Nackt in Dünen

Vor einigen Jahren verbrachten wir alle zwei Wochen in einem Sommerhaus an der dänischen Nordseeküste. Thibaud war wenige Wochen zuvor von Edith verlassen worden und hatte, um die Nächte nicht allein im Bett verbringen zu müssen, eine Studentin eingeladen, die seit Anfang des Semsters seine Seminare besuchte und ihn offensichtlich verehrte. Gulla, so ihr Name, war zu der Zeit vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt, ein zierliches Mädchen mit tiefschwarzen Haaren und von unbestimmt asiatischer Herkunft.

Thibaud zeigte – es hätte uns auch überrascht – keine Zeichen einer Verliebtheit, im Gegenteil, er ging mit Gulla eher distanziert um. Ihr Selbstbewusstsein war aber ausgeprägt genug, dies nicht als Herabsetzung zu verstehen. Natürlich hatten Thibaud und Gulla ein gemeinsames Zimmer, aber nur an einem Abend gingen sie gleichzeitig zu Bett. Meist saß Thibaud mit den ausdauerndsten Diskutanten bis zum frühen Morgen, während Gulla sich selten später als Mitternacht zurückzog. Sie trank keinen Alkohol und rauchte nicht – weder Tabak noch Marihuana, das reichlich vorhanden war. Wenn wir wie üblich in großer Runde zusammen saßen und redeten, hielt sie sich lange zurück. Gulla hörte sehr aufmerksam zu, wandte sich dabei nach Möglichkeit auch dem jeweiligen Sprecher zu und kommentierte das Gehörte mit kaum wahrnehmbarem Kopfnicken oder -schütteln, winzigen Gesten und gelegentlich Lauten. Mir kam es vor als mache sie sich unsichtbare Gesprächsnotizen. Wenn dann die Standpunkte zum diskutierten Thema offen lagen und klar war, wer welche Position vertrat, meldete sie sich zu Wort. Tatsächlich konnte sie ganze Passagen aus den Beiträgen der anderen wörtlich zitieren – ich habe es überprüft und eines Tages tatsächlich mitgeschrieben als Hansherbert seine Meinung zu der Frage, ob sexuelle Treue einer Beziehung förderlich sei, erläuterte. Gulla war nicht nur in der Lage, das Gespräch in zwei, drei Sätzen zusammen zu fassen, sie legte auch die Schwächen der jeweiligen Argumente bloß und zeigte die Dialektik mit großer Klarheit auf. Ihren Standpunkt behielt sie allerdings immer für sich. Yvonne berichtete später, sie habe Gulla darauf angesprochen und diese habe geantwortet, dass sie im Geiste des Aphorismus ‘Action speaks louder than words’ erzogen worden sei. Ihr Dad sei in seiner Heimatstadt auf Sulawesi ein hochgeachteter Lehrer gewesen, über den alle mit großem Respekt äußerte, er habe nie ein überflüssiges Wort gesagt.
Unser Domizil in der Umgebung von Esbjerg, ein typisches dänisches Ferienhaus mit sieben Schlafzimmern, war natürlich mit einer Schwimmhalle, einem Whirlpool und einer Sauna ausgestattet. Auch wenn die Gruppe einen großen Teil der Aktivitäten – Spaziergänge, Badminton-Runden, Frühstück und Abendessen – gemeinsam unternahm, zeigten sich die individuellen Unterschiede am meisten im jeweiligen Tagesrhythmus. So war ich schon nach wenigen Tagen als zwanghafter Frühaufsteher verschrien, weil Zilly mich gegen sechs Uhr am Morgen im Pool gesehen hatte als sie schlaftrunken zur Toilette ging. Andererseits zogen sich Eva und Roger gerne gegen ein Uhr nachts für zwei, drei Stunden in die Sauna zurück. Wenn nichts geplant war, teilte sich die Gruppe. Während sich ein paar von uns auf den Weg in die Dünen machten, suchte sich die anderen angenehme Plätze auf der Terrasse, lasen, schrieben oder sonnten sich. Die Grenze zwischen diesen Teilgruppen waren fließend. An einem Tag ging ich mit zum Strand, am anderen blieb ich am Haus. Gulla war immer bei denjenigen, die es ans Wasser zog, während Thibaud das Grundstück nie verließ. Wir hatten mitten in den Dünen eine windgeschützte Senke entdeckt, in der wir unser Lager aufschlugen. Thea und Escobar hatten ihre Rucksäcke mit Brot, Käse, Wurst und Dosenbier gefüllt, wir saßen im Kreis auf unseren Handtüchern, aßen, tranken und plauderten. Die Nordsee war um diese Jahreszeit noch sehr kalt, hatte vielleicht eine Temperatur von dreizehn, vierzehn Grad, und niemand war bis zu jenem Tag auf die Idee gekommen, im Meer zu baden.

Wir waren sehr früh losgegangen, die Sonne hatte uns vom wolkenlosen Himmerl bestrahlt und unsere Körper erhitzt. Nach und nach hatten wir unsere T-Shirts und Hemden abgelegt die Männer saßen bald mit freiem Oberkörper da, wer eine lange Hose anhatte, krempelte sie hoch. Plötzlich stand Gulla auf und zog sich aus. Nackt stand sie vor uns und lachte, der Wind zerrte an ihrem Haar, ihre Haut am ganzen Körper hatte eine fast gleichmäßige, an dunkles Ocker erinnernde Farbe. Ich fragte mich, ob dies ihre natürlich Hautfarbe sei oder ob sie vom Sonnen oder dem Besuch eines Bräunungsstudios stammte. Ihre Brustwarzen waren fast schwarz, und sie hatte einen sehr kleinen, pechschwarzen Busch auf dem Schamhügel. Gulla lief über den Dünenkamm und hinunter an den Strand. Wir waren aufgesprungen und sahen ihr zu wie sie, ohne sich abzukühlen, in die Brandung stürmte, unter der Gischt durchtauchte und weit hinaus schwamm.

Niemand erzählte Thibaud davon. In der folgenden Nacht lag ich schlaflos. Ich nahm eine Taschenlampe und wanderte hinüber zu den Dünen. Oben am Parkplatz gab es eine Bank. Als der Lichtkegel darauf fiel, sah ich Gulla dort sitzen. Ich habe auf dich gewartet, sagte sie. Wir gingen ein paar Schritte und fanden die Senke, in der wir den Tag verbracht hatten. Bis der Morgen anbrach hatten wir dreimal Sex miteinander. Auch das hat Thibaud nie erfahren.

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