Er umklammert das Lenkrad, dass die Knöchel weiß werden. Ist wütend, weil er gar nicht hier sein will im Stau. Jetzt stehen sie schon seit fünfunddreißig Minuten auf der A5. Umgeben von lauter anderen Idioten mit merkwürdigen Kennzeichen. Jennifer lehnt benommen auf dem Beifahrersitz an der Seitenscheibe. Die Kinder hängen stumm in ihren Isofix-Sitzen auf der Rückbank. Nachdem sie sich vorher gut zwei Stunden nur gestritten haben, sich gegenseitig das Spielzeug an die Köpfe geworfen, geweint, geschrien. Die Klimaanlage schafft es kaum noch, die Hitze draußen zu halten. Das Außenthermometer zeigt fast fünfunddreißig Grad an diesem ersten Ferientag in dieser Region. Jens fand die Idee von Anfang blöd. Ihre erste gemeinsame Reise nach so vielen Jahren noch einmal zu machen, dieses Mal mit den Kindern. Ihn reizte es überhaupt nicht, noch einmal auf der Insel Camping zu machen. Damals war es gut, aber es würde sich nicht wiederholen lassen. Die Fähre in Genua würden sie ohnehin nicht mehr pünktlich erreichen, aber man kann ja jetzt online umbuchen. [Lesezeit ca. 17 min]
Es war der Urlaub ihres Lebens. Sie waren jung, optimistisch und verliebt. Und er hatte ein Auto. Auf Korsika waren sie gekommen, weil Jennifer den Beinamen so schön fand: Ile de Beauté. Sie hatten viel Zeit und wenig Geld. An den ersten Tagen auf dem Campingplatz außerhalb von Calvi ging schief, was schiefgehen konnte. Beide Luftmatratzen waren undicht, und sie schliefen in den folgenden sechs Wochen auf Isomatten oder den ausgebreiteten Schlafsäcken. Der Gaskocher flog ihnen am zweiten Morgen um die Ohren. Also gab es immer nur kalte Milch zum Frühstück. Restaurants konnten sie sich nicht leisten, Cafés nur alle paar Tage. Sie ernährten sich vorwiegend von Baguette mit Käse und Schinken und hatten jede Nacht Sex. Tagsüber auch. Am liebsten draußen. Wie am Strand dieser menschenleeren, halbrunden Bucht, an dessen Rand sie zehn Tage verbrachten. Kleidung trugen sie nicht mehr, und wenn es nicht zu heiß war, taten sie es mit den Füßen im Wasser, während oberhalb ein paar Kühe zusahen. Sie kamen sich vor wie Entdecker, Abenteurer, die letzten Menschen auf Erden und die ersten. Sie suchten keinen Kontakt mit den Einheimischen und schon gar nicht mit anderen Touristen. Sie lebten im Jetzt und sprachen vorwiegend von der Zukunft. Denn die Vergangenheit hatten sie schon abgehandelt.
Jona weint leise vor sich hin, und seine Schwester brüllt: Der hat Durst! Jenny reicht ohne hinzuschauen die Trinkflasche nach hinten. Der Junge macht schwere Geräusche beim Nuckeln. Jara schreit: Ich auch! Ruhe jetzt, befiehlt Jenny kraftlos. Seit Minuten geht hinter ihnen die Sirene eines Notarztwagens, aber die Autos haben sich über die drei Spuren hinweg ineinander verkrallt. Und die besonders Rücksichtslosen blockieren die Standspur. Dabei ist die nächste Ausfahrt noch gut sechs Kilometer entfernt.
Eigentlich verstehen sie sich als Zwillinge. Dass ihrer beider Vornamen mit demselben Buchstaben beginnen und ihre Nachnamen auch. Dass sie sich ausgerechnet in Jülich begegnet sind. Und dass sie im Prinzip am selben Tag geboren sind. Während Jennifer kurz vor Mitternacht am 9. Juli zur Welt kam, gebar seine Mutter Jens genau vier Minuten nach Mitternacht am 11. Juli. Seit sie sich kennen feiern sie deshalb gemeinsam am Zehnten. Und natürlich endet ihr Autokennzeichen auf JJ 1007. Jennifer ist das ein bisschen peinlich, Jens findet es normal. Mag auch damit zusammenhängen, dass sie nicht normal aufgewachsen ist, er aber aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammt mit einem Unternehmer als Vater, einem sehr ernsthaften Mensch, der nicht müde wurde zu betonen, er habe das Geschäft damals ganz allein mit seinen eigenen Händen aufgebaut. Er sagte immer „das Geschäft“, obwohl es genau genommen sieben Geschäfte waren. Denn aus dem kleinen Tapetenladen in Düren war über die Jahre eine kleine Baumarktkette mit sieben Filialen und fast dreihundert Mitarbeitern geworden. Jennifer war dagegen in einer Kommune großgeworden, einer Sekte, erst auf einem großen Gut irgendwo in Österreich, dann auf einer Kanareninsel. Ihre Mutter hatte erst spät entdeckt, dass alle Mitglieder vom Guru missbraucht worden waren. Also flüchtete sie und musste Jennifer dafür sogar aus dem Kinderbereich entführen.
