„Ich habe es mir im Leben nicht leichtgemacht,“ sagte Spinks, senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen als sei er erschöpft. „Das sagt er immer,“ merkte Thibaud an und verzog das Gesicht. Wir kannten die Geschichte der beiden, zumindest Thibauds Sicht der Dinge, denn er hatte uns vor Längerem von Spinks erzählt. Sie hatten sich damals in einer dieser Szenekneipen kennengelernt und beschlossen, sich beim Pipeline-Bau in Alaska zu verdingen. Es hieß, hatte Thibaud erklärt, da könne man in ein paar Monaten ein Vermögen verdienen; zwar sei der Job hart, aber für 3000 Dollar die Woche müsse man eben mal etwas aushalten. Viele Kerle redeten in jenen Jahren von dieser Sache, ohne dass wirklich eine nennenswerte Anzahl tatsächlich in den Norden Amerikas zog. Bei Spinks und Thibaud gab es aber einen gewichtigen Grund: Sie wollten einen Verlag gründen, ein Medienhaus für sozialistische Zeitungen, für linke Bücher, die sonst niemand druckte. Sie wollten aktiv an der Revolution mitarbeiten. Sie rechneten damit, mehr als 100000 Dollar zu verdienen und spätestens nach einem halben Jahr zurückzukehren.
„Ludwig ist Schwierigkeiten immer aus dem Weg gegangen,“ bemerkte Thibaud in dessen Richtung. Spinks hob den müden Blick und schüttelte den Kopf: „Ich war und bin ein kranker Mann.“ Unser Gastgeber hatte uns diesen Ludwig Spinks als faulen, egozentrischen Hypochonder beschrieben. So hielt er auch kaum drei Wochen mitten in der Tundra weit nördlich von Fairbanks aus. Spinks war die Arbeit zu anstrengend und das Leben auf der Baustelle zu öde. Also kroch er als blinder Passagier auf einen Lastzug, mit dem er in den nächsten Ort kam, wo er ein Auto anhielt, dessen Fahrer ihn tatsächlich bis nach Anchorage mitnahm. Da man ihm noch keinen Lohn ausgezahlt hatte, bestand seine Reisekasse aus den knapp fünfzig Dollar, die er Thibaud gestohlen hatte. „Als wir uns viele Jahre später in Frankfurt trafen, wurde er nicht müde, von seiner Tour quer durch den Kontinent zu schwärmen,“ hatte Thibaud ergänzt.
Spinks habe sich in Richtung Süden durchgeschlagen und dabei mit Schnorren, Klauen und Betteln über Wasser gehalten. Und weil er in seinen jungen Jahren wohl ein gutaussehender Mann mit einem gewissen Charme war, fand er auch immer eine ältere Witwe oder eine Frau, deren Gatte sie verlassen hatte, die bereit war, ihn aufzunehmen, zu verköstigen und irgendwie für seine Dienste zu entlohnen. So sei er bis nach Mexiko gekommen, wo er in einem Ort abseits der großen Touristenströme zwischen Cancún und Cozumel gestrandet sei. Auch dort habe es eine Witwe gegeben, eine Hotelbesitzerin, fast zwanzig Jahre älter als er, aber – das betonte er immer wieder – eine wahre Schönheit. Und sie hätten sich ineinander verliebt. Ludwig erschien es, als sei er im Paradies gelandet: Strand, Sonne, kühle Getränke und auch Drogen der einen oder anderen Art. Marianna, so der Name seiner Geliebten, sei froh gewesen, ihn zu haben, prahlte Spinks damals, und er habe überhaupt nicht arbeiten müssen.
