auszuziehen und in die seichten Wellen zu laufen. Langsam veränderte ich meine Position, bis das warme Wasser meine Füße umspülte. Ich fühlte mich sehr einsam in diesem Moment.
Natürlich habe ich auch Musik gemacht als junger Kerl. Wir haben damals alle Musik gemacht. Die einen konnten ein paar Griffe auf der Gitarre, diejenigen, die unmusikalisch waren, spielten Schlagzeug. Ich gab den klassischen Bassisten in einer Band, die vor allem die einfachen Songs von den Troggs und anderen Gruppen nachspielte. Die Werkstatt von Mannis Vater diente uns als Probenraum. Wir bauten die Verstärker zwischen den Werkbänken auf und spielten einfach drauf los. Ich glaube, wir sind insgesamt vier Mal öffentlich aufgetreten; zweimal im Jugendclub der katholischen Gemeinde, einmal bei einem Nachwuchswettbewerb und dann noch einmal im Festzelt auf der Kirmes unseres Stadtteils. Wir konnten sieben Stücke, und ich schätze, wir waren ziemlich schlecht. Peter war der Einzige, der die Musik ernstnahm. Als er in eine andere Band wechselte, die es zu einigem regionalen Ruhm brachte, war es vorbei mit unserer Musikerkarriere. Meinen Bass habe ich immer noch.
Unser Viertel war auf eine unangenehme Weise berühmt, in der Schule galten wir als Spießerkinder. Man nahm uns nicht ernst, und einige von meinen Freunden versuchten das zu kompensieren, indem sie viel um die Häuser zogen, soffen und kifften und wilde Partys veranstalteten, die nur dann als gelungen galten, wenn nach Mitternacht die Polizei die Veranstaltung zwangsweise beendete. Ich hielt mich da raus, ich trank eher wenig und rauchte kein Haschisch. Ich wäre wahrscheinlich als Oberspießer durchgegangen, wenn ich nicht mit sechzehn der erste gewesen wäre, der ein Motorrad besaß. Meine erste Maschine war eine zweihundertfünfziger DKW, die ich eigentlich noch nicht hätte fahren dürfen – ich war ja noch keine achtzehn und hatte auch keinen Einser-Führerschein. Ich nahm stolz die Rolle des Bikers ein, trug nur noch Lederklamotten und machte einen auf Rocker. Als ich Rosi zum ersten Mal im Jugendclub sah, sie war dreizehn und ich siebzehn, war ich auf einen Schlag verliebt. Sie fand mich eher komisch, und unser erstes Gespräch bestand nur aus einer Frage und einer Antwort: Na, zum ersten Mal hier? Mmmmh.
Rosi hatte in dem Alter schon das, was man eine erotische Ausstrahlung nennen könnte. Sie war sehr weit entwickelt für ihr Alter, hatte also schon einen richtigen Busen. Klein war sie und stämmig, ein rundes Gesicht mit ganz hellen Augen, die ihre Farbe wechseln konnten. Bei unserer zweiten Begegnung verliebte ich mich unsterblich in ihren Mund. In ein paar voller Lippen, die ständig in Bewegung waren. Nicht dass sie pausenlos geredet hätte, eher im Gegenteil, aber dieser Mund war wie ein Anzeigeinstrument. Die Mundwinkel konnten in Sekundenbruchteilen von ganz oben nach ganz unten fallen, auch wenn ihre Augen weiter strahlten, lag dann sofort etwas Missmutiges, Trauriges in ihrem Blick.
Der erste Kuss war eine Sensation. Es gehörte damals zum Sommerritual während der Kirmes jeden Abend an der Raupe abzuhängen. Die Raupe war der Ort, wo die richtige Musik lief, also die Stücke der aktuellen Hitparade. Das Karussell bestand aus einer Schlange aneinander gekoppelter Wagen für je zwei Personen, das leicht schräg stand und ziemlich schnell fuhr. Rundherum gab es hölzerne Rampen. Auf der einen Seite standen die Jungen, auf der anderen die Mädchen. Die Aufgabe der Jungen bestand darin, nach langen Diskussionen mit den Kumpeln, welche von denen denn eine scharfe Braut sei, hinüberzuschlendern und die besagte scharfe Braut zu einer Runde einzuladen. Während der Fahrt wurden Baldachine über die Wagen gezogen, sodass man ein paar Sekunden unbeobachtet und im Halbdunkeln fuhr. In dieser Zeit wurde geküsst, zu mehr langte es nicht. Rosi stand mit ein paar Freundinnen da, sie redeten miteinander und kicherten wie Mädchen es tun, ich lehnte ein wenig abseits am Geländer und schaute mir die Situation nur an. Dann entdeckte sie mich, erkannte mich wieder und winkte mir zu. Ich winkte zurück. Ich war zu schüchtern sie einzuladen und ging einfach weg. Sie holte mich an der Schießbude ein und sagte: Hallo. Ich sagte auch: Hallo. Schießt du mir einen Teddy? Ich kaufte mir zehn Schuss und räumte das Tonröhrchen an dem Stofftier ab, das sie ausgesucht hatte. Sie lachte laut, als ihr der Schießbudenbesitzer den Bären gab und hüpfte vor Freude. Dann nahm sie meinen Arm, zog mich um die Ecke hinter das Bierzelt und küsste mich auf den Mund.
Die Männer am Strand trugen entweder knielange Boxershorts oder ganz winzige Badehosen, die Frauen hatten minimale Bikinis an, meist solche, bei denen der Hintern nicht bedeckt ist. Eine dunkelhäutige Frau von vielleicht vierzig Jahren, gut gerundet, mit einem dunkelbraunen Badeanzug sah aus wie nackt als sie aus dem Wasser kam. Ich schämte mich für meine altmodische dunkelblaue Schwimmhose mit den weißen Streifen an der Seite und den angesetzten Beinen und beschloss, mir eine neue Badehose zu kaufen. Ich wollte auch so ein knappes Teil haben, ich war sicher, dass ich es mir leisten konnte, denn ich habe mich ganz gut gehalten.