Jetzt laufen die Sanitäter mit ihren Notfallkoffern zwischen den Autos hindurch. Jens sieht sie im Rückspiegel kommen, und der eine hinterlässt einen langen Kratzer in der rechten Seite seines Kombis. Was war das? fragt Jenny. Die Kinder haben angefangen zu weinen. Er lässt den Motor wieder an, damit die Klimaanlage wieder genügend kalte Luft ins Wageninnere bringt. Am liebsten würde er jetzt nachsehen, wie schlimm der Kratzer ist. Aber traut sich nicht, das Auto zu verlassen. In geringer Höhe rast ein Helikopter über sie hinweg. Rechts neben der Standspur hat sich eine Gruppe von sieben, acht Männern zusammengefunden, die Zigaretten rauchen.
Natürlich sollte Jens das Geschäft übernehmen. Aber er hatte darauf bestanden, bis zum Abitur auf dem Gymnasium zu bleiben, und seine Mutter hatte ihn dabei unterstützt. Sie hatte ein eigenes Bild von ihrem Sohn, betrachtete ihn als einen sensiblen, kreativen Menschen, als Künstler. Und dass obwohl es dafür keine Indizen gab, außer dass Jens tatsächlich sehr empfindlich darauf reagierte, wenn ihn Menschen nicht ernstnahmen oder gar beleidigten. Am liebsten hätten ihn die Mutter als Musiker gesehen, den sie selbst war vor seiner Geburt auf dem Wege gewesen, den Durchbruch als Opernsängerin oder zumindest als Operettenkünstlerin zu schaffen. Jens war ihr enttäuscher Lebenstraum und ihre Hoffnung. Um das Bild aufrechtzuerhalten, half sie der Wirklichkeit mit Alkohol nach. Aber erst als Jens, damals in der Obersekunda, am Abendbrottisch verkündete, er wolle die Schule nun doch mit der mittleren Reife verlassen und eine Laufbahn als Verwaltungsbeamter einschlagen, brach sie endgültig zusammen. Sie starb mit nicht einmal vierzig Jahren in einer Klinik, in der sie einen Entzug durchführen sollte. Nachts hatte sie das Haus und das Gelände verlassen und wurde auf der Landstraße von einem Lieferwagen überfahren.
Es herrscht wieder Stille im Auto. Auch der Krankenwagen hat die Sirene abgestellt. Jenny öffnet das Fenster. Auch draußen ist es beinahe ruhig. Man hört die leisen Gespräche der Raucher am Rand der Autobahn, und aus verschiedenen Richtungen wehen Geräuschfetzen herüber, die von den Autoradios stammen, die hinter den geschlossenen Scheiben laufen. Jens kann das Lenkrad einfach nicht loslassen, so wütend ist er. Sie könnten schon seit Stunden im gewohnten Ferienhäuschen am See oben in Holstein sein, wo sie seit der Geburt der Kinder jedes Jahr zweimal hinfuhren. Er hätte schon den Grill vorbereitet. Während die Kinder im umzäunten Garten friedlich spielten, hätte Jenny schon ihren legendären Nudelsalat angerührt. Und das Bier stünde kalt. Am liebsten würde er einfach hier und jetzt runter von der Schnellstraße. Einfach querfeldein und weg. So wie Wolfram das getan hat, als er einmal mit seinen Motoradkumpeln in einen Stau geraten war.