„Ich dagegen habe in der kalten Einöde malocht wie ein Muli,“ sagte Thibaud. Es sei ihm aber so gegangen wie allen kräftigen, jungen Männern beim Pipeline-Bau. Nach sechs Woche habe man sich an die Bedingungen gewöhnt. Dann sei man durch die harte Arbeit körperlich immer kräftiger geworden, der Job sei einem immer leichter gefallen, und irgendwann habe man sich in den Rhythmus der Neun-Schichten-Woche eingeschaukelt, sich am hervorragenden, reichhaltigen Essen erfreut und daran, dass man selbst mitten im Nirgendwo Fernsehen über Antenne empfangen konnte. Natürlich sei es langweilig gewesen, betonte Thibaud, und immer wieder seien Kollegen auf die eine oder andere Art ausgerastet. Er aber habe in seinem Notizbuch einfach nur die ihm zustehenden Lohnzahlungen aufgeschrieben und summiert. Man habe ja kaum etwas ausgeben können, selbst Zigaretten seien kostenlos gewesen. Allerdings sei Alkohol im Camp strikt verboten gewesen, man habe in der Kantine lediglich Leichtbier bekommen können. Und der Marketender sei eben auch nur alle vier Wochen gekommen; bei dem habe man Zeitschriften erwerben können, Spielkarten, Mützen, Hüte, Hemden, Stiefel, Feuerzeuge, Taschenmesser und irgendwelche nutzlosen Dinge. Während der Schichten habe man die von der Firma gestellte Kleidung getragen, und wem es egal war, der hat in der Freizeit dann auch noch die angebotenen Sachen mit dem Logo des Bauunternehmens genutzt.
„Erzähl doch mal, wie du reich geworden bist,“ rief Thibaud in Richtung seines ehemaligen Freundes. Spinks zierte sich eine Weile bevor er mit seiner Story begann, die sich derart unglaubwürdig anhörte, dass die meisten von uns ab und zu grinsen mussten und ein Lachen kaum unterdrücken konnten. Er sei, berichtete Ludwig, nach ein paar Monaten dem lokalen Drogenboss begegnet, einem schweren Kerl mit gewaltigen Händen, der ein ihm kaum verständliches Spanisch gesprochen habe. Hector sei dessen Name gewesen, den Nachnamen könne er leider aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Dieser mächtige Mann sei regelmäßig in Mariannas Hotel eingekehrt. Meist habe er drei Tage und zwei Nächte dort gewohnt. Tagsüber und bis weit in die Nacht habe er auf der Veranda gesessen, und es seien Leute zu ihm gekommen, mit denen er mehr oder weniger lange sprach. Später, so Ludwig, habe er erfahren, dass Hector von hier aus einen Teil seines Drogennetzwerkes steuerte. Er selbst habe in jener Zeit relativ wenig konsumiert, auch weil seine Geliebte strikt gegen jede Art von Droge war.
Dann sei Marianna plötzlich und ohne zuvor wirklich krank gewesen zu sein, gestorben, und Spinks sah seine Existenz bedroht. Da habe ihn Hector eines Abends an seinen Tisch gerufen und gesagt, er wolle ihm ein Angebot machen. Was er, Ludwig, davon halte, Besitzer des Hotels zu werden. Hector ließ durchblicken, dass er ein vitales Interesse daran habe, diesen Standort zu halten und sogar dessen Nutzung auszubauen. Zumal das Hotel über einen eigenen Steg in der Bucht verfüge, den Boote anfahren könnten, ohne dass die Behörden davon unbedingt erführen. Der Deal sei einfach: Er, Hector, würde Mariannas Erben das Objekt abkaufen und es Ludwig schenken. Das sei alles, keine weiteren Verpflichtungen; es müsse nur immer das schönste Zimmer für ihn, Hector, frei sein. Außerdem solle er ihm doch bitte das Nebengebäude mit dem Gewölbekeller langfristig vermieten.
Selbstverständlich hätten alle Kollegen Schusswaffen getragen, sagte Thibaud, auch er habe nach knapp einem Monat eine kleine Sechsschüssige erworben, die besäße er heute noch. Die unvermeidlichen Konflikte im Camp seien aber in den meisten Fällen mit ein paar Fausthieben zu klären gewesen, nur vier- oder fünfmal sei es zu Massenschlägereien gekommen, bei denen auch der eine oder andere Warnschuss abgefeuert worden sei. Nach solchen Ereignissen hätten die Vorarbeiter dann ein paar Flaschen Bourbon spendiert, und wenn die Männer mehr oder wenige betrunken gewesen seien, sei es zu Verbrüderungen gekommen. Er selbst habe sich nach Möglichkeit herausgehalten. Und nach acht Monaten sei sein Kontrakt ausgelaufen, man habe ihn nach Anchorage gebracht, wo ein Scheck über fast 90000 Dollar und ein Erste-Klasse-Flugticket nach Vancouver auf ihn gewartet hätten. Die Idee mit dem Verlag habe ihn die ganze Zeit beschäftigt, und sein Plan war, ein wenig Urlaub zu machen, einmal quer durch die USA zu reisen und dann nach Frankfurt zu fliegen, um die Firmengründung voranzutreiben.
