Nicht nur Zilly war erschrocken darüber, wie alt Thibaud wirkte, wie deprimiert, wie müde. Nun war er nach langer Abwesenheit zum dritten Mal wieder zum Treffen im Augustushof gekommen. Aber wieder saß er da vor seiner Weißweinschorle und schwieg. Er hatte sich verändert, so viel war sicher. Allein schon dass er kein Bier mehr trank. Und das Rauchen hatte er sich wohl auch abgewöhnt. Hilde fühlte sich bestätigt. Hatte sie doch damals, als Thibaud frisch verliebt und strahlend Irma vorstellte, gewarnt, die Frau werde ihm nicht gut tun. Dass aber zweieinhalb Jahre Beziehung ihn derart runterziehen würden, damit hatte auch sie nicht gerechnet. An diesem Abend waren wir zu zwölft, und es wurde insgesamt wenig geredet. Die beiden Päärchen in der Runde flüsterten miteinander. Hanshubert summte alte Lieder und wirkte unkonzentriert. Auch Zilly und ich waren ziemlich maulfaul nach einer Woche Workshop. Also aßen und tranken wir und machten ab und an kleine Bemerkungen. Als die ersten schon zahlen wollten, stand Thibaud plötzlich auf und hielt eine Rede wie in alten Zeiten:
„Ihr wisst ja, liebe Freunde, dass ich eure Gedanken lesen kann. Mir ist klar, dass ihr alle denkt, die Irma ist schuld an meinem Zustand. Aber das ist nicht wahr. Richtig ist, dass sie mich verlassen hat. Und ich kan es ihr nicht verdenken, denn was soll eine schöne, junggebliebene Frau mit einem alten, erschöpften Sack? Ja, auch Sisyphos ist irgendwann alt geworden. Wir wissen nicht, wie die Geschichte zu Ende gegangen ist, ja, nicht einmal, ob sie wirklich zu Ende gegangen ist oder ob der arme Kerl den Stein wirklich bis in alle Ewigkeit den Berg hochrollen muss. Denn wir wissen nicht, ob die Ewigkeit der griechischen Götter eine unendliche Ewigkeit war. Gut möglich, dass mit dem Ende der alten Griechen und ihrer Götter auch deren Ewigkeit zum Schluss gekommen ist. Natürlich ist Sysiphos nicht gealtert, der war ja schon tot. Aber die Strapazen müssen Spuren hinterlassen haben. Manche denken ja, die Frustration, also – wie man heute sagt – „der Frust“ müssten jemanden zusetzen, der über lange Zeit immer wieder denselben Stein rollt, dasselbe Brett bohrt, gegen dieselben Windmühlen reitet, gegen dieselbe Wand rennt. Ich sage euch: Nein, es ist nicht der Frust, die vermutete Sinnlosigkeit des Immerwiedertuns, es ist einfach die Anstrengung.
Natürlich wisst ihr, wovon ich rede. Ihr kennt mich so gut ich euch kenne. Nie war ich einverstanden mit diesem Zustand der Welt, und nie habe ich mich damit abgefunden, dass sie so ist wie sie ist. Ich habe immer daran geglaubt, dass man die Zustände verändern kann, wenn man die Zustände und ihre Ursachen nur richtig erkannt hat. Widerstand beginnt im Kopf und setzt sich mit der kritischen Beobachtung von Sprache fort. Binsenweisheiten und Worthülsen sind nicht bloß Launen der Sprache, sie sind Waffen, mit denen wir dumm gehalten werden sollen. Denn Floskeln und Phrasen sind allesamt Auswüchse einer Ist-nun-mal-so-Haltung, Ausdruck von Vorurteilen und Klischees. Wer nicht wahr redet, denkt auch nicht wahr. Das war mein erster Berg, die Sprache. Niemandem eine Phrase durchgehen lassen, jedes öffentlich gesprochene Wort genau nehmen, analysieren, zerpflücken und kritisieren. Das war mühsam, aber auch sehr erfüllend. Bis ich merkte, dass den meisten Menschen das völlig egal war.