Jens wurde auf Anhieb angenommen und begann seine Ausbildung in Aachen. Sie waren zu sechst. Sechs Männer zwischen sechzehn und vierundzwanzig wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das einzige verbindende Element war der Wunsch nach Sicherheit. In der Region waren die angestammten Industrien in kurzer Zeit zugrunde gegangen. Außer der Landwirtschaft boten sich nur wenige Branchen an. Tatsächlich waren drei von ihnen Bauernsöhne, die auf diesem Weg in die Stadt kommen wollten. Völlig aus dem Rahmen aber fiel Wolfram. Ein schmaler, großer Kerl mit langen Haaren, Schnäuzer, der immer eine Lederjacke trug und nichts ernstnahm. Natürlich hatte der ein Motorrad, eine Zweihundertfünfziger. Jens sah in dem Kollegen, der gut fünf Jahre älter war als er, eine Art Outlaw und fragte sich, weshalb eine solche Type unbedingt in die Verwaltung gehen wollte. Als sie auf einem Lehrgang in der Nähe von Kleve waren, erklärte Wolfram die Gründe. Sie waren noch auf ein paar Bier in den Ort gegangen und saßen in einer rauchgefüllten Gaststube am Stammtisch in der Ecke. Ist doch ganz einfach, begann Wolfram, brauchst dir nie wieder Sorgen um Geld zu machen. Hast einen Job und regelmäßig Kohle. Und wenn du keinen Ehrgeiz hast, dann sitzt du deine vierzig Stunden pro Woche ab, und tust außerhalb der Dienstzeit, was du willst.
Jemand klopft an die Seitenscheibe. Ein Kerl mit geflochtenem Bart und kleiner schwarzer Brille. Ey, fahr mal deinen Karren paar Zentimeter nach rechts; dann kommen wir durch. Im Rückspiegel sieht Jens eine Kolonne Motorräder und die Biker, die mit den Autofahrern sprechen. Plötzlich werden alle Motoren angelassen, und jeder versucht, seinen Wagen so zu manövrieren, dass doch eine Gasse entsteht. Er touchiert die Stoßstange des Reisemobils vor ihm nur leicht, trotzdem lockert sich das darauf befestigte Fahrrad. Jenny ruft: Was machst du? Ich muss mal, gibt Jona bekannt.
Die Mutter hatte Jennifer bei ihrer Schwester in Stolberg untergebracht. Tante Maria hatte eine Schneiderei mit drei Angestellten und fertigte vor allem Hochzeitskleider für das Landvolk in der Umgebung. Ihr Ruf reichte bis rüber nach Belgien. Und obwohl Jenny keine formale Schulausbildung hatte, nahm Maria sie als Lehrling an und ermöglichte es ihr, neben bei den Hauptschulabschluss nachzuholen. Für die Sechzehnjährige war das Leben in der kleinen Stadt unter diesen Bedingungen sehr anstrengend, aber immer noch besser als die letzten Jahre in der Kommune. Sie lernte Normalität kennen. Aber bald eckte sie regelmäßig mit ihrem Verhalten an, das durch eine Kindheit in der Sekte, die völlig außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft existiert hatte, geprägt war. Freiheit war der zentrale Begriff, den sie gelernt hatte, obwohl es unter dem Regime des Gurus individuelle Freiheiten nicht gegeben hatte. Aber mit allem, was man so tat, wie man sich benahm und kleidete, hatte sie Probleme. Hippie-Schlampe war noch die netteste Bezeichnung, die Gleichaltrige für sie hatten. Nur die Kolleginnen, lauter Frauen, deren Familien aus dem mittleren Osten stammten, nahmen keinen Anstoß an Jennys ungewöhnlichen Tun.
Plötzlich scheint sich der Stau aufzulösen. Die Raucher hasten vom Seitenstreifen zu ihren Wagen, die Kolonne auf der rechten Spur setzt sich in Bewegung. Auf dem Standstreifen rauschen vier, fünf Polizeimotorräder mit Blaulicht vorbei. Jona klingt dringend: Ich muss mal! Geht jetzt nicht, brüllt Jens nach hinten. Er zieht am Riesemobil vorbei und sieht das Hinweisschild auf die nächste Raststätte; fünf Kilometer sollen es sein. Hinter ihm bricht ein Auto aus und schwenkt auf die Standspur. Jens macht es dem Fahrer nach, und im Fahrradtempo ziehen sie an den anderen Fahrzeugen vorbei. Bis sich vor ihnen der Verkehr staut. Drei Wagen vor ihm sieht er einen englischen Oldtimer schräg über den Fahrstreifen ragen.
