Nehmen wir Holger: Holger kann nicht tanzen. Jedenfalls vermuten wir das, denn keiner von uns Holger je tanzen sehen. Auf Partys steht Holger herum wie ein Maschinenbaustudent: in einer Ecke, die Bierflasche in der Hand. Nach einer Stunde in dieser Position hat er dann die Frauen auf der Tanzfläche abgecheckt und sich für eine entschieden. Die wird er nun den ganzen Abend über mit den Augen verfolgen in der Hoffnung, dass sie sich in ihn verliebt. Passiert nie. Weil genau die Frauen, die – wie er es ausdrückt – so schön tanzen, Typen öde finden, die nie mit ihnen abzappeln. Aber immer noch erträglicher als Kerle, die nur tanzen, um sich den Damen zu präsentieren, aber motorisch eher gering begabt sind. Olaf ist so einer. Der ist bei Feten oder im Club immer supergut drauf, strahlt vor sich hin wie eine Nebelschlussleuchte und macht ausladende Bewegungen. Auch außerhalb der Tanzfläche, und die Zahl der von ihm durch wildes Fuchteln zu Bruch gegangenen Gläser und Flaschen geht in die Tausende.
Außerdem kleidet sich Olaf immer völlig unpassend. Während Holger notorisch in karierten Hemden und beigen Hosen aufläuft, maximal gewärmt durch einen graugrünen Pullover, steht Olaf auf bunt. Im Sommer, wenn er besonders supergut drauf ist, führt er gern sein Original-Reggae-T-Shirt in Batikoptik vor, das selbst Kreuzfahrttouristen in der Karibik zu peinlich wäre. Ab 20 Grad trägt er bei Freiluftveranstaltungen abgeschnittene Jeans und Wandersandalen an den bloßen Füßen. Wenigstens pflegt er seine Nägel. Kommt eine dieser ollen Rock-Schoten wie „Radar Love“ oder „Black Betty“, dann zuckt Olaf am Rande der Tanzenden, boxt schließlich die Zuschauer in der ersten Reihe bis sich eine Lücke bildet und stürzt sich in die wogende Menge – die sich rasch um ihn herum lichtet, denn er beleitet sein arhythmisches Hüpfen mit gefährlichen Armbewegungen. Bei langsamen Stücken versucht er sich am Ausdruckstanz. Und scheitert regelmäßig. Wir alle mögen Olaf sehr, so lange er nicht tanzt.
Das lässt sich von Arslan nicht unbedingt sagen, diesem Schönling. Ja, ja, er sieht wirklich verdammt gut aus. Ist ziemlich groß und hat eine sportliche Figur. Die Frauen sagen immer: Allein seine hellblauen Augen würden reichen. Was immer sie damit meinen. Und so athletisch und druchtrainiert Arslan wirkt, so unsportlich ist er in Wirklichkeit. In kleiner Runde gestand er einmal, dass er weder schwimmen noch radfahren könne. Habe er nie gelernt. Sei als Kind viel zu ängstlich gewesen. Am Sportunterricht habe er in seinen vierzehn Schuljahren maximal sieben oder acht Mal teilgenommen; meistens habe er ein Attest seines Onkels vorweisen können. Der Bruder seiner Mutter war Orthopäde und bescheinigte Arslan eine irreprarable Deformation beider Hüftgelenke, die natürlich frei erfunden war. Arslan gehört zu der Sorte Tänzer, die sich dabei nicht vom Fleck rühren. Er hat seine Position und hält sie, während er – die Ellbogen eng an den Körper gedrückt – halbwegs auf den Takt passend von einem Fuß auf den anderen tritt. Dazu vollführt sein Oberkörper Bewegungen, als habe er auf Bauchnabelhöhe ein Scharnier. Hilda sagte einmal: Wenn der so vögelt wie er tanzt, na, dann aber gute Nacht.
