Das Gewitter konnte sich nicht lösen. Über Tag war es schwül geworden. Jetzt hingen dunkelgraue Wolken wie reife Trauben über der Stadt. Aus allen Richtungen war fernes Donnergrollen zu hören, und überall am Horizont zeigte sich seit Stunden Wetterleuchten. Die Familie hatte sich im Wohnzimmer versammelt. Die Mutter und der älteste Sohn waren im Krankenhaus, wo der Vater zum zweiten Mal innerhalb dreier Wochen operiert wurde. Zuhause warteten die beiden anderen Kinder auf Nachrichten aus der Klinik. Tante Dora und Onkel Hermann passten auf den mittleren Sohn und die kleine Schwester auf. Außerdem waren auch Onkel Martin und Tante Lotte anwesend sowie Frau Binder, die alte Nachbarin, und Herr Roeder, Arbeitskollege und guter Freund des Vaters. [Lesezeit ca. 6 min]

Die Tür zur Terrasse war geöffnet, und ab und an zog eine leichte Brise ins Zimmer. Die Kinder spielten leise Halma, die rollenden Würfel gaben das einzige Geräusch. Die Erwachsenen schwiegen. Tante Lotte hatte Kaffee gekocht, aber die Männer tranken wortlos Bier aus Flaschen. „Wird schon“, sagte Onkel Hermann und tätschelte dem Mädchen auf dem Weg zum Kühlschrank in der Küche den Kopf. Obwohl die Wolken den Juni-Abend schon früh verdunkelt hatten, hatte niemand eine Lampe eingeschaltet. Man saß in der Dämmerung; die Erwachsenen am Esstisch, die Kinder auf dem Teppich. Nur Onkel Martin hatte seinen Lieblingsplatz auf dem Cocktailsessel am Fenster eingenommen.
Schon seit Monaten hatte der Vater über Bauchschmerzen geklagt. Er habe Magengeschwüre, hatte Dr. Eckstein gesagt, und nach mehreren Wochen Behandlung mit verschiedenen Medikamenten und dem Ratschlag, auf das Rauchen und Alkohol zu verzichten, erklärt, der Vater müsse operiert werden. Die Mutter hatte einmal beim Abendbrot gesagt: „Ach, das hast du deinem unsoliden Lebenswandel zu verdanken.“ Er hatte nur gelacht und seine ordentliche Portion Fleischsalat aufgegessen, um später das fettige Essen mit einem Gläschen Slivowitz verdaulich zu machen.
Im Krieg
Der Vater hatte im Krieg viel Glück gehabt. Im Spätherbst 1940 mit gerade einmal siebzehn Jahren hatte er sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Wie er später sagte, um als Unteroffizier von den schlimmsten Einsätzen verschont zu bleiben. Nach der Ausbildung hatte man ihm dem Afrikakorps zugeteilt, im September 1941 war er nach Tripolis in Libyen gekommen. Gerade rechtzeitig, um an der zweiten Schlacht von El Alamein teilzunehmen. Kaum an der Front angekommen, geriet der Vater in britische Gefangenschaft. „Ich bin stolz darauf“, erzählte er, „nie einen scharfen Schuss auf einen Gegner abgefeuert zu haben.“
Weil die Briten mit der Zahl der Kriegsgefangenen überfordert waren, wurden viele deutsche Soldaten aus Afrika nach Australien gebracht. Sieben Wochen seien sie mit dem Schiff unterwegs gewesen, berichtete der Vater. In der Nähe von Adelaide seien sie in ein Lager gekommen, das sie dann selbst hatten errichten müssen. Nur drei Monate später, also im März 1943, seien die deutschen Kriegsgefangenen aber in die USA ausgeflogen. Sie landeten in einem gerade fertiggestellten Lager am Rand der Kleinstadt McLean im texanischen Panhandle. Dort waren zuletzt rund dreitausend Deutsche untergebracht, die als Prisoners of War den umliegenden Farmen als Helfer zugeteilt wurden.