Musst du hören, hatte Wolfram ihm gesagt, klasse Truppe. Also fuhr er an einem schwülen Septembersamstag mit dem Bus nach Langerwehe, wo eine paar durchgeknallte Typen einen Landgasthof in einen Treffpunkt für Rockfans umgewandelt hatten. Am späten Nachmittag spielte sich noch alles draußen ab. Man hatte ein paar Boxen im Biergarten aufgehängt, und ein Diskjockey legte alle Hits auf, die gerade angesagt waren, und natürlich Oldies aus den Sechzigerjahren. Man trank helles Bier aus Glaskrügen oder Whiskey-Cola, nur die Mädchen blieben bei Limo oder Mineralwasser. Jens hatte sich ein Bier besorgt und stand am Rand der Menge. Da stieß ihn jemand von hinten, sodass der halbe Inhalt aus dem Krug schwappte. Mensch, da biste ja! Wolfram klopfte ihm auf die Schultern, dass er beinahe hinfiel. Hier, nimm n Zug. Hielt ihm einen dicken Joint hin, den Jens ablehnte. Dann drängte alles in den Festsaal. Die holländische Band spielte vor allem Coverversionen von Songs von Deep Purple und Black Sabbath. Es war stickig und heiß drinnen. Jens hielt sich im Hintergrund und holte sich irgendwann draußen an der Biergartentheke noch ein Bier. Niemanden hatte es im Freien gehalten. Ganz hinten am Zaun aber stand sie.
Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Aber sie erkannten sich rasch als diejenigen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Vermutlich trug Jens als einziger an diesem Tag eine Stoffhose und ein kariertes Oberhemd. Noch am Dienstag hatte er sich die Haare kurz schneiden lassen. Und dann diese junge Frau mit einer weiten Hose, die aussah, als habe man altmodische Vorhänge in Streifen geschnitten und zusammengenäht. Dazu ein viel zu großes, hellblaues Herrenhemd, auf dem Filzsterne und -monde befestigt waren. Sie kam direkt auf ihn zu, sah in ganz direkt an. Er konnte nicht mehr ausweichen. Hi, sagt sie, ich bin die Jennifer.
Der hat sich vollgepisst, verkündet Jara. Und Jenny langt durch die Lücke zwischen den Vordersitzen, um Jonas Hose zu befühlen. Iiiiiih, schreit Jara. Fahr raus, schreit Jenny ihren Mann an. Geht doch nicht. Müssen bis zur Raststätte. Sind nur noch ein, zwei Kilometer. Ein Polizist schreitet den Stau auf der Standspur ab und spricht jeden Fahrer durchs Fenster an. Als er bei Jens ist, verlangt er Führerschein und Fahrzeugpapiere. Hören Sie, sagt Jens, wir haben zwei kleine Kinder dabei. Da sind sie nicht die Einzigen, antwortet der Beamte. Sind Sie mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung in Höhe von 90 Mark einverstanden? Er ist so wütend, dass er nur noch starr nach vorne schauen kann. Jenny nimmt die Papiere und den Strafzettel an und fischt das Geld aus der Seitentasche. Jetzt schleusen die anderen Polizisten die Autos vom Seitenstreifen auf die rechte Spur, wo es i Schritttempo weitergeht. Jara trommelt auf dem Tisch ihres Kindersitzes herum und singt: Jona ist ein Pissschwein, Jona ist ein Pisschwein. Ihr kleiner Bruder weint still vor sich hin.
Jens war sechzehn als seine Mutter starb. Der Vater nahm den Verlust der Gattin scheinbar nicht schwer. Seine erste Maßnahme nach der Beerdigung bestand darin, eine Haushälterin einzustellen. Eine Frau mittleren Alters vom Bauernhof, deren Dialekt kaum zu verstehen war, die aber hervorragend kochen konnte. Immerhin gestattete es ihm der Vater, aus dem alten Kinderzimmer im ersten Stock in den Anbau umzuziehen. Jens renovierte beide Zimmer und auch das Bad und kam sich sehr erwachsen vor mit der eigenen Wohnung, der eigenen Haustür und dem eigenen Schlüssel. Die wichtigste Person in seinem Leben, auch schon vor dem Tod der Mutter, war die Oma, die nur wenige Kilometer entfernt in Niederzier in einem winzign Haus aus den ersten Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts wohnte, in dem sein Vater geboren und aufgewachsen war. Seine Großmutter galt den Nachbarn als moderne Frau, weil sie nach dem Tod ihres Mannes nicht auf schwarze Kleidung umgestellt und sich zuhause verkrochen hatte. Im Gegenteil: Sie begann zu reisen, machte mit fast sechzig den Führerschein und kaufte sich ein Auto.
