Köhler (2)

Beinahe jeden Tag wanderte Alfred nun mit Hexe zum Hang, den Rucksack gefüllt mir Vorräten. Außerdem lagerte er im Bunker Werkzeug, Kochgeschirr, Akkus und Verbandszeug. Esgelang ihm, einen Draht aus dem ersten Raum durch die Luke bis ins Freie zu führen, der als Antenne für den Rundfunkapparat dienen sollte. Am schwierigsten war es, Matratzen für die vorhandenen Notbetten unauffällig in den Wald zu transportieren. Dafür lieh er sich beim Schrotthändler Metin einen Handkarren und erledigte diese Aufgabe in zwei mondlosen, regnerischen Nächten. Auch die nötigen Elektrogeräte brachte er mit dem Karren zum Bunker. Nach einunddreißig Tagen war alles bereit für den Umzug. Vorher wollte er aber noch die Tiefen der Anlage erforschen. Die Schnur war immer noch an der Eingangstür befestigt, und Alfred ging mit dem Knäuel in der Hand auf die Stahltür am Ende des Ganges zu. Sie war ganz leicht zu öffnen. Hexe lief voraus als er sie durchschritt. „Köhler (2)“ weiterlesen

Köhler (1)

Noch siebenundvierzig Tage blieben den Köhlers. Dann fände die Zwangsräumung statt, und sie wären Wohnungslos. Es gab keine realistische Möglichkeit, bis dahin die rund zweieinhalbtausend Euro Mietrückstände auszugleichen. Alfred hatte also einen Plan B ausgearbeitet. Bei einem Spaziergang mit der Mischlingshündin Hexe hatte er auf halber Höhe am Vorberg der Stadt einen Bunkereingang entdeckt. Hexe hatte im Unterholz gestöbert. Dann jaulte sie, und Alfred wusste, dass sie sich in einem Dornenbusch verfangen hatte. Das Brombeergestrüpp überwucherte er einen Betonstumpf von vielleicht anderthalb Metern Höhe. Mit dem Taschenmesser schnitt er einen Zugang und entdeckte eine Stahltür, die sich ohne Weiteres öffnen ließ. Beim Licht seiner Stablampe erkannte er acht, neun Stufen, die abwärts in einen quadratischen Raum führten. Er beschloss, sich die Sache bei Gelegenheit und besser ausgerüstet anzusehen. „Köhler (1)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (6)

Am folgenden Morgen beim Frühstück sagte sie ihm, dass sie abreisen werde. Sie müsse nach W. zu einer Freundin. Er hakte nicht nach, und eine Stunde später war sie weg. Vorher hatten sie sich verabredet: am 29. in K. am Dom, zehn Uhr vormittags am Haupteingang. Wietten hielt diese Angaben für rein symbolisch und war sich sicher, sie nie wieder zu sehen. Dann saß er lange auf der Spitze der Insel, blickte auf den Fluss und zwang sich, nicht über Tilde nachzudenken. Er beschloss, sie solle ihm ein Rätsel bleiben, eine letztes schönes Aufflackern von Liebe und Sex in seinem Leben. Doc George, sein Leibarzt, hätte darüber gelacht. Als Wietten vor zwei Jahren bei ihm zur Rundum-Untersuchung war, hatte der Freund aus alten Tagen am Ende gesagt: Jensen, du hast den Körper eines Mannes von Mitte Fünfzig, keine Ahnung warum. Und im Kopf bist du nie älter als Dreißig geworden. Der Doc hatte sich über dieses Statement vor Lachen ausgeschüttet, aber sein Patient nahm die Aussage schweigen und eher nachdenklich hin: Wie war ich mit Dreißig? „Wietten und die Tilde (6)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (5)

Natürlich ahnte Wietten nicht, dass er im Haus am See zum letzten Mal mit ihr geschlafen hatte als sie Pie-Peter verließen und mit dem Geländewagen wieder hinab in die Hochebene tauchten, die unter einem schönen Nebel lag. Die wenigen Stunden beim Einsiedler hatten sie verändert, hatten etwas Bedrohliches in ihr ausgelöst, das er nicht fassen konnte. Vielleicht aber hatte das schon in Paris begonnen. Denn ab dem vierten Tag wurde ihre Laune immer schlechter. Sie interessierte sich nicht für den Louvre, sie interessierte sich nicht für das Jeu de Paume, sie wollte sich keine Gemälde ansehen, kein Museum betreten. Sie wollte nur umher streifen und möglichst viel mit der Metro fahren. Am Mittwoch ging er also allein den Boul’Mich entlang, über den Pont St. Michel und die Insel bis zum Louvre. Es trieb ihn zu einem Bild, das in seinem Leben schon mehrfach eine Rolle gespielt hatte, dem Floß der Medusa von Gericault. Als der das Hotel verließ, schlief sie noch. Später besuchte er auch noch das Rodin-Museum, nahm das Mittagessen in einem Bistro, das all die Jahre überlebt und in dem er schon vor über vierzig Jahren gegessen hatte. Was sie tagsüber unternahm, wusste er erneut nicht. „Wietten und die Tilde (5)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (4)