Wenn Zilly und ich so die Reihe unserer Freunde durchgehen, dann fällt uns eigentlich immer nur Bernhard ein, wenn es darum geht, wer von den Jungs am besten tanzt. Bernie, den seine Mutter als Kind immer Dickerchen nannte, ein 100-Kilo-Bursche, kaum einsfünfundsiebzig groß. In einer Kinderbande hatte man ihm sicher die Rolle des Genies zugeteilt und nicht des Haudraufs, aber wer ihn kannte, sorgte dafür, ihn beim Aufstellen der Kickertruppen auf dem Bolzplatz frühzeitig in die eigene Mannschaft zu wählen. Weil ihm die Koseform seines Namens unangemessen erschien, hatte er so mit siebzehn begonnen, sich selbst als Katz vorzustellen und so zu tun, als sei das schon immer sein Spitzname. Untereinander sprachen wir trotzdem alle von Bernie, aber wirklich nur im engsten Kreise; überall sonst war er als Bekatz bekannt. Und dass er sich nach einem Tier benannt hatte, war angemessen, denn seine Bewegungen waren geschmeidig. Er war kräftig, stark und beweglich; Eigenschaften, die ihm ein paar Jahre als prima Handballtorhüter eintrugen und beinahe bis in die Nationalmannschaft gebracht hätten. Das wussten wir natürlich alles nicht, als Bekatz zu unserer Gruppe stieß. Reden war nicht sein Ding, aber er konnte prima zuhören – vor allem Frauen, die Trost suchten. Man kennt das ja: der gute Freund, der einfach nicht gut genug aussieht, um als Liebhaber in Frage zu kommen.
Bernie bemühte sich aber auch nicht sonderlich darum, wechselnde Partnerinnen zu gewinnen. Über viele Jahre führte er eine eher unverbindliche Beziehung mit Sibylle, von der anscheinend beide profitierten. Mit Sebbel, so nannte er seine Gefährtin, tanzte er am schönsten. Ja, wenn die beiden sich während eines Festes dazu durchringen konnten, aufs Parkett zu gehen, dann war das Paar immer und sofort im Mittelpunkt. Ganz unabhängig von der Musik. Bei Hanshuberts Hochzeit legten Bernie und Sebbel einen Wiener Walzer hin, dass am Ende der ganze Saal applaudierte, und legendär blieb auch ihre Salsa-Einlage beim Multikulti-Fest im Park vor ein paar Jahren.
Hilda sagt zu dem Thema immer: Alles eine Frage von Rhythmus. Damit meint sie gar nicht, dass sich der Tänzer oder die Tänzerin zum Takt der Musik bewegen muss, sondern dass die Variationen der Bewegungen, der Schritte und Gesten den Unterschied machen. Das habe etwas mit Körpergefühl zu tun, meinte sie. Zilly und ich halten diese Erkenntnis für banal. Aber als Ibou Teil unserer Gruppe wurde und zum ersten Mal auf einer Party zu eigentlich recht öder Achtzigermucke tanzte, verstanden wir, was Hilda meinte. Gleichzeitig fragten wir uns aber, ob wir so nicht eine rassistische Perspektive einnahmen, wenn wir die Bewegungen eines Afrikaners auf dem Tanzboden schöner fanden als die aller anderen. Als ob dieses Talent quasi ethnische Gründe hätte. Aber am Ende war es Bernie, der uns eines Besseren belehrte. Denn vor ein paar Monaten trafen wir uns alle beim Konzert von Priscilla P’honne, der R’n’b-Queen aus Toronto und ihrer wunderbaren Band. Nach drei Stücken hatten sie uns so weit: Keiner stand still, alle bewegten sich zu dieser Musik – sogar Holger bewegte die Beine ein wenig. Und dann trafen Ibou und Bekatz tanzend aufeinander. Vier, fünf Meter von der Bühne entfernt. Ein Kreis entstand, während die beiden Kerle, die unterschiedlicher kaum sein könnten, mit ihren Körpern Theater spielten. Schnell, wild, langsam, genau, knapp neben dem Rhythmus, dann wie Kämpfer einer neuen Selbstverteidigung. Atemberaubend. Der Star da oben wurde auf die beiden Tänzer aufmerksam, deutete von der Bühne aus auf Bernie und Ibou und rief immer wieder ins Mikro „See them dance!“