Haben Sie überhaupt noch gesungen damals? Bea schüttelte den Kopf: Ich habe die Musik einfach beerdigt. So wie Gerd. Und weil ich keinen Beruf gelernt habe, fand ich nur einen Job als Kassiererin im Supermarkt. Meine Eltern waren inzwischen tot, meine große Schwester nach Neuseeland ausgewandert, zu alten Freunden hatte ich keinen Kontakt, und neue Freunde gab es nicht. Ich lebte allein in einer Anderthalbzimmerwohnung. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Hund oder Katze. Mein Chef und die Kolleginnen wussten, dass ich mal ein erfolgreiche Schlagersängerin war, machten aber zum Glück kein Aufhebens davon. Es ging mir nicht schlecht, aber auch nicht gut. Wie Regine mich ausfindig machen konnte, weiß ich bis heute nicht. Man hatte sie beauftragt, mich zu finden, weil ich immer noch Inhaberin aller Rechte an der Aufnahme meines Songs war. Das war irgendwann im Sommer 1984. Da gab es diese Popmusiker aus England, die waren durch Zufall auf ein erstes Album gestoßen und wollten einen Remix von „Nichts davon“ aufnehmen und dazu die von mir eingespielte Gesangsspur verwenden. Da musste ich sie enttäuschen, Peter K. war auch schon tot, sein Studio danach pleite gegangen, die ursprünglichen Bänder verschollen. Das teilte ich Regine mit, die es weitergab. Aber nach kaum einer Woche rief sie an und sagte: Die Jungs fragen, ob du nicht Lust hast, das Lied noch einmal aufzunehmen, zusammen mit ihnen. Den Rest dürften Sie kennen. „Nichts davon (2)“ weiterlesen
Nichts davon (1)
Sie lässt sich nach dem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen. Obwohl sie Whisky nicht mag. Aber sie findet, es macht sich gut in Interviews und Talkshows zu erzählen, sie lasse sich nach jedem Auftritt einen kleinen Whisky in die Garderobe bringen, obwohl sie keinen Whisky mag. Bea Dardai weiß, dass es nur die Anekdoten sind, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen. Das findet auch Karl, der ihr den Whisky bringt. Den er trinkt. Dann hilft er ihr mit der Perücke und beim Umziehen und schaut ihr beim Abschminken zu. Er liebt es, diese Verwandlung zu sehen. Auch, weil er die Frau, die dabei zum Vorschein kommt, mehr liebt als die große Bea Dardai auf der Bühne, wenn sie im paillettenbesetzten Abendkleid im Lichtkegel am Mikrofon steht, ihre Chansons singt und dem Publikum zwischendurch kleine Geschichten erzählt, die er natürlich alle schon kennt. Wenn sie privat ist, kommt er sich nicht mehr vor wie der alternde Mann, der eine strahlende, jüngere Frau begleitet. Dann sind sie auf Augenhöhe. „Nichts davon (1)“ weiterlesen
Hauptgewinn
Sie hockt im Schneidersitz auf dem Flokati und schaut zu ihm auf. Warum arbeitest du nicht? fragt sie und knabbert dabei an ihrem Daumennagel. Er betrachtet ihre Schlüsselbeine und die Rippenansätze am Brustbein und ist gerührt. Bist du reich? setzt Caren nach und bearbeitet den anderen Daumennagel. Peer wiegt den Kopf hin und her. Aber du hast genug Geld und musst nicht mehr arbeiten, oder? Jetzt nickt er. Geerbt? Ding gedreht? Nein, sagt er, gewonnen. Sie kreuzt die Arme vor der Brust: Viel? Ziemlich, antwortet Peer. Wie viel? Er zeigt ihr alle zehn Finger, ballt die Hände dann zu Fäusten und öffnet sie wieder und noch einmal und dann noch einige Male bis sie sagt: Reicht. Stimmt, sagt Peer. Er steht mit dem Rücken zur Küchenzeile und stützt sich jetzt nach hinten ab. Caren mustert seinen Penis: Ganz schön groß für einen kleinen Kerl wie du. Das sagen sie alle, gibt er zurück und grinst. Nach einer Weile: Und, wie viel willst du? Er zeigt einen Finger, dann eine Hand und dann beide. Sie liegt jetzt auf der Seite und sagt: Nothing, niente, nichts. „Hauptgewinn“ weiterlesen