Er erinnerte sich an das Zimmer in der Villa, in dem sie zum ersten Mal zusammenkamen. Da stand eine mächtige Stereoanlage mit gewaltigen Boxen und einem Highend-Plattenspieler. Eine Wand war ganz bedeckt mit Regalen, in denen Hunderte Schallplatten lagerten. Überall Modelle von Autos. An den Wänden gerahmte Schwarzweißfotos schöner Frauen. Dazu ein Tisch gefüllt mir Whisky-Flaschen verschiedener Sorten. Ganz eindeutig ein Männerzimmer. Im wurde klar, dass sie dort nicht wohnte, sondern das Appartement nur nutzte. Vielleicht als temporäre Unterkunft gemietet. Und dann ihr eigenartiger Rucksack, das einzige Gepäckstück, das sie besaß. Jetzt im Zug hatte sie das Ding auf einem Sitz abgestellt. Groß wie ein Koffer, wie die Ausrüstung eines Backpackers, und prall gefüllt. Das untere Drittel war vom Rest abgetrennt und mit einem eigenen Reißverschluss versehen. Vielleicht war sie eine moderne Nomadin, vielleicht hatte sie gar keinen festen Wohnsitz. Ihm war aufgefallen, dass sie offensichtlich nur einen begrenzten Bestand an Kleidung besaß, den sie aber geschickt zu kombinieren wusste. „Wietten und die Tilde (4)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (3)

Sie erzählte die Geschichte mit langen Pausen und stockte an Stellen, die Wietten gar nicht heikel erschienen. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass es sie schmerzte, diesen Bericht abzugeben, dass sie lieber nicht darüber gesprochen hätte. Und nahm das als Vertrauensbeweis. Gleichzeitig erschien ihm diese Nacht im Hotel in F. das erste Mal, dass sie sich ebenbürtig waren. Vielleicht gespeist aus einer gewissen Unsicherheit, die er aufgrund des enormen Altersunterschied spürte. Immerhin war er sogar älter als ihr Großvater. Wobei sie miteinander nie über das Alter sprachen. Also weder darüber, dass sie erst siebenundzwanzig war, noch über seine mehr als siebzig Jahre. Die Situation war in jeder Hinsicht ungewohnt für ihn, weil er sein ganzes Leben lang meistens der Jüngste oder einer der Jüngsten in seinem jeweiligen Umfeld war. Zum Beispiel beim Gewinn der Goldmedaille bei den olympischen Spielen in Rom 1960 im Achter. Gerade einmal achtzehn war er an jenem 3. September auf dem Albaner See. „Wietten und die Tilde (3)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (2)

Sie schwebten in ihrem Bett über den glitzernden Lichtern der Stadt. Sie war einfach mitgekommen als Wietten nach F. reiste, wo er zwei Wochen lang an einem Problem bei der C.-Bank zu arbeiten hatte. Also hatte er die Suite im 22. Stockwerk gemietet, die mit den deckenhohen Fenstern und dem freien Blick nach Südwesten bis hinüber zum Flughafen, wo jetzt die Maschinen davonflogen wie Leuchtkäfer im Juni. Er hatte keine Ahnung, was sie tagsüber unternahm. Wenn er gegen sechs aus dem C.-Tower zurückkam, saß sie immer entspannt auf dem Sofa der Suite und tat als schaue sie Fernsehen. Dann vögelten sie ein bisschen, gingen essen oder ließen sich etwas bringen, lagen den ganzen Abend im Bett und unterhielten sich. Wobei es Wietten war, der die Unterhaltung führte, denn sie redete wenig. Nicht nur an diesem Ort zu dieser Zeit. Am Wochenende verließen sie das Hotel gar nicht. Wechselten nur von der Suite ins Spa, ins Restaurant oder in die Bar. „Wietten und die Tilde (2)“ weiterlesen

Wietten und die Tilde (1)

Sie lag auf der Liege und er daneben im warmen Sand. Hob den Kopf, drehte sich seitwärts und stützte sich mit dem Ellenbogen ab. Ihr Körper wie die Landschaft. Sanfte Hügel mit einem delikaten Gebüsch in dem einen Tal. Vielleicht, dachte Wietten, lieben die Menschen ja deshalb solche Landschaften, weil sie an den nackten Leib einer schönen Frau erinnern. Später standen sie nebeneinander auf dem Steg in der Abendsonne. Sie lehnte sich an ihn, den Kopf schräg an seine Schulter. Er hatte seinen linken Arm um ihre Hüfte geschlungen. Zuvor waren sie ruhige Bahnen geschwommen und miteinander zu reden. Sie ließen die Liege am winzigen Sandstrand stehen. Dann fuhren sie los. „Wietten und die Tilde (1)“ weiterlesen

