Vom Rauchen

Meine erste Zigarette rauchte ich mit vierzehn. Ich war als Austauschschüler in England und besuchte die Woking Grammar School für Boys, die es heute nicht mehr gibt. Eine durch und durch traditionelle Schule in einem düsteren Backsteingebäude. Das Tragen eines Schulblazers während des Unterrichts war Pflicht, das Mittagessen wurde gemeinsam mit den Lehrern im Speisesaal eingenommen. Dazu zogen wir uns um; jeder hatte ein zweites Jackett im Spind, das nur beim Essen getragen wurde. Dieses absichtlich zu bekleckern, war verpönt, aber das Kleidungsstück nicht zu reinigen, auch wenn es mit Speiseresten versehen war, gehörte zur Tradition. Alle Jungs rauchten, außer denen in den untersten beiden Stufen. Aber spätestens mit zwölf hatte man in den Club der Raucher einzutreten. Ob das Paffen offiziell verboten war, weiß ich nicht; auf dem Schulhof gab es jedenfalls Raucherecken, die vom Lehrkörper gemieden wurden. [Lesezeit ca. 4 min]

Ende Juni kam ich an. Damals war das Schuljahr der Grammar-Schools noch in Trimester eingeteilt, wobei das zweite bis Mitte Juli ging. Nachmittags trafen sich die Schüler im Freibad, und da wurde dann durchgehend gequalmt, während in den Kofferradios die neusten Hits liefen. Ins Wasser gingen die Jungs nur, um Mädchen anzubaggern. Oder sie sprangen vom Fünfmeterbrett, um sie zu beeindrucken. Ich hatte mich für Benson & Hedges entschieden wegen der goldenen Schachtel. Die waren teurer als andere Marken. Aber da mir der Rauch nicht schmeckte, rauchte ich nur sehr wenig – vielleicht drei oder vier Kippen am Tag. Mein Austauschkumpel Dave blieb allerdings Nichtraucher, vermutlich, weil er sich von der Masse abheben wollte.

Mein Vater war zeitlebens starker Raucher; wie die überwiegende Mehrheit der Männer, die im Krieg und in Gefangenschaft waren. Seine Marke war Ernte 23, und wir Kinder wurden regelmäßig zum Büdchen geschickt, um für Nachschub zu sorgen. Die Mutter rauchte nicht und mochte auch keinen Rauch in der Wohnung. Deshalb schränkte sich der Vater beim Rauchen zuhause sehr ein oder ging, wenn es nicht zu kalt war und nicht regnete, auf den Balkon. Wenn aber eines der vielen Familienfeste bei uns stattfanden, war Mutti machtlos, denn alle männlichen und etwa die Hälfte der weiblichen Gäste qualmten. Besonders stark: Onkel Harald, der immer ausreichend Vorrat von Päckchen zweier verschiedener Marken hatte – Rothhändle und HB. Im Schnitt kam eine Filterlose auf vier Filterzigaretten.

Herr Knorrek rauchte Zigarillos, Herr Kraft qualmte stinkende Stumpen, und Herr Kaufmann – ein seltener Gast – war Pfeifenraucher. Nachdem meine Mutter ihren Ehemann praktisch gezwungen hatte, die Zigaretten aufzuzgeben, stieg mein Vater auf Zigarren um, wobei er teure Sorten bevorzugte. Einmal sagte er: Eine gute Zigarre muss mindestens so viel kosten wie eine Packung Zigaretten.

Zurück in Deutschland blieb ich beim Zigarettenrauchen, ich hatte es mir in England tatsächlich angewöhnt. Weil das Taschengeld knapp war, kaufte ich meistens die Päckchen mit nur zehn Kippen, die es damals noch gab. Und natürlich keine Benson & Hedges, die in Deutschland richtig teuer waren. Wie die Schulfreunde am Leibniz-Gymnasium, damals noch eine reine Jungenschule, probierte ich mich durch das große Angebot an Marken, Hauptsache mit Filter, denn als ich einmal eine Rothhändle von Onkel Harald geschnorrt und geraucht hatte, die filterlose Zigarette aus schwarzem Tabak, wurde mir übel. Eine Kippe im Mundwinkel oder in der Hand zu haben, war für uns Fünfzehnjährige ein Statussymbol.