„Und dann,“ sagte Spinks mit einer Miene, die wohl Stolz ausdrücken sollte, „habe ich den Drogenboss abgelinkt.“ Er habe eine Lieferung abgewartet und an die Konkurrenz verkauft, nicht ohne Hector zuvor bei der Polizei zu verraten. So sei er Millionär geworden, aber habe sich auch wirklich gefährliche Feinde gemacht. „Das Kopfgeld,“ lachte er, „betrug umgerechnet 100000 Dollar. Aber als Hectors Leute die Sache überhaupt durchschaut hatten, war ich längst in Europa.“ In Lausanne habe er sich einer kosmetischen Operation unterzogen, also quasi ein neues Gesicht machen lassen. Ja, genau, das Gesicht, unter dem er eine gewisse Prominenz in gewissen Kreisen und Medien erworben habe. „Als nächstes kommt die Story mit dem Chinesen, wetten?“ sagte Thibaud spöttisch. „Genau. Irgendwann ging ich ins Casino und fand Gefallen am Baccara. Ich spielte hoch und kam am Ende immer auf einen kleinen Gewinn, oder es ging Plus-Minus-Null aus,“ erzählte Spinks. Und dass er nach einer Weile einen Mann mit asiatischen Gesichtszügen bemerkte, der nie spielte und ihn beobachtete. Der habe sich eines Tages neben ihn an die Bar gesetzt und sich vorgestellt, Zhu Wang sei sein Name, er habe ihm, Ludwig, einen Vorschlag zu unterbreiten.
Die Geschichte der Verlagsgründung in Frankfurt kannten wir alle schon in- und auswendig. Wie Thibaud ein paar alte Genossen getroffen hatte, dass darunter ein gewisser Tim K. gewesen sei, ein stiller Typ, Erbe eines Weinhandels mit großem Immobilienbesitz, der trotz seiner Herkunft keinen Alkohol trank, aber ständig kiffte, ohne dass man ihm das anmerkte. Der hatte sich vom geerbten Geld eine Farm auf Jamaika gekauft, einen Verwalter eingesetzt, und ließ dort Cannabis anbauen und zu Ganja-Öl verarbeiten, dass sich leicht schmuggeln ließ. Tim hatte immer eine Phiole mit dem Zeug bei sich, und während andere sich Joints drehen musste, gab er bloß ein paar Tropfen auf eine Zigarette und konnte die Wirkung genießen. Aber er benutzte das Öl auch als Würze beim Kochen oder verfeinerte die Fruchtsäfte, die er ständig trank, damit. Tim war ein Einzelgänger, fasste aber nach ein paar Monaten Vertrauen zu Thibaud, und als dieser ihm seinen Plan mit dem Medienhaus vorstellte, bat er dabei sein zu dürfen. So kam es dazu, dass der legendäre Avanti-Verlag gegründet wurde, der sein Hauptquartier in einem entmieteten Haus fand, das Tim kurzerhand erworben hatte.
Natürlich lebten alle Mitarbeiter in einer Wohngemeinschaft in diesem Haus: Journalisten, Fotografen, Grafiker und Setzer, insgesamt sieben Frauen und elf Männer, denen die oberen beiden Etagen zur Verfügung standen. Die Redaktion belegte das erste Stockwerk, und die Produktion saß im zweistöckigen Anbau zur Hofseite hin. Im Erdgeschoss gab es ein Ladenlokal, aus dem die Genossen ein Café machten mit einem großen Tisch für zwanzig Personen im Zentrum. Hier fanden die offenen Redaktionssitzungen der Zeitung statt – die hatte man „Roter Weg“ getauft und mit dem Zusatz versehen „Organ der undogmatischen Linken“. Thibaud hatte immer eingeräumt, dass das Blatt ein Zusatzgeschäft war, das Tim mit regelmäßigen Zahlungen am Leben erhielt, denn sein eigenes Geld aus dem Pipeline-Job war längst für den Aufbau des Verlags und des Cafés draufgegangen. Aber, so betonte er immer, es sei eine wunderbare Zeit gewesen, ein Abenteuer, endlose Diskussionen, dazu das WG-Leben mit all seinem Chaos und den unendlichen Möglichkeiten.
