Die Anzüge meines Vaters

Manchmal denke ich darüber nach, was aus meinem Vater geworden wäre, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Als er 1947 nach mehr als fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in den USA und in England nach Deutschland zurückkehrte, lag seine Zukunft vor ihm wie ein weites, leeres Feld. Was für die Nation eine Stunde Null nach der totalen Zerstörung war, muss ihm vorgekommen sein wie eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten. Denn sein Klassenhintergrund spielte keine Rolle mehr. Er konnte alles werden, und so verstand er sich als Aufsteiger, als einer, der seine Vergangenheit als Arbeiterkind hinter sich lassen und zum Bürger der Mittelschicht werden konnte. [Lesezeit ca. 7 min]

Martin wurde im Oktober 1923 geboren. Nach dem Besuch der Volksschule begann er im Frühjahr 1938 eine Maurerlehre. Schon sein leiblicher und sein Stiefvater waren Arbeiter; der Besuch einer höheren Schule kam also nicht in Frage. Als Deutschland im September 1939 Polen überfiel und klar war, dass es einen Krieg geben wird, meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Seine Überlegung: Besser als Unteroffizier mit Aufstiegschancen zum Militär zu gehen, denn als Schütze Arsch verheizt zu werden. Da hatte er die Lehre noch nicht abgeschlossen. Ein Jahr dauerte die Ausbildung zum Panzergrenadier, und Martin kam anschließend zum Afrikakorps nach Libyen.

Mein Vater war stolz darauf, nie einen Schuss auf einen gegnerischen Soldaten abgefeuert zu haben, nie in Gefahr geraten zu sein, einen Menschen zu töten. Denn bei der allerersten Begegnung seiner Einheit mit den britischen Truppen wurde er gefangengenommen. Seine Zeit in Nordafrika dauerte nur wenig mehr als ein Jahr. Über Australien gelangte er in das größte Kriegsgefangenenlager in den USA. Rund 30000 deutsche Soldaten waren bei McLean, Texas, interniert.

Martin nutzte die Zeit, lernte die englische Sprache so perfekt, dass er verschiedene Dialekte nachahmen konnte und als Dolmetscher eingesetzt wurde. Er las an Literatur, was die Lagerbibliothek hergab, und studierte aus Büchern Physik, Chemie und Bauingenieurwesen. Über die Arbeitseinsätze der Prisoners of War hat er nicht berichtet, aber darüber, dass er mit Kameraden beinahe täglich Schach oder Poker spielte. Man muss sich seine Zeit in Amerika als eine glückliche Zeit vorstellen. Gleichzeitig aber als eine verlorene Jugend, denn Martin verbrachte die Jahre von seinem 19. bis zu seinem 24. Lebensjahr ganz anders als man sich eine glückliche Jugend vorstellt.

Mein Vater besaß drei Anzüge: einen hellgrauen, einen dunkelgrauen und einen dunkelblauen für festliche Anlässe. War, zum Beispiel bei einer Beerdigung, ein schwarzer Anzug angemessen, musste er sich einen leihen. In den Fünfzigerjahren gab es überall noch solche formelle Kleidung beim Kostümverleih: Anzüge, Smokings, und Fracks für die Herren, Abendkleider und Roben für die Damen. Die drei Anzüge trug er bei der Arbeit im Büro. Vor Ort auf Baustellen kleidete er sich wie die Arbeiter dort und unterschied sich nur dadurch von ihnen, dass er einen grauen Kittel anhatte, immer mit Druckbleistiften in der Brusttasche.

Weihnachten 1947 fand Martin die Stiefmutter wieder, die von Stettin aus nach Nordfriesland geflohen war. Auf demselben Bauernhof waren auch meine Mutter und ihre Mutter nach der Flucht untergebracht. Martin und Charlotte verliebten sich ineinander, und sie wurde bald darauf schwanger. Er hatte eine Stelle als Maurer in Kiel gefunden. Da tauchte der Bauunternehmer Grünzig auf, der Arbeiter mit dem Versprechen nach Düsseldorf lockte, sie und ihre Familien bekämen eine Wohnung in dem Haus, das als erstes wieder aufgebaut wäre. Anfang 1949 holte Martin seine Frau und den kaum drei Monate alten Hans-Joachim in die Stadt am Rhein.

Im Sommer trug mein Vater bei entsprechendem Wetter gern kurze Hosen, kurzärmlige Hemden und Sandalen. Überhaupt kleidete er sich in der Freizeit eher leger. Während die Heimkehrer, die als Beamte und Angestellte tätig waren, auch sonst nie in Hemdsärmeln vor die Tür gingen und selbst zuhause zur Anzughose ein Oberhemd, wenn auch ohne Schlips, anhatten, besaß mein Vater auch Hosen ohne Bügelfalten, und wenn er nicht schon im Juni 1967 gestorben wäre, hätte er sicher auch Jeans getragen. Meine Mutter habe ich nie in Hosen gesehen. Sommer wie Winter ging sie im Kleid oder in Rock und Bluse, gern mit Strickjacke dazu. Zuhause trug sie meistens Kittelschürzen wie wohl alle Hausfrauen damals.