Meta, Minka und Matilda
Meta schiebt die Gardine ein Stück beiseite und schaut durch den Spalt auf den Vorgarten und den Gehsteig. Weißt du noch als Herbert gestorben ist? Minka dreht sich um und wischt die Hände an der Kittelschürze ab. Ja, das war eine schöne Beerdigung. Du warst am Ende betrunken. Ihre Schwester hebt den Blick und schüttelt den Kopf: Nein, du. Ich? Ich war ein bisschen beschwipst und hab mit dem Pfarrer getanzt. Bei Helmut war’s nicht so schön. Beide nicken still vor sich hin. Kannst jetzt die Gläser hinstellen, sagt Minka. Im Zehnlitertopf brodelt die Mirabellenmarmelade. Die Katze springt vom Fernsehsessel und setzt sich mitten in die Küche. Der wollte ja unbedingt eine Seebestattung, der Helmut. Meta hat die Gläser aufgereiht und die Schöpfkelle bereitgelegt. Freddy singt im Radio von der Heimat und dem Meer. Schön, dass es solche Sender noch gibt, sagt Minka. „Meta, Minka und Matilda“ weiterlesen
Überfahrt
Das Meer hat es nicht immer gut gemeint mit uns. Damals am Atlantik, als du wie ein Kind wieder und wieder in die Brandung liefst, mit ausgestreckten Armen unterhalb der Wellenkronen eintauchend, um dann im nächsten Tal wiederaufzutauchen. Wieder und wieder. Bis diese eine Woge kam, die war doppelt so groß wie die anderen. Ich sah nur wie du hochgeschleudert wurdest, wie du einem Moment in der Gischt schwebtest, dann hinab stürzest ins gläserne Meer und nicht wieder auftauchtest. Wie dich drei Männer auf den Strand zogen nachdem sich das Wasser zurückgezogen hatte. Du hattest das Bewusstsein verloren, atmetest aber. Sie drehten dich auf die Seite, und ich sah Hunderte kleine Schnitte in deinem Rücken, aus denen Blutstropfen quollen, so sehr hatten dich die Wellen auf den Grund geschleudert, die mit Millionen Scherben von Muscheln bedeckt war. „Überfahrt“ weiterlesen
Wir im Hausboot
Manchmal war ich nicht sicher, ob ich dich überhaupt kannte. Oft warst du völlig fremd. Wie jemand, der gerade erst die Wohnung betreten hat. Mir ist damals klar geworden, dass ich fast nichts über dich weiß. Außerdem dem, was ich selbst während unserer Zeit mitbekommen habe. Das liegt natürlich daran, dass du keine Geschichtenerzählerin bist. Bis zu unsrer Reise kannte ich ein knappes Dutzend Anekdoten, die du gelegentlich erzähltest. Merkwürdig, dass weder deine besten Freunde, noch deine Geschwister je darüber berichteten, was du in diese oder jenem Alter in dieser oder jener Situation getan hast. Bei uns in der Familie ist das anders, da gibt es einen großen Schatz an Geschichten, die meist mit „Weißt du noch als…“ beginnen. Ich dagegen kennen selbst die faktischen Stationen deines Lebens nur sehr ungenau. Wenn du neben mir auf dem Sofa saßt und wir gemeinsam einen Film anschauten, betrachtete ich manchmal dein Profil aus den Augenwinkeln und dachte: Wer ist sie? „Wir im Hausboot“ weiterlesen
Die Familie J. (Schluss)
Die Kinder sind beim gleichmäßigen Tempo eingeschlafen, und auch Jenny döst. Jens wechselt am Autobahnkreuz die Richtung, und keiner merkt es. Es sind auch noch dreihundert Kilometer. Zwischendurch wacht seine Frau auf und guckt ihn böse an. Schlaf weiter, sagt er, alles wird gut. Die Klimaanlage sorgt für angenehme Temperaturen, nur der sanfte Duft nach Kinderkotze und Durchfall beeinträchtigt das Fahrvergnügen. „Die Familie J. (Schluss)“ weiterlesen