Spinks hatte lang und breit erklärt, welche Methode der Chinese erdacht hatte, die Casinos auszunehmen, und dass sie tatsächlich funktionierte. Wang spielte selten und nur zu seinem Vergnügen, hatte Ludwig aber das System auf Provisionsbasis überlassen. Es funktionierte, und Spinks gewann regelmäßig und so viel, dass er bald kaum wusste, was er mit dem Geld anstellen sollte. Zumal er sich nicht traute, die Beute waschen zu lassen, also ständig mehr Bargeld anhäufte. Er hatte sich eine Legende zurechtgelegt, die einigermaßen plausibel klang, und lebte nun äußerst exzessiv. In den teuersten Hotels weltweit war er Stammgast; manchmal ließ er sich von gleich drei Escort-Frauen begleiten, und das alles bei grenzenlosem Alkohol- und Drogenkonsum. Da er mit seinem schmutzigen Kapital nicht einmal teure Autos kaufen konnte, mietete er serienweise schwere Limousinen und abgefahrene Supersportwagen. Dann wurde er krank, und der behandelnde Arzt eröffnete ihm, seine Nieren seien in Folge seines Lebenswandels schwer geschädigt, er solle entweder kürzertreten oder er müssen in Kürze regelmäßig zur Dialyse. Ludwig entschied sich für letzteres und reiste nur noch an Orte, an denen die Blutwäsche jederzeit möglich war.
„Erzählen kann er, der Ludwig,“ merkte Thibaud an dieser Stelle an, „und im Lügen war er schon immer gut.“ Spinks sah ihn über den Tisch hinweg an und sagte: „Wo ist der Unterschied zwischen Erzählen und Lügen? Im Rheinland sagt man von einem, der dolle Geschichten erzählt, die nie ganz wahr klingen: Ach, der erzählt bloß.“ – „Ja,“ warf Thibaud ein, „aber es geht doch um die Wahrheit!“ Sein ehemaliger Freund lachte kurz auf: „Jeder erzählt sein Leben so, wie es ihm persönlich erschienen ist und mit dem Vorsatz, gut dazustehen. Das ist doch bei dir nicht anders.“ Da mussten wir Ludwig Recht geben, denn auch Thibaud neigte ja dazu, uns Stories zu präsentieren, mit ihm als Protagonisten, die ihn gut aussehen ließen. Nicht zuletzt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Avanti-Verlags.
Dass er den Laden wegen einer Frau im Stich gelassen hatte, ließ er gern weg – zumal es die Gattin seines Partners Tim war. Elke und Tim waren nämlich schon ein Paar seitdem sie dreizehn, vierzehn Jahre alt waren und hatten mit kaum einundzwanzig geheiratet, damit Elke bei ihren Eltern ausziehen konnten, denn die schlug ihre Tochter regelmäßig aus nichtigen Anlässen. Als seine geliebte Frau weg war, verfiel Tim in tiefe Depressionen und begann zu saufen. Weil die anderen Mitstreiter allesamt faul oder unzuverlässig oder beides waren, ging der Verlag innerhalb von nur einem Jahr den Bach runter. Thibaud war mit Elke nach Frankreich abgehauen, wo er ein paar Monate mit ihr bei Genossen in der Nähe von Bordeaux lebte. Aber bald fand er sie langweilig und war überhaupt nicht mehr verliebt. Also log er, eine wichtige Reise in politischen Dingen nach Kuba sei nötig und machte sich eines Tages aus dem Staub.
Diese Episode dürfte sich etwa zur selben Zeit abgespielt haben als sich der gesundheitliche Zustand seines ehemaligen Kumpels rasant verschlechterte und nur noch eine Spenderniere ihn würde retten können. Warum warten? hatte Wang gesagt, eine Niere kannst du kaufen. Ich kenne da jemanden in Salvador, Privatklinik. 100000 Dollar und höchstens drei Wochen Wartezeit. Spinks war es inzwischen gewohnt, sich zu kaufen, was er wollte. Er reiste nach Brasilien und bezog ein luxuriöses Studio auf dem Gelände der Klinik, direkt am Strand. Der Leiter begrüßte ihn persönlich und kassierte gleich 50000 Dollar Anzahlung. Man habe da einen Spender für ihn im Auge, einen Jungen aus der Gegend, kräftig, aber sehr arm. Spinks lernte ihn erst am Tag der OP kennen, denn der Bursche lag bereits sediert auf dem Tisch als man ihn in den Operationsraum rollte. Dass der Spender während des Eingriffs gestorben war, erfuhr er zwei Tage später. Zwei Männer in etwas zu korrekten Anzügen standen neben seinem Bett, zeigten Dienstmarken des FBI und sprachen ihn auf Englisch an.