Im Herbst 1970 ging die Abschlussklassenfahrt nach Paris. Begleitet und bewacht wurden wir von zwei Lehrern: dem Klassenlehrer Müller und dem Erdkundelehrer Paukert. Während Müller von uns Disziplin forderte, wollte Paukert und sein Paris zeigen, denn er war nicht nur im Krieg in der französischen Hauptstadt, sondern hatte in den Fünfzigerjahren dort gelebt. Mit ihm waren wir auch nachts unterwegs. Kehrten in Cafés und Bistros ein, tranken Bier oder Wein, spielten an den Flipperautomaten und rauchten französische Zigaretten. Ein Päckchen filterlose Gauloises kostete damals 65 Centimes, umgerechnet also weniger als 20 Pfennige. Ich mochte den Geschmack des schwarzen Tabaks sofort, und weil man diese starken Zigaretten nicht auf Lunge rauchte, war es cool, sie im Mundwinkel zu parken und in regelmäßigen Abständen Rauchwolken zu paffen.

Bis auf eine kurze Phase während meines Studiums an der Kunstakademie, als ich aus Geldmangel auf Selbstgedrehte aus ebenfalls schwarzem Tabak namens Schwarzer Krauser umstieg, bin ich den französischen Zigaretten treu geblieben: viele Jahre lang Gauloises und seit einem Urlaub an der Atlantikküste Gitanes. Ich habe die traditionelle Schachtel geliebt, die so anders war, rechteckig und querformatig, die Zigaretten in einem Schuber, den man mit dem Daumen nach oben drücken konnte, um eine Kippe zu entnehmen. Und dann das Blau! Ein Farbton, der so typisch ist für Frankreich, die Farbe der Tourenwagen von Renault und Alpine. Auf der Vorderseite mit stilisierten Rauchwolken und der Silhouette einer Flamenco-Tänzerin mit Tambourin. Dazu diese spezielle Gitanes-Schrift…

Tatsächlich rauche auch heute noch Gitanes ohne Filter, obwohl es diese wunderschöne Verpackung nicht mehr gibt und eine Schachtel mittlerweile neun Euro kostet. Ich mag keine anderen Zigaretten, und wenn ich meine Marke nicht kriege, rauche ich lieber gar nicht. Irgendwann in den Nullerjahren hatte ich sowieso genug. Ich war über die Jahre bei deutlich mehr als zwanzig Kippen pro Tag angekommen, fühlte mich ohne Zigaretten und Feuerzeug draußen nackt und hilflos. Das musste ein Ende haben, und so hörte ich im Herbst 2009 von einem Tag auf den anderen auf. Dass ich keinerlei Entzugsentscheidungen verspürte, bewies mir, dass ich zuvor kein Suchtraucher war.

Meinen 60. Geburtstag feierten wir in Paris. Und als wir so durchs Marais schlenderte, hatte ich plötzlich starke Sehnsucht danach, draußen an einem Café zu sitzen, Café Creme zu trinken und dazu eine Gitanes zu rauchen. Ohne viel nachzudenken, betrat ich ein Bistro, das draußen mit dem typischen roten, rautenförmigen Schild mit der Aufschrift Tabac signalisierte, dass man dort Zigaretten kaufen konnte. Wenn ich mich recht erinnerte, rauchte ich an diesem und am folgenden Tag je zwei Gitanes. Zuhause verschwand die Packung in der Schublade.

Und erst gut anderthalb Jahre nach diesem Rückfall dachte ich wieder an das Vergnügen am Rauchen, kramte die Gitanes heraus und qualmte sie mit großem Genuss – natürlich auf dem Balkon. Seit dem Frühjahr 2014 bin ich also wieder Raucher, genauer: Raucher der Sorte Gitanes ohne Filter. Aber, ich rauche anders als früher; erstens selten mehr als vier Stück am Tag, zweitens nach einem festen Rhythmus, denn das Paffen, Qualmen, Quarzen, Perzen ist nur noch Ritual, wenn auch ein teueres, denn die Packung kostet – siehe oben – inzwischen neun Euro.