Vom Schmerz und vom Sterben

Er wolle ohne Schmerzen sterben, habe Richard ihm wenige Tage vor seinem Tod gesagt, berichtete Thibaud. Es sei zu einer hitzigen Diskussion gekommen, die Hilde sich eingeschaltet habe. Die sei ja vor vier Jahren mit ihrer neunzigjährigen Mutter nach Zürich gereist, um sie bei der Sterbehilfe zu begleiten. Die alte Frau habe die ihr verordneten Schmerzmittel nicht mehr vertragen, die sie über mehr als zwanzig Jahre gegen die Begleiterscheinungen ihrer Arthritis genommen habe. Dann habe sie sich weitere zwei Jahre mit Dauerschmerzen gequält, habe nie mehr länger als eine Stunde am Stück schlafen können und sei furchtbar verzweifelt gewesen. Richard habe diesem Bericht intensiv zugehört und dabei oft zustimmend genickt. Er selbst, so Thibaud, sei nicht einverstanden gewesen. Schließlich sei er schon immer ein strikter Gegner jeder Form von Sterbehilfe und Euthanasie. Er sei der Ansicht, dass der Schmerz zum Leben gehöre. Daraufhin hätten ihn Richard und Hilde scharf angegriffen, er habe gut reden, ihm sei es ja noch nie so gegangen wie Hildes Mutter.

„Aber das stimmt doch gar nicht,“ warf Eva ein, „ich erinnere mich noch zu gut wie du nach deinem Unfall dran warst.“ Sie bezog sich damit auf eine Geschichte, die Thibaud vor fünfzehn, sechzehn Jahren zugestoßen war. Damals fuhr er eine Royal Enfield, ein altertümliches Motorrad, das er bei Wind und Wetter benutzte. An einem grauen Oktobermorgen hatte ihn der Fahrer eines Lieferwagens übersehen und über den Haufen gefahren. Im Krankenhaus stellten die Ärzte fest, dass Thibaud Brüche an allen vier Gliedmaßen hatte, unter anderem zwei komplizierte Trümmerbrüche an Hand- und Fußgelenk. Zum Glück hatte ihn der Helm vor Kopfverletzungen geschützt. Zwischen der ersten und zweiten Serie an Operationen hatten ihn die Ärzte so sehr sediert, dass er nicht mehr ansprechbar war. Das erzählte ihm wenige Tage später Zilly bei einem Besuch. Thibaud war empört und fing Streit mit der behandelnden Ärztin hat. Ja, wir können sie auch leiden lassen, hatte die im Zorn gesagt. Und tatsächlich verzichtete Thibaud von da an bis zur vollständigen Heilung rund achtzehn Monate später auf jegliche medikamentöse Schmerzunterdrückung.

Es sei nur in den ersten Wochen wirklich schwer gewesen, ohne Arzneien auszukommen. Dann habe er Meditationstechniken angewandt und manchmal den Schmerz einfach weggesungen. „Ja“, sagte Thibaud, „gesungen habe ich von morgens bis abends.“ Er habe mit dem Schmerz gelebt und der Schmerz mit ihm. Natürlich sei er heilfroh gewesen als er dann keine akuten Schmerzen mehr hatte. „Warum hast du das den beiden nicht erzählt“, fragte Eva. „Weil ich gespürt habe, wie groß die Angst vor dem Schmerz gerade bei Richard war. Er hätte meine Geschichte als Provokation aufgefasst.“ Die Ironie an der Sache sei ja, dass Richard vier oder fünf Tage an einem Herzanfall gestorben sei. Der Notarzt habe gesagt, es hätte ihn wie ein Blitz getroffen und vermutlich habe er weder Schmerzen gehabt, noch überhaupt bewusst mitbekommen, dass er sterben würde.

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