Die Familie J. (3)
Man muss es einen Wutanfall nennen. Jens lässt den Wagen einfach auf die Fläche hinter der Tankstelle rollen, trommelt mit den Händen auf dem Lenkrad und brüllt Unverständliches. Da bremst er abrupt, reist die Fahrertür auf und springt hinaus. Mitten auf einer Fahrspur quer durch den vollen Parkplatz steht der Kombi nun mit laufendem Motor. Jenny reißt die Handbremse hoch und versucht auf den Fahrersitz zu klettern. Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Die Hupen dröhnen, die Fahrer schimpfen. Also steigt sie aus und renn um die Motorhaube herum. Dabei sieht sie aus den Augenwinkeln Jens, der eine leicht abschüssige Wiese am Ende des Parkplatzes hinab läuft und dabei gestikuliert. Die Kinder weinen laut, als sie den Wagen endlich auf einen freien Platz bewegt hat. Sie schaltet den Motor aus und lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken. „Die Familie J. (3)“ weiterlesen
Marianne und ich (7)
Keine Ahnung, ob es heute noch so ist, aber Marianne und ich wurden nicht nur dadurch immer mehr zu einem Paar, dass wir uns besser kennenlernten und einen gemeinsamen Haushalt führten, sondern dadurch, dass wir so etwas wie eine gemeinsame Kultur entwickelten. Also gemeinsame Abneigungen und Vorlieben entdeckten oder auch entwickelten, wenn der jeweils andere zu einem Thema keine Meinung hatte. Das wird Robby nicht verstehen, wie wichtig es ist, in einer Beziehung über einen gemeinsamen Vorrat an solchen Positionen zu haben. Nein, die Insassen der Beziehung müssen nicht zu allem dieselbe Meinung haben oder sich ständig einig sein. Aber es muss eine Art Wertesystem, einen Kodex geben, den beide ernstnehmen, einen gemeinsamen Glauben an etwas. „Marianne und ich (7)“ weiterlesen
Klaus auf Kuba (Schluss)
Sie zieht sich aus und macht sich an seiner Hose zu schaffen. Klaus kann an nichts anderes denken, als dass man sie hier aufstöbern könnte und wehrt sie ab. Do you not like me? fragt sie in holprigem Englisch. Doch, doch, sagt Klaus. Will you marry me, Klaus? Sie liegt vor ihm auf den Knien. Er sieht ihre nackten Brüste. You must marry me! sagt sie und greift nach seinen Hosenbeinen. Or I kill you! Er sieht das schlanke Messer in ihrer Hand. Take me from here! Take me to Germany! Understand?! Da kommt Ramos um die Ecke, stürzt sich auf die schöne Frau und reißt sie weg von Klaus. Er brüllt sie an und gibt ihr Ohrfeigen, sodass sie laut schreit und dann wimmert. Lauf, Klaus, befiehlt Ramos. „Klaus auf Kuba (Schluss)“ weiterlesen
Marianne und ich (6)
Vielleicht ist Robby auch so fasziniert von meiner Geschichte mit Marianne, weil sie so lange ging und so stabil war. Möglicherweise will er ein Geheimnis lüften, lernen wie das geht. Wie Beziehung funktionieren kann. Denn er hat in den vierzig Jahren, die ich ihn jetzt kenne, nie auch nur annähernd eine ähnliche Erfahrung mit einer Frau gemacht. Ich bin auch nicht sicher, ob er es je versucht hat. Mag an seiner Familiengeschichte liegen. Dass er mit vierzehn erfuhr, dass der Mann, den er Onkel nannte, in Wahrheit sein leiblicher Vater war. Oder vermutlich der Erzeuger war, weil seine Mutter in den Wochen rund um seine mutmaßliche Zeugung mit mindestens fünf verschiedenen Männern geschlafen hatte. „Marianne und ich (6)“ weiterlesen