Tim hatte sich auf dem Dachboden des Verlagshauses erhängt. Genau an dem Tag, an dem Elke nach Frankfurt zurückgekehrt war – so die Version, die alle Beteiligten außer Thibaud zu berichten wissen. Laut seiner Erzählung sei Tims Ehefrau über Jahre hinter ihm her gewesen, habe ihn regelrecht bedrängt und angefleht, sie aus den Fängen dieses Psychopathen zu befreien. Da habe er Kontakt zu Genossen in Frankreich aufgenommen und diese gebeten, Elke vorübergehend aufzunehmen, während er sich darum kümmere, dass Tim eine angemessene psychologische Betreuung erhielt. Leider seien alle Versuche, ihn wieder alltagstauglich zu machen gescheitert, sodass man den Suizid nicht habe verhindern können. Dass dann Elke freiwillig in eine geschlossene Klinik gegangen und nie wieder herausgekommen sei, das sei der eigentlich tragische Teil der Geschichte.
„Meint ihr, das sei ein Ponyhof, solch ein Knast in Brasilien?“ Ludwig hielt sein Glas mit beiden Händen, sein Zittern war nicht zu übersehen. „Ja, ja,“ sagte Thibaud, „man hat dich reingelegt, schon klar.“ Er sei, erzählte Spinks, auf die Empfehlung des Chinesen hin tatsächlich nach Bahia gereist und habe sich diese obskure Klinik angesehen. Er habe Berichte über den Organhandel in Brasilien gelesen und sofort gewusst, dass die ganze Sache nicht legal sein konnte. „Mich hat ein Taxifahrer angesprochen, der mich von der Klinik zurück in mein Hotel fuhr. Der sprach ein vorzügliches Spanisch und fragte, ob ich auf eine Niere warte. Ich bejahte, und er sagte nur: ‚Ich zeig Ihnen, wo die Nieren herkommen.'“ Jorge, so der Name des Chauffeurs, habe ihn in die halb zerfallene Altstadt gebracht, einen trostlosen Ort jenseits des Charmes, den ja brasilianische Favelas angeblich haben. Sie seien bei einer Familie eingekehrt, deren Terrasse als Küche und Gastraum diente. Jorge habe ihm den zweitältesten Sohn vorgestellt, Carlos, und gab an, der sei bereit eine Niere zu verkaufen, um der Familie aus dem Elend zu helfen. „Ich solle 50000 Dollar bezahlen und Carlos mit nach Deutschland nehmen. Dort könne die Operation ganz legal durchgeführt werden. Aber das wollte ich nicht. Also gab ich der Mutter mein gesamtes Bargeld, so um die 10000 Dollar, bedankte mich für das gute Essen und bat Jorge, mich in mein Hotel zu fahren. Um die Ecke warteten schon zwei Zivilpolizisten…“
„Mir kommen die Tränen,“ sagte Thibaud und wandte sich an die Runde: „Welche Version ist glaubwürdiger?“ Zilly musterte Spinks, während Hanshubert mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Es war Marlene, die schließlich das Wort ergriff. „Ich glaube euch beiden nicht ein Wort, nicht dir, Thibaud, und dir schon gar nicht, Ludwig. Mir scheint, beide Geschichten sind von A bis Z erstunken und erlogen. Klar, ihr wollte beide zum Ende des Lebens gut dastehen, nach dem ganzen Mist, den ihr gebaut habt. Wie viele Menschen habt ihr direkt oder indirekt auf dem Gewissen? Sind es bei dir wirklich nur Tim und Elke? Welchen Leuten habt ihr die Existenz versaut, wenn alles habt ihr in die Psychose getrieben?“ Hanshubert hatte begonnen zu nicken, und auch Zilly konnte man die Zustimmung am Gesicht ablesen. „Moment,“ sagte ich, „dass Thibaud und Tim den Avanti Verlag aufgebaut haben, ist doch wohl Fakt. Und Ludwigs Drogenexzesse sind ja aktenkundig.“ Die Runde schwieg. Die Kellnerin brachte eine neue Runde, und ich sah, dass Thibaud, der mir genau gegenübersaß, Tränen in den Augen hatte.