Wenige Tage bevor Thibaud nach Amerika verschwand, hatte er mich abends besucht. Er sah bedrückt aus und hielt sich gar nicht erst mit Smalltalk auf. „Weißt du,“ begann er, „ich habe mir Gedanken über mein Sterben und das Danach gemacht. Ich würde das Ergebnis nicht mein Testament nennen, sondern eine Wunschliste an den Tod.“ Ich erschrak, und in den ersten Tag nach seinem Verschwinden dachte ich manchmal, er habe sich umgebracht. Aber dagegen sprach, was er mir sagte: „Testament“ weiterlesen
Der Haken
Der letzte Brief, den Thibaud aus Kalifornien schrieb, ging nicht an uns. Wir hatten schon mehr als ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört, und keiner von uns hatte eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihm. Wir waren sicher, dass er sein Glück bei Deborah gefunden hatte und wir ihn nie wiedersehen würden. Dann waren wir alle bei der Geburtstagsparty von Olivia, die sehr geheimnisvoll tat. Es werde jemand erscheinen, mit dem wir nicht gerechnet hätten. Alle dachten insgeheim, dass es sich nur um Thibaud handeln könne. Auch ich war ein wenig enttäuscht, als uns Olivia gegen Mitternacht eine schmale Frau unbestimmbaren Alters als Ehrengast vorstellte und sagte: „Das ist Gulla. Einige von euch werden Sie noch kennen.“ Ich erinnerte mich an diesen merkwürdigen Urlaub in Dänemark und an die Affäre, die Thibaud mit dem knabenhaften Mädchen hatte. Sie bat um unsere Aufmerksamkeit: „Thibaud hat mir geschrieben. Ich denke, es ist in Ordnung, dass ich euch seinen Brief vorlese, obwohl er persönlich an mich gerichtet ist.“ „Der Haken“ weiterlesen
Profikiller
Es ist einige Jahre her, da bat mich Thibaud, ihn zu einem Kongress in Wien zu begleiten, wo er einen wichtigen Vortrag zu halten hatte. Es war ihm recht, die Strecke in zwei Tagen mit dem Auto zu bewältigen, und so reisten wir mit meinem flammneuen Saab Cabrio Richtung Süden. Das Wetter war gut, der Verkehr relativ dünn. Wir übernachteten außerhalb von Nürnberg und fuhren am frühen Morgen wieder los. Man hatte in Wien Zimmer im Hotel Herrenhof für uns reserviert, und am späten Nachmittag trafen wir ein. Wir bezogen die Zimmer und beschlossen, die innere Stadt zu Fuß zu erkunden. Später aßen wir eine Kleinigkeit in einem böhmischen Restaurant. Schließlich wollten wir den Abend in einer Bar ausklingen lassen und fanden uns eher zufällig im Planter’s Club wieder. An einem der Tresen suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen und bestellten Mojitos. Wir redeten wenig und beobachteten das Treiben. Eine junge Frau im unauffälligen Business-Kostüm kam vorbei und setzte sich in unserer Nähe an die Bar. Der Bartender verwechselte eine Bestellung, sodass sie einen Mojito bekam und ich einen Gin-Tonic. So lernten wir uns kennen. „Profikiller“ weiterlesen
Veränderungen
Dass Thibaud an der Spitze der Alterspyramide unserer Gruppe steht, dürfte bekannt sein. Aber mit geringem Abstand folgen drei Frauen, eine davon ist Jill. Und die war unseren Treffen über lange Zeit, sicher zwei, drei Jahre, ferngeblieben. Nun hatte Hanshubert wieder einmal zu einer Party geladen. Seine Feste waren legendär, auch weil es jedes Mal zu einem Ereignis kam, das in den Anekdotenschatz der Gruppe einging. In weiser Voraussicht hatte er die Terrasse über den Dächern des Gewerbegebiets als Hauptspielfeld eingerichtet, denn es war ein recht heißer Sommertag, und die Nacht versprach, mild zu werden. Jill hatte sich angemeldet. Bei unserer letzten Begegnung hatte sie erzählt, sie sei im Vorjahr fünfzig geworden und habe dieses Jubiläum im Kreis von lauter Kerlen in einem Club für Singles auf Fuerteventura verbracht. Es sei sehr schön für alle Beteiligten gewesen. „Veränderungen“ weiterlesen
Maffay