Klaus auf Kuba (3)
Dann greift sie nach seinem Geschlecht, das sofort anschwillt. Raul kommt laut singend aus dem Haus und hat eine gewaltige Erektion. Er springt in den Pool und hebt Conchita hoch, um sie auf seinen Schwanz zu stecken wie ein Legomännchen auf Noppen am Baustein. Klaus flüchtet aus dem Wasser und hört die beiden grunzen und hecheln und winseln und schreien. Er findet Ramos, und sie fahren sofort los. Mitten in der mondlosen Nacht holpern sie im Schritttempo über die Waldwege bis sie gegen Morgen die Fernstraße erreichen. Und jetzt? fragt Klaus. Fahren wir durch zu meiner Familie. Unterwegs finden sie eine Bretterbude, die sich selbst Caffé nennt. Eine zahnlose Frau und ihr zahnloser Mann servieren hervorragenden Kaffee, Eier in Tomatensosse und selbstgebackenes Brot. Das macht sie satt, aber nicht wacher. Es sind noch zweihundert Kilometer bis Dos Bacos. „Klaus auf Kuba (3)“ weiterlesen
Marianne und ich (5)
Am 2. Januar brachen wir in ihre ehemalige Wohnung ein, um ihre restlichen Sachen zu retten, die wir im Taxi zu mir transportierten. Wir hatten nicht gebadet oder geduscht und uns nur notdürftig gewaschen. Wir waren verklebt von Schweiß und anderen Säften und stanken meilenweit gegen den Wind nach Sex. Das, glaube ich, war die Geschichte, die sich Robby von mir gewünscht hatte. Natürlich mit mehr Einzelheiten. Aber die müsste ich mir ausdenken, denn die insgesamt sieben Tage nach ihrer Rückkehr sind in meiner Erinnerung ein einziger Film bestehend aus kurzen Blitzaufnahmen ihres Körpers und seiner Details. Alles aufgenommen mit der subjektiven Kamera. „Marianne und ich (5)“ weiterlesen
Klaus auf Kuba (2)
Sie sitzen ganz allein in der Kantine der Plantage und essen Congrí. Die Mittagspause hat noch nicht begonnen, aber der Koch hat ihnen rasch zwei Portionen warmgemacht, weil Ramos und Klaus so verhungert aussehen. Dann strömen die Arbeiterinnen und Arbeiter hinein, und ehe Klaus es ganz mitkriegt, ist er umringt von einem Dutzend schöner junger Frauen, die auf ihn einreden. Sehr oft, übersetzt Ramos, kommen hier keine blonden Männer hin. Da ist eine sehr dunkle Arbeiterin, die sich direkt neben ihn gesetzt hat. Sie spricht in auf Englisch an. Er findet sie aufregend mit ihrer riesigen Afrokrause und den weichen Gesichtszügen. Wo er herkommen, fragt sie, ob er Amerikaner sei, Tourist oder Geschäftsmann. Ob er mehr als einen Tag bleibe. Wenigstens eine Nacht? Nachdem die Kolleginnen und Kollegen wieder an die Arbeit gegangen sind, bleibt sie sitzen. Ich heiße Zazuela, sagt sie, sei heute Nacht mein Gast. Und ich? fragt Ramos. Du auch. „Klaus auf Kuba (2)“ weiterlesen
Marianne und ich (4)
An einem verregneten Junimorgen gegen acht Uhr fuhren wir los. Marianne hatte eine Flasche Sekt mitgenommen, und wir tranken abwechselnd. Im Saarland blieben wir liegen. Der Dauerregen hatte die Elektrik lahmgelegt, und der Mechaniker in der Werkstatt in Saarlouis meinte, es sei eine größere Reparatur fällig. Das ginge nicht, wandte ich ein, wir müssten rasch weiter. Er dachte eine Weile nach, griff dann zum Telefon und redete eine Weile in seinem merkwürdigen Dialekt. Also, sagte er, ich kann euch einen Diplomat V8 besorgen, könnt ihr gleich haben. Dafür nehm ich den Ford, und ihr legt 1200 Mark drauf. „Marianne und ich (4)“ weiterlesen