Kunstmacht

Nachdem er sich um seinen Lebensunterhalt nicht mehr sorgen musste, hatte sich Thibaud nach langen Jahren wieder für die Kunst entschieden. Eines Tages rief er an und lud Zilly und mich in sein neues Atelier ein. Er hatte eine aufgelassene ALDI-Filiale in Friedrichstadt angemietet und seinen Wünschen entsprechend gestalten lassen. Die Schaufenster waren mit dunkelblauem Samt verhängt. Eine Klingel gab es nicht. Wir klopften an die Scheibe und warteten. Nach ein paar Minuten öffnete Thibaud und bat uns hinein. Der langgezogene Raum mit den weißlichen Fliesen war hellgrau lackiert. Während der vordere Teil im Dämmerlich lag, war das hintere Drittel durch Filmscheinwerfer hell erleuchtet. Dort standen zwei große Tisch, sicher zwei auf drei Meter groß. Der eine war leer bis auf einen flachen schwarzen Gegenstand, den anderen bedeckten mehrere Schichten aus Zeitungsseiten, großen Fotos, Karton und Papier verschiedener Struktur und Größe. Mir fiel sofort auf, dass außer Schwarz, Weiß, Grau und Rot keine anderen Farben vorkamen. Thibaud trug passend zum Ambiente einen feuerroten Overall. Er führte uns herum, ohne mehr zu sagen als dass das eine der Arbeitstisch, der andere dagegen der Kramtisch sei. Dann zeigte er im vorderen Teil auf eine Sitzgruppe und bat uns, Platz zu nehmen.

„Wein, Bier, Wasser?“ fragte er, und wir entschieden uns beide für Rotwein. Er holte Flaschen und Gläser aus einem Nebenraum, schenkte ein und setzte sich zu uns. „Und, wie findet ihr mein Atelier?“ Ich nickte anerkennend, und Zilly sagte etwa wie „beeindruckend“. „Hier,“ setzte er fort, „werde ich genau die Werke schaffen, von denen ich schon seit mehr als zwanzig Jahren träume. Eigentlich sogar schon seit meinem letzten Semester auf der Kunstakademie. Kommt, ich zeige euch den Prototyp.“

Er ging vor zum Arbeitstisch und deutete auf den flachen Gegenstand, ein Quader von etwa 80 mal 60 Zentimeter, knapp eine Handbreit hoch und auf den ersten Blick schwarz. „Es geht um Schichten. Wenn ihr genau hinseht, werdet ihr als Unterstes Ausrisse aus Zeitungen sehen, darüber ein transparentes Schwarzweißfoto. Die nächste Schicht besteht aus einer dünnen Lasur, in die ich mit dem Bleistift geschrieben und gezeichnet habe. Jetzt fehlt nur noch der Glanzlack.“ Zilly schaute skeptisch und trat näher. Ich folgte ihr, und als ich mir den Kasten von oben ansah, erkannte ich die Schichten. Ja, ich konnte die Zeitungstexte lesen, das Foto erkennen und auch das, was Thibaud darauf gekritzelt hatte. Das Foto zeigte einen nackten weiblichen Torso, und es schien mir, es könnte Ullas Körper gewesen sein.
„Natürlich werden die richtigen Bilder sehr viel größer,“ sagte Thibaud, „drei mal vier Meter oder noch größer. Es werden mehrere Fotoschichten vorhanden sein und natürlich Hunderte von Zeitungsausschnitten. Und vermutlich werde ich da und dort rote Symbole setzen.“ Natürlich lag mir die Frage auf der Zunge, was das denn solle, aber mir erschien das laienhaft und dumm. Außerdem würde Thibaud uns sicher erklären, was Sinn und Zweck dieser Kunstwerke sei.

Stattdessen sagte er nur: „Das ist die Macht der Kunst, dass der Künstler zu seiner Arbeit nichts sagen muss.“ Danach plauderten wir ein wenig und tranken Wein. Später komplimentierte er uns mit dem Satz hinaus „So, und jetzt muss ich noch ein bisschen arbeiten.“

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