Der Vater nutzte die Zeit, nicht nur perfekt Englisch zu lernen, sondern sich rundum fortzubilden. Denn er hatte die Schule in seiner Heimatstadt Stettin nach der zehnten Klasse verlassen und eine Maurerlehre begonnen, die er aber wegen der Ausbildung bei der Wehrmacht nach knapp zwei Jahren abbrach. Es sei ihm in Amerika sehr gut gegangen, erzählte er oft. Die Unterbringung sei recht komfortabel gewesen, das Essen reichlich und gut. Nur einmal, da habe es einen Versorgungengpasse gegeben, und die Gefangenen hätten wochenlang kaum etwas anderes als Ananas und Corned Beef aus Dosen bekommen. Deshalb habe er diese beiden Dinge nie wieder essen können.
Kurz nach Kriegsende wurde das Lager McLean aufgelöst. Der Vater kam nach England auf einen Bauernhof im kleinen Dorf Coackley Clay in der Grafschaft Norfolk. Dort wurde er bald behandelt wie ein Sohn. Er bekam Zivilkleidung, und sogar den Führerschein ließ ihn der Bauer machen. Vielleicht hatte er sogar mit einer der Töchter angebandelt. „Wahrscheinlich wäre ich so oder so dageblieben“, meinte er einmal, „Ich fühlte mich da zuhause, mich zog nichts mehr nach Deutschland. Aber dann erfuhr ich über den Suchdienst des Roten Kreuzes, dass meine Stiefmutter auf der Flucht in Schleswig-Holstein gelandet war. Und die wollte ich unbedingt sehen.“
Verliebt, verheiratet
Die Behörden hatten ihm die Reise erlaubt, und so traf er wenige Tage vor Weihnachten 1947 im nordfriesischen Langenhorn ein, wo die Stiefmutter auf dem Hof des Bauern Gustavson untergebracht war. Ebenfalls dort einquartiert eine junge Frau aus Ostpreußen mit ihrer Mutter. Sie verliebten sich ineinander. Der Vater beantragte die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, ohne noch einmal nach Coackley Clay zu kommen. Fand eine Stelle als Maurer in Kiel, wo er wie die anderen Bauarbeiter in einer Baracke wohnte. Jedes Wochenende fuhr er am Samstagnachmittag mit dem Zug und dem Bus quer durch Schleswig-Holstein nach Langenhorn, fünf Stunden dauerte die Fahrt.
Im Mai 1948 teilte ihm die Mutter mit, dass sie schwanger sei. Sie heirateten so schnell es nur ging. Und schmiedeten Pläne. Ein rheinischer Bauunternehmer kam nach Kiel, um Arbeiter abzuwerben mit dem Versprechen, dass jeder, der bei ihm anfinge, eine Wohnung für die Familie im ersten Haus bekäme, dass bewohnbar gemacht wurde. Der Vater nahm an. Der Sohn wurde im Oktober geboren, da lebte die Familie mitsamt der Großmutter in einem umgebauten Pferdestall am Rande der Stadt.
Es kann sein, dass der Vater mit der Situation überfordert war. Die Jahre zwischen dem sechzehnten vierundzwanzigsten Lebensjahr hatte er im Krieg und in Gefangenschaft verbracht. Ein normales Erwachsenenleben kannte er nicht. Und nun war er Familienvater und musste für Frau und Kind sorgen. Wo er doch viel lieber erst einmal das Leben genossen hätte. Vermutlich beschloss er in diesen Jahren, beides zu sein: treusorgendes Familienoberhaupt und lebensfroher Mensch, der einiges nachzuholen hat.
Und er wollte Aufsteiger sein. Wurde in kurzer Zeit Maurerpolier und schloss 1953 ein Fernstudium als Bauingenieur ab. Dass er ausgerechnet Willi Schössken kennenlernte, den Juniorchef einer örtlichen Brauerei und genauso lebenslustig wie der, bestimmte seinen weiteren Lebensweg. Willi feierte gern und viel, war im Karneval aktiv und hatte sogar als Prinz amtiert. Der stellte den Vater als Hausarchitekten ein, denn es gab Dutzende Gastwirtschaften von den Kriegsfolgen zu befreien, zu renovieren und neu einzurichten. Dafür war der Vater von 1955 bis zu seinem Tod verantwortlich. Nur ein Wohnhaus plante und betreute er als Bauleiter, dazu das schlichte Verwaltungsgebäude der im Krieg schwer getroffenen Brauerei.