Weil Jens sich weigerte, neben der Ausbildung im Betrieb des Vaters auszuhelfen, bekam er kein Taschengeld mehr. Da half die Oma aus, die das Erbe ihres Gatten in den Sechzigerjahren klug angelegt und so ein kleines Vermögen erreicht hatte. Mit ihr konnte Jens offen reden. Ich verstehe, dass du Beamter werden willst, hatte sie gesagt nachdem die Eltern von seiner Berufswahl auf unterschiedliche Weise entsetzt und enttäuscht reagierten. Sicherheit, hatte Oma gemeint, ist auch ein starker Wert. Für viele Menschen stärker als Freiheit und Abenteuer. Jens fühlte sich verstanden und liebte Oma Niederzier umso mehr. Vernünftig wie die alte Dame war, gab sie am Tag nach ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag den Führerschein bei der Kreisverwaltung ab. Sie sei nun genug rumgegurkt, gab sie an. Und ließ das Auto auf Jens überschrieben, der kurz vor seiner Führerscheinprüfung stand. Der Ford vom Typ 12 m aus dem Baujahr 1968 war hässlich, aber zuverlässig. Ein steingrauer Zweitürer mit nur 50 PS, aber einem riesigen Kofferraum. Oma hatte ihn über fünfundzwanzig Jahre vom Joseph warten lassen, dem Treckermechaniker und Tankwart, der seinen Laden eigentlich schon 1982 aufgegeben hatte. Weil der alle Verschleissteile immer regelmäßig ausgetauscht hatte und sorgfältig gegen den Rost gekämpft hatte, stand der Wagen prächtig dar, als Jens ihn übernahm.
Ein Schild signalisiert die Einfahrt zur Raststätte. Es gibt einen Rückstau bis auf die rechte Fahrspur. Jens schlägt mit den Händen aufs Lenkrad und gibt einen Laut von sich, der seine Familie erstarren lässt. Jenny weiß, dass es jeden Moment aus ihm herausbrechen kann, dass er jederzeit zu einer brüllenden Tirade ansetzen könnte, in der er die ganze Welt beschuldigt und zuletzt Jenny und die Kinder. Und vor allem, dass es Jennys Idee war, nach Korsika zu reisen, und dass sie die Kinder nicht im Griff hat. Jetzt hat er sich vollgeschissen, kräht Jara, ich riech das! Jenny hat das Seitenfenster geöffnet, aber der Gestank von Kleinkinddurchfall zieht nicht so einfach aus dem Wagen. Schnall dich wieder an, brüllt Jens seine Frau an die den Gurt gelöst und sich weit aus dem Fenster gelehnt hat. Nun mach mich mal nicht für diese Scheißsituation verantwortlich, sagt sie aus Versehen. Und damit löst sie genau das aus, was sie befürchtet hat und vermeiden wollte.
Bist du oft hier? fragte er sie, weil ihm nichts Besseres einfiel. Nein, zum ersten Mal. Ich geh nicht viel weg. Die Golnaz hat mich mitgenommen, die ist mit ihren Brüdern hier. Aha, sagte Jens. Und du? Auch zum ersten Mal. War mit einem Kollegen verabredet. Jenny stand nun einen Meter vor ihm, und er spürte, dass er zitterte und dass sie es merkte. Magst du die Musik? fragte sie. Nicht besonders. Und du? – Auch nicht. Willst du was trinken? Jenny nickte. Cola? Sie nickte erneut. Endlich konnte er sich aus der Ecke lösen, in der sie ihn gestellt hatte. Später saßen sie am Tisch unter der Linde ganz hinten. Drinnen gab die Band eine Zugabe nach der anderen, während sich Jenny und Jens aneinander gewöhnten. Ab Oktober trafen sie sich jedes Wochenende mindestens einmal. Meistens in Aachen, wohin sie beide gut mit dem Bus kamen. Gingen ins Kino, saßen in Eiscafés oder gingen bei schönem Wetter im Westpark spazieren.
Man muss es einen Wutanfall nennen. Jens lässt den Wagen einfach auf die Fläche hinter der Tankstelle rollen, trommelt mit den Händen auf dem Lenkrad und brüllt Unverständliches. Da bremst er abrupt, reist die Fahrertür auf und springt hinaus. Mitten auf einer Fahrspur quer durch den vollen Parkplatz steht der Kombi nun mit laufendem Motor. Jenny reißt die Handbremse hoch und versucht auf den Fahrersitz zu klettern. Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Die Hupen dröhnen, die Fahrer schimpfen. Also steigt sie aus und renn um die Motorhaube herum. Dabei sieht sie aus den Augenwinkeln Jens, der eine leicht abschüssige Wiese am Ende des Parkplatzes hinab läuft und dabei gestikuliert. Die Kinder weinen laut, als sie den Wagen endlich auf einen freien Platz bewegt hat. Sie schaltet den Motor aus und lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken.
