In Wirklichkeit, sagte Thibaud unvermittelt, geht es doch um ganz was anderes. Und hielt inne. Wir warteten auf eine Fortsetzung des Satzes, eine Erläuterung, Erklärungen, Antwort, auf Argumente. Wir warteten darauf, dass er wie sonst zu einem Vortrag anheben würde, einem verschlungen Pfad aus Gedanken, Vorstellungen, aus ineinander verschachtelten Sätzen, die sich in Spiralen und Parabeln durch den Raum winden würden, bis am Ende niemand mehr weiß, wo der Ausgangspunkt lag. Aber Thibaud schwieg. Auf eine theatralisch-buddhistische Weise hatte er die Hände mit den Flächen nach oben vor sich auf den Tisch gelegt und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Wir alle ware unsicher, und eine Weile schwiegen auch wir. Bis Hanshubert aus dem Nichts heraus sagte, Ja,ja. Und Ellen mit einem Wißt ihr noch begann, über etwas zu reden, was mit Thibauds Statement nichts zu tun hatte. Aber in dem Augenblick, als Gernot oder einer der anderen aus der Runde auf das neue Thema einsteigen wollte, sprach Thibaud mit erhobener Stimme: Es geht um Leben und Tod.
Als wir im kleinen Innenhof hinter der Küche der Gastwirtschaft standen und Zigaretten rauchte, sagte Zilly: Ich weiß, was er meint. Er hat mir vor drei, vier Jahren einmal genau denselben Satz mit exakt demselben Zusatz vor den Kopf geknallt. Ansatzlos. Er sprach damals von der dünnen Membran zwischen der faktischen Realität und dem, was wir für wirklich und wahr hielten. Und dass man die Menschheit einteilen müsse in diejenigen, die das Leben lieben, nicht nur ihr eigenes, sondern das aller anderen Menschen und Lebewesen, und denen, die auf der Seite des Todes stehen und das Leben und auch sich selbst hassen. Mir war das, fügte sie an, seinerzeit ein bisschen zu esoterisch, zu theoretisch. Vor allem war ich darüber entsetzt, dass ausgerechnet Thibaud einen derart unpolitischen Quatsch mit großem Ernst vortrug.
Aber so ganz falsch liegt er nicht, sagte ich. Zilly nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe auf dem Boden aus: Jetzt fang du nicht auch noch so an. Mich hatte an Thibauds Satz am meisten das Wort Wirklichkeit gestört. Vor allem in diesem dummen Ausdruck In Wirklichkeit. Wer so eine Aussage beginnt, geht davon aus, dass alle, die ihm zuhören, nicht wissen, was wahr und wirklich ist. Nur er, der den Begriff verwendet, hat demnach den Durchblick. Nun war ich, genau wie die anderen unserer Gruppe, eine einigermaßen penetrante Arroganz bei Thibaud gewohnt. Aber selten hatte er uns wissen lassen, für wie dumm er uns hielt. Du siehst wütend aus, bemerkte Zilly als wir wieder hinein gingen. Bin ich auch.
Drinnen war aber offensichtlich niemand auf Thibauds Ansatz eingestiegen, und er hatte wieder diese alberne Guru-Pose eingenommen, während die Freunde am Tisch durcheinander und über alles mögliche redeten. Hilde hatte ein paar Flaschen von ihrem Tiroler Rotwein aus dem Keller geholt und uns serviert. Dazu Brot, Wurst und Käse. Wir aßen und tranken also und waren fröhlich, als Thibaud sich plötzlich erhob und laut in den Raum sprach: Seht ihr, das ist der Unterschied. Ihr esst und trinkt und redet miteinander, weil ihr Lebensfreunde seid. Todesliebhaber sind dazu nicht in der Lage, weil ihnen jede andere Person potenzieller Feind ist und sie ständig auf der Hut sind, sich keine Blöße zu geben, sich angreifbar zu machen, dass niemand erkennen kann, wer sie sind und was sie denken. Sie kommunizieren ausschließlich taktisch mit dem Ziel ihre Position zu verbessern. Deshalb lügen sie so viel, so oft und so unverfroren.
Jetzt hatte er wieder unsere volle Aufmerksamkeit. Und damit das funktioniert, setzte er fort, gaukelt man ihnen vor, es gäbe ein Leben nach dem Tod, ja, sogar ein viel besseres Leben als das hier auf Erden. Wer das glaubt, der wirft sein Leben gern weg. Das Leben zu lieben und gleichzeitig an ein Leben nach dem Tod zu glauben, das geht nicht zusammen. Das hatte es lange nicht mehr gegeben, dass die ganze Gruppe ihre Zustimmung durch Klopfen auf den Tischplatten äußerte; ausgenommen Heinzhubert, der ja immer noch von sich behauptete, er sei gläubig.