Vor zehn oder zwölf Jahren erzählte mir Thibaud einen merkwürdigen Traum: „Ich sitze auf einem Holzstuhl, so ein Teil aus Teak, wie es die Leute auf den Terrassen haben. Der Stuhl steht jedoch auf ein dem breiten Gehweg eines Boulevards; so einer wie die Champs Elysee, der Ku-Damm oder die Kö. Die Leute laufen alle in eine Richtung. Sie kommen links und rechts an meinem Stuhl vorbei, und ich sehe nur ihre Rückansichten. Es ist ein heller, freundlicher Sommertag. Auch die Autos fahren alle in dieselbe Richtung. Man hört nur das Klappern der Absätze und leichte Motorengeräusche. Dann nehme ich aus den Augenwinkeln eine ungewöhnliche Gestalt wahr, die in mein Blickfeld gerät. Nach ein paar Sekunden sehe ich, dass es sich um ein Wesen handelt, dass nur ungefähr halb so hoch ist wie die Passanten, aber doppelt so breit. „Maffay“ weiterlesen
Im Wald
Dann kam der zweite Brief von Thibaud: „Unser Haus in Carmel liegt nicht besonders einsam. Der Cabrillo Highway verläuft nur ein paar Hundert Meter oberhalb, und der Strand, auf den wir blicken, ist an Wochenenden oft überfüllt. Aber wir haben ja noch die Hütte im Wald. Die liegt unweit vom Los Padres Reservoir in den Bergen, weitab von jeder menschlichen Ansiedlung. Bill, ein Freund Deborahs aus Kindertagen, hat sie mit den eigenen Händen erbaut und Townie’s Retreat genannt. Sie ist klein, aber mit allem ausgestattet, was man sich in der Wildnis wünscht. Es gibt einen Brunnen. Und Bill hat das Dach mit Solarzellen versehen, sodass auch ausreichend Strom zur Verfügung steht. Er selbst lebt in Oakland, wo er geboren und aufgewachsen ist. Wann immer wir die Einsamkeit suchen, rufen wir Bill an und fragen, ob die Hütte frei ist. Ist das der Fall, fahren wir hin. Im Townie’s Retreat leben wir nackt – den ganzen Tag und die ganze Nacht. „Im Wald“ weiterlesen
Kalifornien
„Ich bin jetzt nach Kalifornien umgezogen,“ schrieb Thibaud. Er hatte den Brief an Lucio’s adressiert, und wir fanden ihn an einem Freitagabend dort vor. Lucio gab Olivia den Umschlag mit der Bemerkung, den habe jemand abgegeben. Sie öffnete das Kuvert und begann, vorzulesen. Schon nach dem ersten Satz waren wir überrascht, denn niemand hätte sich vorstellen können, dass Thibaud, der die USA immer gemieden hatte, an die Westküste umsiedeln würde. Eine starke Hassliebe verband ihn mit Amerika, und er hatte es immer das Land unserer Besatzer genannt, die in unserem Land seien, um uns umzuerziehen, damit wir als Konsumenten für ihre Waren funktionieren. Auch sprach er oft von Kulturimperialismus, wenn sich einer von uns begeistert über einen Song der US-Musikindustrie oder einen Hollyvood-Film äußerte. Andererseits wusste er zu berichten, dass sein Vater, der den größten Teil der Kriegsgefangenschaft in Oklahoma verbracht hatte, immer von dem weiten, schönen Land und den netten Menschen geschwärmt hatte. Und trotzdem, das hatte Thibaud oft betont, waren die USA immer noch das Sklavenhalterland, immer noch der Ursprung allen kapitalistischen Übels. „Kalifornien“ weiterlesen
Penisdimensionen
Herr Rupprecht behauptete eines Abends, sein Penis sei in erigiertem Zustand mindestens 25 Zentimeter lang und so dick wie eine handelsübliche Fleischwurst. Dann trank er seinen Rotwein aus, grüßte mit einem Kopfnicken und verließ die Gastwirtschaft. Natürlich taten wir seine Aussage als übliche Übertreibung im Kneipengespräch ab und vergaßen die Sache. Herr Rupprecht hatte sich über Monate an unsere Gruppe herangemacht, nachdem wir das Lucios zu unserem Stammlokal gemacht hatten. Herbert, der Wirt, den alle Lucio nannten, weil er gern davon erzählte, er habe eine Zeit lang die erfolgreichste Bude am Strand von Carvoeiro geführt, hatte uns im Westflügel einen Tisch zugeteilt, an dem wir zu zehnt gut Platz fanden. Anfangs hielt sich Herr Rupprecht vorwiegend am Stehtisch im Eingansgbereich auf, später saß er ein paar Tische entfernt von uns, und schließlich nahm er am Nebentisch Platz, sobald wir auftauchten. Dass er es auf die Frauen in unserem Kreis abgesehen hatte, war offensichtlich. So verwickelte er besonders Hilda, Olivia und Elke zu vorgerückter Stunde gern ins Gespräch. [Lesezeit ca. 2 min] „Penisdimensionen“ weiterlesen