Unsolider Lebenswandel
Wann immer eine Wirtschaft fertig war, wurde Eröffnung gefeiert. Die Kinder verbanden das Wort „Eröffnung“ damit, dass Vati abends nicht da und am nächsten Tag kaum ansprechbar war. Nur selten ging die Mutter mit, der solche gesellschaftlichen Anlässe überhaupt nicht lagen. Und weil man in einer Kneipe war, wurde gequalmt, gesoffen und fettiges Zeug gefressen. Um das Jahr 1960 herum gab es beinahe wöchentlich Eröffnungen. Starker Raucher war der Vater schon seit den Zeiten als Kriegsgefangener; nicht selten rauchte er mehr als zwei Packungen Ernte 23 am Tag. Und nachdem ihm Dr. Eckstein das schon einige Jahre zuvor verboten hatte, war er auf Zigarren umgestiegen. „Die raucht man ja nicht auf Lunge“, sagte er dazu.
Die offizielle Aussage des Krankenhauses zur Todesursache war, dass es beim zweiten Versuch, die gefundenen Geschwüre zu entfernen, zu starken, nicht mehr aufzuhaltenden Blutungen gekommen sei, dass der starke Blutverlust zum Zusammenbruch des Kreislaufes geführt habe, dass man den Patienten noch über einige Zeit zu reanimieren versucht habe, dass diese Versuche aber erfolglos geblieben seien und dass man den Tod am 10. Juni 1967 um 22 Uhr 31 offiziell festgestellt habe. Erst die Obduktion ergab, dass beim Vater eine schwere Gefäßschwäche vorlag. Und erst aus den Gesundheitsunterlagen, die Onkel Martin Jahre später bei den britischen Behörden angefordert hatte, fand sich der Hinweis, dass der Vater in Afrika eine Malariainfektion erlitten habe, die als Spätfolge genau eine solche Gefäßschwäche mit sich bringen könne. Später würde die Mutter anderen Leuten immer sagen, ihr Mann sei an den Spätfolgen des Krieges gestorben, habe aber vom Staat nie eine Entschädigung erhalten.
Es ist schon nach zehn, und noch immer hat es kein Gewitter gegeben. Onkel Martin ist auf seinem Sessel eingeschlafen. Immer noch hat niemand aus dem Krankenhaus angerufen, obwohl der Termin für die OP schon über fünf Stunden zurück liegt. Die kleine Schwester in schon im Bett. Und nun schickt Tante Dora auch den Jungen schlafen. Der teilt sich ein Mansardenzimmer unter dem Dach mit dem großen Bruder, der immer noch mit der Mutter in der Klinik ist. Der kleinere Bruder mag keine Gewitter und kann nicht einschlafen. Das Schlimme, hatte sein Bruder einmal behauptet, sei, dass Gewitter über der Stadt praktisch gefangen wären, weil sie immer zwischen dem Fluss im Westen und den Hügeln im Osten hin und her treiben würden. Deshalb dauerte sie so lange. Erst als gegen Mitternacht kein Donnergrollen mehr zu hören und kein Wetterleuchten mehr zu sehen ist, schläft der Junge ein.
Todesnachricht
Und wird am frühen Morgen, lange bevor sein Wecker läutet, von der Mutter geweckt, die an seinem Bett steht und ihn wachrüttelt. „Der Vati ist gestorben“, sagt sie. Der Sohn versteht nicht, was sie meint. Er hat keine Vorstellung davon, dass der Vater sterben könnte. Und während die Mutter weinend vor ihm steht, wird ihm langsam klar: Vati ist tot. Und fragt nach einer Weile: „Muss ich trotzdem in die Schule?“