Erik und Parishad

Er musste noch schneller sein. Noch viel schneller! Er war das ganze Wochenende über schnell gewesen, von Freitagabend bis Sonntagnacht, er konnte jetzt nicht mehr bremsen. Überhaupt konnte er inzwischen kaum noch bremsen, weil er Angst vor dem Stillstand hatte. Er musste dauernd nachtanken, um immer ganz vorne dran zu sein. Nur so konnte er in der Agentur bestehen, ein kreatives Wunderkind. Der Termin war für zehn angesetzt, er wollte um zehn vor zehn da sein. Das Navi hatte 09:54 als Ankunftszeit ermittelt. Er musste schneller sein als das Navi. Die Einfallstraße nahm er mit neunzig. Schnell auf die linke Spur und an der F.-Straße schnell links abbiegen. Die Ampel zeigt schon Gelb. Gasgeben, und so sicher der X6 sonst auf der Straße liegt, das ist zu viel. Der Wagen schlingert, er kontrolliert ihn nicht mehr. Der schwarze Marmor unter den Schaufenster des Goldhändlers. Fast ungebremst gegen die Wand. Er ist nicht angeschnallt. Wird nach vorne geschleudert, das Stirnbein bricht. Sein Körper quer durchs Innere. Rippen, Unterarm, Schienbein, Füße, Hände, alles bricht. „Erik und Parishad“ weiterlesen

Helma und Ulrike

Sie liegen nebeneinander auf der Decke in der Sonne und fühlen sich noch einmal so jung wie damals, als sie sich kennenlernten. Wie sie dann mit den Klischees gespielt hatten: Der blonde Engel und die schwarzhaarige Domina. Galten über viele Jahre als das bekannteste Lesbenpaar der Stadt und waren doch nur gute Freundinnen. „Ich bin eine schwedische Finnin“, so stellte sich Helma vor. Und Ulrike sagte dann jedes Mal: „Quatsch! Sie ist eine finnische Schwedin“. Damals war Helma das, was man fraulich nannte, und fühlte sich wohl in ihrem Körper. Ulrike überragte sie um anderthalb Köpfe, dünn, beinahe dürr, mit raspelkurzen Haaren. Trug meist schwarze Jeans und eine dazu passende Motorradjacke. Rauchte schwarzen Tabak und soff Wodka pur. Zusammen sind sie alt geworden. Und haben sich über die Zeit aneinander angeglichen. Nach ihrer langen Krankheit ist Helma abgemagert und lässt sich die weißgrauen Haare immer sehr kurz schneiden. Ulrike hat durch das viele Training Muskeln angesetzt und trägt einen langen, schwarzen Zopf. „Helma und Ulrike“ weiterlesen

Adele und Wilhelm

Wenige Tage nach der Beerdigung ihres geliebten Mannes beschloss Adele, sich das Leben zu nehmen. Schon als sie ganz allein hinter dem Wagen mit der Urne ging und später als der Bestatter den Behälter in einem Loch in der Erde versenkte, war ihr der Gedanke gekommen. Wider Erwarten hatte dieser Beschluss nichts Trauriges an sich. Sie saß bei einer Tasse Tee an der offenen Terrassentür, blickte auf den Garten, den sie und Wilhelm einst angelegt und beinahe vierzig Jahre gepflegt hatten, und war heiterer Stimmung. Natürlich dachte sie ständig an ihn, so wie sie in den fast sechsundsechzig Jahren ihrer Ehe immer an ihn gedacht hatte. Immer waren sie ein schönes, aber beinahe unmögliches Paar gewesen, die sie beide im selben Jahr und im selben Monat und nur mit zwei Tagen Abstand voneinander geboren waren. Kaum drei Wochen vor Wilhelms Tod waren sie neunundachtzig Jahre geworden und hatten wie immer gemeinsam an einem Tag gefeiert. Zum ersten Mal allein, denn mit Adeles Schwester Claire war die letzte Verwandte gestorben. „Adele und Wilhelm“ weiterlesen

