Irgendwann begann Thibaud damit, uns Mails zu schicken. Sie entsprechen in Inhalt und Stil den Vorträgen, die er früher bei unseren Gruppentreffen gehalten hatte. Nur Zilly und ich wussten, dass er mittlerweile mit Ulla einen Landgasthof betrieb, in einem öden Dorf in der Nähe der holländischen Grenze. Besuche hatte er sich allerdings verbeten, und er berichtete auch nicht über seine neue Existenz. Wir nahmen an, dass er selbst alle Aufgaben rund um die Küche übernommen hatte, und Ulla die Frau Wirtin gab.
Seine dritte Rund-Mail nahm darauf allerdings keinen Bezug. In der Betreffzeile stand nur “Egoismus”, ein Thema, das er bereits vor Jahren eine Zeitlang behandelt hatte. Damals war seine These, dass die individuelle Freiheit Grundlage jeden Glücks sei. Wir nannten ihn einen Anarchisten, aber dieses Etikett wollte er nicht akzeptieren, denn – so sein Argument – die Anarchie sei eine herrschaftsfreie Gesellschaftsform, während er sich ein Modell vorstellen, in dem die Menschen je nach ihrer Gestaltungskraft mehr oder weniger Rechte haben sollten.
Und nun nahm er eine ganz und gar andere Position ein.
Er schrieb: “Das wesentliche Missverständnis der Menschen besteht darin, dass sie glauben, Individualismus bedeute, die eigenen Interessen und Standpunkte durchzusetzen, ohne eine andere Begründung zu liefern als die, dass sie ein Recht auf eine eigene Meinung hätten. Gleichzeitig nehmen sie an, sie hätten einen Anspruch auf persönliches Glück. Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass der Individualismus durch die Mechanismen der entfesselten Konsumgesellschaft zu purem Egoismus verkommen ist. Dieses System will den egoistischen Menschen, dessen wesentliches Ziel es ist, seine geldwerten Bedürfnisse maximal zu befriedigen. Die Individuen nehmen das allerdings nicht wahr. Beziehungsweise: Sie beziehen diesen Egoismus auch auf nicht-materielle Bereiche. Sie wollen glücklich sein ohne Rücksicht auf andere. Wenn sie zu fühlen glauben, sie wären nicht zufrieden, gehen sie im übertragenen Sinne über Leichen. Selbst ihnen nahestehende Menschen verweigern sie den Respekt und die Zuneigung – Verantwortung übernehmen sie nur noch für sich selbst. Das führt zunächst zu einer Vernachlässigung der Kinder. Dann zur Beliebigkeit der Partnerwahl. Schließlich zur Abkopplung von der Familie und allen anderen sozialen Verbünden.
Der Konsument wird zur Monade, der sich auch nicht mehr als geschichtliches Wesen begreift, sondern für den die Weltgeschichte mit dem Tag der eigenen Geburt beginnt. Jede Form von nicht stattgefundener Befriedigung und jedes Leid wird als Ungerechtigkeit empfunden. Das Streben nach Glück hindert die Menschen daran, glücklich zu werden.”
Zilly fand, Thibaud gabe Recht. Ich war mir nicht sicher, beschloss aber, doch nicht den Sechszylinder zu kaufen, den ich mir gewünscht hatte.