Rasuren
Frédéric, der Youngster unserer Gruppe, war völlig fertig. Seine Freundin habe sich völlig überraschend von ihm getrennt. Was der Grund gewesen sei, fragte Olav. Er habe sich geweigert, eine Totalrasur vorzunehmen. Sarah habe verlangt, er solle sich Brust und Beine enthaaren und vor allem unter den Achseln und zwischen den Beinen rasieren. Das habe er zuerst nicht ernstgenommen, statt dessen einen Scherz darüber gemacht und die Sache ignoriert. Dann habe sie ein paar Tage später unter Tränen gesagt, sie könne nicht mehr mit ihm schlafen, das wäre so eklig mit den ganzen Haaren. Und deshalb sei jetzt Schluss. [Lesezeit ca. 2 min] „Rasuren“ weiterlesen
Kunstmacht
Nachdem er sich um seinen Lebensunterhalt nicht mehr sorgen musste, hatte sich Thibaud nach langen Jahren wieder für die Kunst entschieden. Eines Tages rief er an und lud Zilly und mich in sein neues Atelier ein. Er hatte eine aufgelassene ALDI-Filiale in Friedrichstadt angemietet und seinen Wünschen entsprechend gestalten lassen. Die Schaufenster waren mit dunkelblauem Samt verhängt. Eine Klingel gab es nicht. Wir klopften an die Scheibe und warteten. Nach ein paar Minuten öffnete Thibaud und bat uns hinein. Der langgezogene Raum mit den weißlichen Fliesen war hellgrau lackiert. Während der vordere Teil im Dämmerlich lag, war das hintere Drittel durch Filmscheinwerfer hell erleuchtet. Dort standen zwei große Tisch, sicher zwei auf drei Meter groß. Der eine war leer bis auf einen flachen schwarzen Gegenstand, den anderen bedeckten mehrere Schichten aus Zeitungsseiten, großen Fotos, Karton und Papier verschiedener Struktur und Größe. Mir fiel sofort auf, dass außer Schwarz, Weiß, Grau und Rot keine anderen Farben vorkamen. Thibaud trug passend zum Ambiente einen feuerroten Overall. Er führte uns herum, ohne mehr zu sagen als dass das eine der Arbeitstisch, der andere dagegen der Kramtisch sei. Dann zeigte er im vorderen Teil auf eine Sitzgruppe und bat uns, Platz zu nehmen. [Lesezeit ca. 2 min] „Kunstmacht“ weiterlesen
Dicke Frau
Thibaud erzählt: „An einem Frühsommertag, Ulla hatte mich gerade verlassen, saß die dicke Frau im Gastraum. Ich kam aus der Küche und schaute von der Theke aus, wie viele Gäste da wären. Sie saß an einem Tisch im Wintergarten. Die dicke Frau trug ein ärmellose, rotes Sommerkleid mit ziemlich tiefem Ausschnitt. Damals war ich sehr einsam. Deshalb versuchte ich oft, mit Damen, die allein ins Landgasthaus kamen, Kontakt aufzunehmen. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich vor. Sie sah mich an und bestellte ein Glas Weißwein. Nein, nein, sagte ich, ich bin hier der Wirt, aber ihren Weine bekommen sie trotzdem. Dann holte ich eine Flasche vom guten Riesling und zwei Gläser. Ich setzte mich zu ihr und schenkte uns ein. Die dicke Frau war wirklich sehr dick. [Lesezeit ca. 4 min] „Dicke Frau“ weiterlesen
Bleistift & Papier