Antoine und Inge

Als Antoine ein Dutzend Lammkoteletts bestellte, legte ihm Inge die Hand auf den Unterarm und sah ihn mit leichter Mißbilligung an. Er lachte kurz und mit weit geöffnetem Mund, sodass man die vielen Lücken und Zahnruinen sehen konnte. Das erste Glas Wein leerte er in einem Zug. Wie immer tropfte ihm das Hammelfett aufs Hemd. Auch die Fritten aß er mit den Fingern. Seine Lebensgefährtin hatte eine kleine Portion Moussaka bestellt und stocherte im Auflauf herum. Sie machte sich Sorgen um Antoine. Sie war der Ansicht, in seinem Alter müsse man mehr auf die Gesundheit achten, nur noch in Maßen essen und sich regelmäßige Ruhepausen gönnen. Dabei war ihr Mann nicht im mindesten krank. Wie schon mit neunzehn, zwanzig stach er aus jeder Menschenmenge heraus: Sehr groß, absolut schlank mit einem wilden Haarschopf und einem kaum gestutzten Bart. Seit Jahren durchzogen graue Strähnen sein Haar, und er fand, das mache ihn noch attraktiver. Genau wie seine Narben. „Antoine und Inge“ weiterlesen

Monika und Bernd

Dieser Tage wachte Monika in der beginnenden Morgendämmerung auf stellte fest, dass Bernd auf dem Rücken lag und leiste schnarchte. Sie erschrak und setzte sich auf. In den mehr als 30 Jahren, in denen sie mit ihm das Bett geteilt hatte, war das noch nie geschehen. Immer schlief er auf dem Bauch. Manchmal auch auf seiner rechten Seite, den Arm lang ausgestreckt. Und geschnarcht hatte er noch nie. Monika war schockiert und wusste, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Leise stand sie auf, um sich einen Tee aufzusetzen. Gegen vier saß sie auf der Terrasse, in eine Decke gewickelt, und hörte den frühen Vögeln zu. „Monika und Bernd“ weiterlesen

Charlene und ich (4)

Ab dem dritten Advent wurde das Wetter ungemütlich. Das sei hier um Weihnachten herum meistens so, sagte Herr Sosna, der Inhaber des Platzes, der in einem Steinhäuschen knapp außerhalb des Geländes wohnte. Charlene hatte sich Schnee gewünscht, deutsche Gemütlichkeit, Romantik und dergleichen. Statt dessen bekamen wir Dauerregen, milde Temperaturen und ab und an ein bisschen Sturm. Aber davon bekam sie nicht mehr viel mit. Über einen Bekannten von einem Bekannten von einem Freund von Herrn Sosna war ich an eine nie versiegende Quelle für Morphine gekommen. Alle vier Stunden spritzte ich Charlene eine Dosis, sodass sie einigermaßen schmerzfrei vor sich hin dämmern konnte. Wenn sie dann eingeschlafen war, drehte ich die Runden mit Dunja; meistens gleich in der Nähe vom Platz unten am Rhein. Manchmal fuhren wir in den Wald östlich der Stadt, das hatte mir Herr Sosna empfohlen. Der Hündin gefiel beides, wobei sie im Wald immer viel näher bei mir blieb, als müsste sie mich vor bösen Geistern beschützen. Mein Deutsch wurde immer besser, und ich unterhielt mich gern mit anderen Hundehaltern, fragte sie aus über die Stadt, über Land und Leute, über Deutschland und die Deutschen. „Charlene und ich (4)“ weiterlesen

Charlene und ich (3)

Der Hund kam früher als erwartet. Wir hatten einen sehr großen, unter europäischen Campern berühmten Platz am Balaton angesteuert, wo wir sofort einige Paare trafen, denen wir auf unserer Tour schon begegnet waren. Unter anderem die beiden älteren Herren aus Dänemark, die uns erklärt hatten, sie seien ein Ehepaar und könnte bald silberne Hochzeit feiern. Die hatten direkt nach der Pensionierung ihren Haushalt aufgelöst, das Häuschen bei Esbjerg verkauft und den Erlös in einen umgebauten Reisebus investiert. Mir kamen sie sehr dänisch vor, obwohl ich eigentlich keine Vorstellung davon hatte, wie Dänen im Allgemeinen sind. Rasmus und Ove, so hießen die zwei, waren im vierten Jahr unterwegs und richteten sich inzwischen nach den Jahreszeiten: Die Winter verbrachten sie im Süden der iberischen Halbinsel, im Hochsommer traf man sie meist hoch im Norden, im Frühling ging es immer nach Südfrankreich und Norditalien, und im Herbst waren dann entweder die britischen Inseln oder eben Österreich, Ungarn, Tschechien und andere östliche Länder dran. In Spanien hatten sie im ersten Jahr eine Streunerin aufgegriffen, eine Windhündin von der Rasse der Galgos. Das Tier war nicht weniger zurückhaltend und höflich als seine Herren, dazu aber ziemlich misstrauisch. „Charlene und ich (3)“ weiterlesen