Dann haben sich auch Jara und Jona beruhigt. Jenny steigt langsam aus und atmet tief durch. Der Gestank im Inneren ist fürchterlich. Vermutlich hat sich nicht nur der Kleine in die Hosen gemacht, sondern seine große Schwester heimlich und leise in den Fußraum gekotzt. Um sie herum entsteht Bewegung. Hektisch rennen die Leute zu ihren Autos, Hunderte Motoren werden gestartet und langsam setzt sich alles in Bewegung. Der Stau auf der Autobahn hat sich aufgelöst, der Verkehr fließt wieder. Aber Jens ist verschwunden. Also nimmt Jenny die Kinder und geht langsam den kleinen Hügel zur Raststätte hinauf. Leise Fahrstuhlmusik im Verkaufsraum; zwei ältere Herren am Stehtisch trinken Bier aus großen Gläsern. Auch auf der Damentoilette ist niemand mehr. Sie kann Jona in aller Ruhe saubermachen und ihm saubere Kleidung anziehen. Auch für Jara hat sie frische Sachen mitgebracht. Dann bringt sie die Beiden an einem Tisch am Fenster unter und sucht im Selbstbedienungsbereich nach geeigneten Getränken und passender Nahrung.
Anderthalb Jahre später hatte Jens seine Ausbildung erfolgreich beendet und wurde zum Verwaltungsinspektor z.A. ernannt. Noch am selben Tag fragte er Jenny, ob sie ihn heiraten wolle. Da waren sie beide noch nicht einmal einundzwanzig Jahre alt. Sie sah ihn verständnislos an und fragte: Warum? Na, antwortete er, damit wir zusammen Kinder haben und eine Familie werden können. Sie nickte langsam und sagte nur: Darüber muss ich nachdenken. Damals war aus ihnen schon ein Liebespaar geworden. Ende November hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Beide hatten keinerlei Erfahrung, und trotzdem war es schön und gut und in Ordnung wie sie da in seinem Bett im hinteren Zimmer nackt auf dem Laken lagen, sich berührten und dann instinktiv das Richtige taten. Gleich nach diesem Ereignis besprach sich Jenny mit der Tante, die ihr empfahl, die Pille zu nehmen. Nun schliefen sie regelmäßig miteinander, und manchmal blieb sie das ganze Wochenende über bei ihm.
Es war immer wieder Wolfram, der Motorradrocker und Kollege, der Jens animierte, etwas zu unternehmen. Von sich aus hätte er weder Konzerte besucht, noch Wochenendtrips unternommen oder sich Abende in Kneipen angetan. Jenny war meistens dabei. Aber alle Versuche Wolframs, ihn zu Kauf eines Motorrads zu überreden, scheiterten. Jens fuhr im grauen 12m, daran gab es nichts zu rütteln. Und weil er mit dem Auto unterwegs war, trank er keinen Alkohol. Das tat auch Jenny nicht, die ihn aber auf den Geschmack brachte, sodass er ab dem Frühjahr regelmäßig mit rauchte, wenn sie einen Joint gebaut hatte. Das Gefühl, ganz leicht bekifft zu sein, gefiel ihm, und er hatte nicht den Eindruck, es könnte seine Fahrtauglichkeit beeinflussen. Im September erneuerte er seinen Antrag, und Jenny sagte: Pass auf. Wir wollen doch im nächsten Sommer zusammen in Urlaub fahren. Machen wir doch Flitterwochen daraus. Heiraten wir vorher. Jens war glücklich und fand den Vorschlag äußerst gelungen.
Jens sieht seine Familie in der Raststätte. Bevor er an den Tisch kommt, holt er sich ein belegtes Baguette und einen großen Kaffee. Entschuldige, bitte, sagt er noch im Stehen und küsst seine Gattin leicht auf die Wange. Schon okay, sagt Jenny. Wird alles gut. Kinder sauber, kein Stau mehr. Er setzt sich und isst. Gibst du mir mal das Smartphone? Seine Frau reicht ihm das Telefon. Er schaltet es ein und wischt und tippt ein bisschen. Dann scheint er eine längere Botschaft zu verfassen. Wem schreibst du? Jens grinst und schüttelt den Kopf. Trinkt den Kaffee aus und geht mit dem Handy vor die Tür, wo er anscheinend ein längeres Gespräch führt. Jara und Jona sind satt und zufrieden. Komm, sagt Jenny, wir gehen noch ein bisschen auf den Spielplatz. Der Parkplatz liegt fast leer da, im Sandkasten eine Mutter mit ihrem Kind. Sie hat Eis besorgt, und die Kinder schlecken an ihren Portionen, während sie langsam ums Klettergerüst kreisen.