Martin wusste, er konnte alles werden. Er war klug, wissbegierig und ehrgeizig. Das Lernen fiel ihm leicht, und in Gesellschaft war er ein charmanter Unterhalter, einer, der besonders den Frauen gefiel. Er hatte fünf Jugendjahre nachzuholen, und Sex war ihm wichtig. Wichtiger vermutlich als seiner Ehefrau. Neben seinen drei Kinder mit Charlotte zeugte er drei uneheliche Nachkommen. Martin genoss das Leben, aß und trank gern und viel und rauchte unmäßig. Damals gab es beinahe jeden Monat ein Richtfest zu feiern, und Martin ließ keins davon aus. Gleichzeitig aber absolvierte er ein Fernstudium zum Bauingenieur.

Was wir Kinder anzogen, bestimmten die Eltern. Natürlich bekamen alle Jungs Lederhosen, die im Sommer ohne Unterhose getragen wurden und die alles aushielten, was Kleidung beim Spiel auf der Straße, in den Häuserruinen und im Gestrüpp und im Wasser der Düssel zustoßen konnte. Mein Bruder und ich bekamen Anzüge mit kurzen Hosen für Sonntage und Festlichkeiten. Waren wir aus den Hosen und Hemden herausgewachsen oder war ein Kleidungsstück so beschädigt oder verschlissen, dass es sich nicht mehr nähen oder flicken ließ, fuhren wir mit den Eltern in die Stadt – so hieß es, obwohl die Schadowstraße mit ihren Kaufhäusern und Bekleidungsgeschäften nur vier Straßenbahnstationen entfernt lag.

In der Corneliusstraße hatten wir eine Untermieterin, eine junge Frau namens Resi, die in einer Bar als Schönheitstänzerin arbeitete, sich also vor Gästen auszog. Die war mit einem der Juniorchefs einer Altbierbrauerei liiert, und über Resi lernte Martin 1953 Erhard kennen, den lebenslustigen Braumeister, der ein Jahr zuvor noch als Prinz Karneval amtiert hatte. Da hatte Martin sein Fernstudium erfolgreich absolviert und durfte sich Bauingenieur nennen, arbeitet aber noch als Maurerpolier an der Wiederherstellung zerstörter Häuser und ein paar Mal auch an Neubauten. Erhard machte ihm ein Angebot. Martin können festangestellter Baumeister sein und sich um den Wiederaufbau, die Sanierung und Restaurierung der Gaststätten kümmern, die der Brauerei gehörten.

Anlaufstellen waren der Kaufhof, Karstadt, C&A, Hettlage, Peek & Cloppenburg und die kleineren Bekleidungshäuser. Anziehsachen zu kaufen, war für mich eine Tortur. Wir sprachen übrigens immer von Anziehsachen, nicht von Kleidung oder gar Klamotten. Mutti suchte die Stücke aus und half uns, sie in den engen Umkleiden anzuprobieren. Dann entschied sie, denn Vati hielt sich raus. Am schlimmsten aber war der Kauf neuer Schuhe. Ich hatte mich als Kind lange geweigert, überhaupt Schuhe zu tragen, und neues Schuhwerk war über Wochen, wenn nicht Monate ein Qual, das Blasen und Hühneraugen erzeugte. Erst wenn die Schuhe eingetragen waren, konnte ich es aushalten. Ein Mitspracherecht hatten wir beim Kleiderkauf nicht.

Und dann bekam Martin einen Dienstwagen. Irgendwann im Frühjahr übernahm er einen gelb und weiß lackierten Opel Olympia Rekord. Das Autofahren hatte er schon in der englischen Kriegsgefangenschaft gelernt, die er auf einem großen Bauernhof bei Coakley Cley verbracht hatte, erlernt. Jeden Samstag wurde das Auto in der Wagenhalle der Brauerei gewaschen. Wir Söhne halfen. Im Autoradio liefen die Fußballübertragungen. Er trug Gummistiefel und einen grauen Kittel.

Später durften mein Bruder und ich uns einzelne Kleidungsstücke wünschen. Natürlich wollte mein Bruder unbedingt eine Bluejeans haben, eine Nietenhose, wie die Eltern noch sagten. Ich wollte mich nur auf meinen Schulkameraden abheben und entschied mich für ungewöhnliche Hemden. Mit elf war es ein hellblaues Military-Hemd mit Schulterklappen und zwei Brusttaschen. Dann ein bunt kariertes Madras-Hemd, das mit Naturfarben bearbeitet war und sich deshalb nach jeder Wäsche ein bisschen veränderte. Auch Nikki-Pullover und hellen Rollkragenpullis mochte ich gern.