Dann habe ich begonnen, gegen das Böse zu kämpfen. Ich erkannte es vor allem in den Rassisten, also den Faschisten, den Nazis. Ja, ich habe getötet. Dazu stehe ich bis heute. Und die Zeit im Knast hat mir letztlich gut getan. Antifaschistisch handeln, das schien mir wichtig. Bis ich erkannte, dass dieser ganze Rechtsradikalismus bloß ein Nebenwiderspruch ist. Wenn es die Antifa nicht gebe, würde sie sicher von den Geheimdiensten gegründet, denn junge, wilde Menschen, die sich nach der Räuber-und-Gendarm-Spiele dem Kampf gegen die Faschos widmen, haben ihren Popanz gefunden und weder Energie, noch Zeit, die real herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse anzugreifen. Als ich das aussprach, saß ich zwischen allen Stühlen. Die Nazis hassten mich für meine Taten, die Antifa für das, was sie einen Verrat an der Sache nannten.
Dann erkannte ich, dass das System, also die existierende, kapitalistische Wirtschafts- und Sozialordnung, bekämpft werden musste. Dass die einzige Möglichkeit, die Menschheit zu reden und allen Menschen zu ermöglichen, sich ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten zu entfalten, in der Abschaffung des Kapitalismus lag. Lose verbunden mit einigen Hundert gleichgesinnter widmete ich mich dem Boykott und der Sabotage. Es erfüllte mich, Sprengladungen an Strommasten anzubringen oder Datenbanken zu hacken und zu zerstören. Aber nichts änderte sich. Wieder und wieder fanden wir lohnende Angriffsziele, aber wieder und wieder bewirkten wir nichts. Das System nahm uns nicht ernst, ignorierte uns – die Schäden waren praktisch eingepreist.
Ich versuchte, tiefer zu gehen. Mich mit dem menschlichen Wesen an sich zu befassen, das Wesen des Menschen zu begreifen. Der Weg von der Psychoanalyse zur Esoterik war nicht weit. Mir schien, die Lösung läge in der Meditation. Die hatte ich bei meinen Kampfsporttrainings kennen gelernt. Ich begann zu meditieren. Aufzuwachen, um wieder zu meditieren. Meditation um der Meditation willen. Nichts wurde anders, nicht einmal ich selbst änderte mich.
Was blieb mir? Resignation? Suizid? Nein, ich wählte den Weg ins Private. Ließ mich ganz auf die Liebe, auf die Beziehung ein. Aber wie ein Leistungssportler, der nach dem Ende seiner Karriere nicht richtig abtrainiert, verfiel ich dabei. Und merkte es nicht. Irma warf mir vor, alles schwarz zu sehen, dauernd zu granteln, rechthaberisch und ungerecht zu sein. Und sie hatte Recht. Sisyphos hatte aufgehört, den Stein den Hang hinauf zu rollen. Weil er müde geworden war. Und jeder Tag, an dem er seine Arbeit nicht tat, machte ihn nur noch müder. Die Depression war eine gute Lösung, ein schroffe Höhle, aber wenigstens eine, die ihm allein gehörte, in der er tun und lassen konnte, was er wollte. Oder einfach nichts tun. Sinnlose Sinnfragen, mutlose Feigheit, Lähmung. Es wurde alles nur schlimmer.
Und dann wusste ich plötzlich wieder sehr genau, was wirklich wichtig ist für den Mensch: das Beisammensein mit anderen Menschen. Das Reden und Lachen. Gemeinsame Mahlzeiten. Tanzen. Zuschauen wie getanzt wird. Wie der Wolf in seinem Rudel. Deshalb bin ich hier. Im Aufbautraining mit und bei euch. Damit ich wieder antreten kann zum Großen Steinerollen. Ihr müsst gar nichts tun. Mich einfach lassen.“
Er lächelte, nahm einen großen Schluck Schorle und setzte sich wieder. Zilly hatte Tränen in den Augen, und Olaf applaudierte leise. Wir waren gespannt, wann Thibaud wieder anfangen würde mit seinem Sport.