Die Hochzeit fand im kleinstmöglichen Kreis statt. Nur Wolfram und Golnaz begleiten sie als Trauzeugen aufs Standesamt in Aachen. Natürlich hatte sein Vater es rundheraus abgelehnt, an dieser – wie er es nannte – sinnlosen Zeremonie teilzunehmen. Tante Maria hatte nach Absprache mit Jennys Mutter ebenfalls abgesagt. Hinterher gingen sie um die Ecke in den Karlshof. Es gab Schnitzel Wiener Art mit lauwarmem Kartoffelsalat. Dann verabschiedeten sich die Trauzeugen, und Jens brachte Jenny nachhause, weil sie noch für die Reise zu packen hatte. Es wurde der perfekte Sommer. Die Fahrt nach Livorno verlief ruhig, die Autobahnen waren nicht allzu voll. Das Wetter war vom Tag der Abreise an durchgehend schön und mild. Die Insel begrüßte sie mit dem Duft der Macchia, den sie schon einige Meilen vor der Küste auf der Fähre schnupperten. Der erste Campingplatz an der Ostküste war schmutzig und laut, sodass sie nur eine Nacht blieben, um dann nach Calvi überzusiedeln.
Dort zelteten sie unter Pinien. Auch wenn ihre Luftmatratzen gleich in der ersten Nacht beide undicht wurden und sie über Woche auf Isomatten schlafen mussten, waren sie glücklich. Sie fanden eine Strandbude namens „U Pinu“, wo man sie schon am dritten Tag herzlich empfing, lagerten von morgens bis abends dort, holten sich Getränke bei Marie, der Tochter es Patron, oder ihrem Bruder Christophe. Mittags aßen sie Salada Nicoise oder Spaghetti oder Omelette. Alles war reichlich, lecker und erschwinglich. Jens hatte die winzigen Flaschen mit Kronenbourg-Bier für sich entdeckt, die kaum ein Glas füllten. Es wurde sein Lieblingsgetränk, und als Jahre später der Getränkemarkt in Würselen dieses französische Gebräu ins Sortiment nahm, begann er auch zuhause Bier zu trinken. Jenny bevorzugte den Rosé, den sie mit Wasser verdünnte. Nachdem ihnen auch der Gaskocher um die Ohren geflogen war, kamen sie schon zum Frühstück an den Strand, nahmen Café au lait und Croissants oder Brioches. Nach einer Woche fühlten sie sich sehr einheimisch.
Die Kinder sind beim gleichmäßigen Tempo eingeschlafen, und auch Jenny döst. Jens wechselt am Autobahnkreuz die Richtung, und keiner merkt es. Es sind auch noch dreihundert Kilometer. Zwischendurch wacht seine Frau auf und guckt ihn böse an. Schlaf weiter, sagt er, alles wird gut. Die Klimaanlage sorgt für angenehme Temperaturen, nur der sanfte Duft nach Kinderkotze und Durchfall beeinträchtigt das Fahrvergnügen.
Sie blieben noch eine Woche. Eigentlich war ja eine große Rundfahrt geplant, und die begannen sie an einem Montag. Der Patron hatte ihnen auf die Rückseite eines Handzettel, der für ein korsisches Konzert in einem Ort oben in den Bergen warb, eine Landkarte gezeichnet und Stellen markiert, die sie unbedingt besuchen sollten. Außerdem acht, zehn Restaurants und Bars, wo man ihn persönlich kannte. Dort sollten sie sich auf ihn berufen, es würde sicher helfen. So sahen sie alle bemerkenswerten Orte auf der Insel – die, in denen Massen an Touristen zu sehen waren, und die, an denen sie ganz allein waren. Sie aßen im Kreise von Jägern in dunklen Häusern oben in den Bergen oder bei Wirten, die ihren Patron kannten und ihnen in seinem Sinne gewaltig auftischten. Sie verliebten sich in die Ille de Beauté und wollten gar nicht wieder weg.
Als das Feuer kam, stand ihr Zelt auf einer kleinen Lichtung in der Macchia oberhalb von San Antonino. Den Ford hatten sie zwei-, dreihundert Meter weiter an der Straße geparkt. Und genau aus dieser Richtung näherte sich in der Nacht der Waldbrand. Vermutlich wurde das Auto zuerst Opfer der Flammen. Sie erwachten vom wütenden Fauchen des Feuerorkans. Wählten instinktiv den richtigen Weg, den steilen Berg hinab, auf den Bergbach zu, der für die Jahreszeit viel Wasser führte. Über ihnen wehten die Flammen über das schmale Tal. Links und rechts brachen verbrannte Bäume, während sie auf einem Felsen mitten im schnell fließenden Flüsschen hockten. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Die Landschaft war schwarz und roch wie glühende Grillkohle. Sie bahnten sich einen Weg weiter hinab. Überall lagen verbrannte Vögel und Kaninchen herum; ein Reh war offensichtlich erstickt, sein Kadaver dann nur zur Hälfte verkohlt. Die Sohlen ihrer Tennisschuhe schmolzen, und sie verbrannten sich die Füße.