Als nächstes kam ein beigefarbiger Peugeot 403. Das sei praktisch der französische Mercedes, sagte der Vater oft. Auf Fahrten mit der Familie gab er den Herrenfahrer. Er hatte eine beige Strickjacke mit tabakfarbenen Ledereinsätzen und Flicken auf den Ellenbogen angeschafft und eine dazu passende helle Schiebermütze. Außerdem trug er gehäkelte Handschuhe ohne Fingerspitzen und mit Löchern über den Knöcheln. Martin fuhr gerne Auto. Als er 1965 einen Ford Taunus 20m TS mit 90 PS bekam, sagte er jedem, der es hören wollte: Den 20m brauche ich für die Familie, das TS ist mein Hobby.

Martin machte Karriere. Nicht allein mit seiner Arbeit als Bauingenieur, sondern als Sonderbotschafter der Brauerei, der häufig Gastwirtschaften in der Diaspora besuchte, also Gegenden, in den kaum irgendwo Altbier ausgeschenkt wurde. Auch der Kontakt zu anderen Brauereien, die in sein Arbeitsgebiet fielen, zählte zu seinen Aufgaben. Wenn er in den Schulferien auf Dienstreisen ging, nahm der uns oft mit. Ich war mit ihm in München und Freiburg, wo wir in namhaften Hotels untergebracht waren und abends mit den Partnern fein essen gingen. Überhaupt aß die Familie häufig auswärts, weil Martin mit so vielen Wirten eng befreundet waren und die uns regelmäßig einluden. Da gab es einen Jugoslawen, bei dem wir oft speisten, eines der ersten italienischen Restaurants der Stadt und natürlich die gutbürgerlichen Gasthäuser. Und in der Spargelzeit besuchten wir an jedem Wochenende einen der Gasthöfe in der Umgebung, in der Spargel aus regionalem Anbau serviert wurde.

Der Vater wurde magenkrank und litt nicht selten unter starken Schmerzen, nahm etliche Medikamente und besuchte verschiedene Ärzte. Aber vom Rauchen, das die Krankheit verschlimmerte, konnte er nicht lassen. Immer hatte er Ernte 23 geraucht, regelmäßig mehr als eine Packung am Tag. Die Mutter machte ihm Vorhaltungen, also stieg er auf Zigarren um, denn die rauche man ja nicht auf Lunge. Gerade in den ersten sechs, sieben Jahren seiner Tätigkeit für die Brauerei fand beinahe wöchentlich irgendwo die Eröffnung einer renovierten oder neu erbauten Gaststätte statt. Und da musste der Herr Baumeister natürlich anwesend sein. Mutter ging nur ganz selten mit, wohl nur, um aufzupassen, dass es ihr Mann nicht mit dem Essen und dem Alkohol übertrieb.

Wir waren 1962 umgezogen. Im Auftrag der Brauerei hatte Martin ein Eckhaus gleich gegenüber entworfen mit dem offiziellen Brauereiausschank im Erdgeschoss. Es blieb das einzige Wohnhaus, das er plante und baute. Ob er damit zufrieden war, immer nur Kneipen zu renovieren, ist nicht bekannt. In der Rückschau wirkt er zufrieden mit seinem Aufstieg ins kleinbürgerliche Milieu. Der Krieg hatte ihm alle Chancen eröffnet, die Arbeiterklasse zu verlassen, und er hatte eine davon genutzt. Aber offenbar wollte er mehr, wollte er irgendwann zu den Besitzenden gehören. Und auch dafür bekam er die Gelegenheit. Da gab es in einem dörflichen Vorort ein Grundstück, das laut Flächennutzungsplan eine Genehmigung für die Bebauung mit einem sechs- oder siebenstöckigen Block samt Ladengeschäften versehen war. Martin hätte sich mit einem Drittel beteiligen können. Er hätte entsprechende Kredite aufnehmen müssen, und sein Chef hat zugesagt, für die geliehenen Summen zu bürgen.

Heute steht an dieser Stelle der vorgesehene Wohnblock mit insgesamt 58 Wohnungen und sechs Läden. Der Wert der Immobilie wird auf sechs bis acht Millionen geschätzt. Die Mutter aber war dagegen; ihr Mann solle doch bitte keinen Schulden machen, wer wisse denn, was in der Zukunft kommt. Charlotte war der Aufstiegsehrgeiz ihres Ehemannes fremd. Sie stammte aus der Familie eines Tagelöhners mit acht Kindern, der zur Belohnung für seine Tapferkeit nach dem ersten Weltkrieg die Stelle eines Gärtners in einer psychiatrischen Anstalt bekommen hatte. Das war ihre Vorstellung von einem Aufstieg. Darunter, dass der Vater so viel arbeitete und so wenig Zeit für sie und die Kinder hatte, litt sie sehr und flüchtete in wechselnde Krankheiten.

Am 10. Juni 1967 starb Martin in einer Gewitternacht im Anschluss an seine zweite Magenoperation. Er verblutete, weil während des Eingriffs immer wieder Adern platzten und die Ärzte die Blutungen nicht stoppen konnten. Später führte der Operateur die Gefäßschwäche auf die Folgen einer Malariainfektion im Krieg sowie den ungesunden Lebenswandel mit andauerndem Tabak- und Alkoholmissbrauch zurück.