Nach anderthalb Stunden, die Sonne war inzwischen aufgegangen, erreichten sie Algajola. Sie hatten alles verloren außer der Kleidung, die sie am Körper trugen. Es war klar, wer ihnen jetzt helfen konnte. Sie fuhren mit dem Bummelzug nach Calvi, der Fahrkartenverkäufer drückte ein Auge zu, denn er sah, dass die jungen Leute gerade dem Feuer entkommen waren. Im U Pinu kümmerte sich die Familie um sie. Natürlich könnten sie ein paar Tage auf dem Anwesen im Hinterland bleiben. Der Patron fuhr gleich mit ihnen hinaus. Am langen Tisch im gekiesten Hof saß nur eine alte Dame am Kopfende. Die Großmutter des Wirtes war damals bereits vierundneunzig Jahre als, fast blind und taub, aber immer noch stattlich und sehr aufrecht sitzend. Mama, sagte der Patron, das sind die Deutschen. Sie haben im Feuer alles verloren. Sie werden ein paar Tage bei uns wohnen. Er bedeute Jens und Jenny, die Hand der Frau zu küssen. Ja, ja, sagte sie dann, das Feuer…
Dann muss Jens noch einmal tanken. Natürlich wacht Jenny auf: Wo sind wir hier? Er grinst und antwortet nicht. Dann sagt er: Tut mir leid wegen vorhin, ich hätte nicht so rumschreien sollen. Bitte entschuldige. Schon gut, gibt seine Frau zurück, ich kenn dich ja ein bisschen. Jetzt erkennt sie das Schild der Raststätte und lacht. Du fährst uns doch nicht nach… Doch, doch, er grinst wieder. Na, schön. Jenny geht Eis für alle holen, und dann sind sie auf der Bahn, und die Sonne steht im Rücken.
Christophe wurde ihr Chauffeur. Brachte sie nach Bastia zum deutschen Konsul, wo sie provisorische Papiere beantragten. Sie würden ein kostenloses Flugticket bekommen, erfuhren sie, man habe einen Fond für die Opfer von Waldbränden auf der Insel eingerichtet. Schließlich käme ja keine Versicherung für den Schaden auf. In vier Tagen könnten sie Pässe und Tickets abholen und noch am selben Tag in die Heimat fliegen. Natürlich hatte die Familie sie eingekleidet, und natürlich nahmen sie jeden Abend am großen Essen teil, wenn sich nicht nur die drei Enkelsöhne und die Enkeltochter mit ihren Kindern versammelten, sondern einige Onkeln und Tanten sowie die Feld- und Waldarbeiter. Nach dem Kaffee begann der Patron meist, ein paar korsische Lieder anzustimmen, die von den meisten mitgesungen wurden. Er war als Volkssänger auf der ganzen Insel bekannt, die Musikkassetten mit seinen Gesängen kursierten überall. Der Abschied war tränenreich, und am Flughafen in Düsseldorf holte Wolfram sie ab und brachte sie nachhause.
Sie sprachen nicht sehr oft über diesen wunderbaren Urlaub, der so unglücklich endete, aber die Liebe zur Insel steckte ihnen tief im Herzen. Einmal noch überlegten sie, nach Calvi zu fliegen, einen Pauschalurlaub zu machen und ihre Freunde im U Pinu zu besuchen, mit denen sie jedes Jahr Weihnachtsgrüße austauschten. Aber dann wurde Jenny zum ersten Mal schwanger, und sie bliesen alle Urlaubspläne ab. Als dann Jana da war, stand für die Ferien im Vordergrund, keine weite Autofahrt unternehmen zu müssen, an einem schönen Ort zu sein in einem kinderfreundlichen Haus. Und so kamen sie auf den See, wo sie nun schon sieben Jahre nacheinander in einem Haus mit eigenem Bootssteg Urlaub machten.
Das Auto ist ausgepackt, Familie J. hat sich eingerichtet, und die Kinder schlafen schon. Die Sonne ist längst untergegangen, aber über den Tannen am anderen Ufer liegt noch ein Hauch Dämmerung. Jens und Jenny sitzen auf dem Steg und lassen die Füße im Wasser baumeln. Sie trinken Bier und reden nichts. Wird bestimmt wieder schön, wirst sehen, sagt er. Ja, antwortet sie, und nach Korsika reisen wir, wenn die Kinder groß sind.