Im Sommer trafen wir uns in dem Landgasthaus, das Thibaud und Ulla vor ein paar Jahren bewirtschaftet hatten. Unter der Linde hatte man einen langen Tisch für uns aufgebaut. Die Luft war mild, und wir saßen da zusammen, aßen, tranken und plauderten. Fast jeder hatte ein neues technisches Gerät dabei. Olav führte seinen iPod vor, und Karola zeigten den Freundinnen ihren EeePC. Natürlich hatte auch Hansherbert sein Notebook dabei und tippte eifrig Notizen für seine nächsten Artikel ein. Thibaud aber, der bisher der beflissenste Verteidiger des digitalen Zeitalters war, hielt sich raus und sag spöttisch in die Runde. Dann zog er ein Etui heraus und entnahm ihm einen Bleistift. Aus der Jackentasche zog er ein Notizbuch, das in schwarzes Kunstleder gebunden war. Er hielt beides hoch und sagte: „Das sind die wahrhaft unabhängigen Geräte zum Schreiben. Wenn eure Akkus schon längst leer sind und ihr nichts mehr tippen könnt, bin ich immer noch in der Lage, meine Notizen anzulegen. Und weil das so ist, prophezeie ich eine Renaissance von Bleistift und Papier.“ [Lesezeit ca. 2 min] „Bleistift & Papier“ weiterlesen
Alberner Tod
„Der Tod kann sehr albern sein. Manchmal macht er sich über seine Opfer lustig, er demütigt sie geradezu. Hört euch nur einmal bei Rettungssanitätern und Notärzten um,“ begann Thibaud. Er hatte ein Wasserglas voll mit weißem Wein, einem Riesling, glaube ich, vor sich. Er nahm einen große Schluck bevor er fortfuhr: „Natürlich träumen die meisten Menschen von einem friedlichen, ehrwürdigem Ableben. Manche wünschen sich auch, mitten in einem grandiosen Fick abzutreten, aber das kommt bekanntlich höchst selten vor. Dabei fällt mir eine Anekdote ein, die ich vor Jahren von einem Bestatter hörte.“ Er ließ den Blick über die Runde am Tisch schweifen, um sich zu vergewissen, dass wir auch alle zuhörten. „Alberner Tod“ weiterlesen
Bentley
Es war bekannt, dass Thibaud auch ein Spieler war, ja, dass er wohl eine Zeitlang spielsüchtig gewesen sein musste. Lange bevor die Gambling-Industrie entstand und die Medien bestach, um das schwachsinnige Pokern per TV in die Hirne der auf das große Geld hoffenden, unbewussten Menschen zu penetrieren, hatte er bereits lange Nächte an illegalen Tischen verbracht, bei Runden, in denen nur Bares zählte und anstelle des öden Texas Hold’em noch echtes Five Card Stud gespielt wurde. Thibaud verfügte über psychologisches Geschick und die Fähigkeit, seine Chancen kühl zu errechnen. Trotzdem verlor er in jenen Jahren große Summen und beschloss zu einem Zeitpunkt als seine Bilanz einigermaßen ausgeglichen war, mit dem Glücksspiel aufzuhören. Natürlich konnte sich niemand von uns vorstellen, dass diese große Persönlichkeit, die dem Gambling abgeschworen hatte, insgeheim regelmäßig und mit relativ hohem Einsatz Lotto spielte. So kam keiner auf die Idee, er könnte einen größeren Gewinn gemacht haben, als er eines Tages in einem dunkelgrünen Bentley-Coupé vorfuhr. „Bentley“ weiterlesen
Gewaltsam
Mit gemischten Gefühlen erinnerte ich mich dieser Tage eines Erlebnisses im vergangenen Sommer, an dem Thibaud entscheidend beteiligt war. Während in der Schweiz und in Österreich die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wurde, waren wir mit dem Auto unterwegs nach Frankfurt, um Freunde zu besuchen und mit ihnen gemeinsam das Spiel der Türken gegen Kroatien anzuschauen. Wir waren in diese eigenartige WG eingeladen, in der sich eine Gruppe von Leuten versammelt hatten, die samt und sonders von Eltern aus den Teilnehmerländern dieser EM stammten. Thibaud, der sonst nicht sehr am Fußball interessiert war und bis dahin keine der Partien gesehen hatte, freute sich auf den Abend. Er sah es als Experiment und redete die ganze Fahrt über davon, welche Nationalitäten wohl eher zu den Kroaten und welche zu den Türken halten würden. Mit fiel die Wahl leicht, ist doch meine Gefährtin Zilly Tochter eines rheinischen Vaters und einer kroatischen Mutter. Außerdem gefiel mir der kroatische Trainer und sein Rocksong zur Meisterschaft. Natürlich war Thibaud unparteiisch. Wir waren auf der A3 unterwegs, das Wetter war schön, aber der Verkehr an diesem späten Freitagnachmittag war ziemlich dicht. Ich war gerade auf die äußerste linke Spur gewechselt, um eine Karawane aus Wohnmobilen zu überholen, da passierte es. „Gewaltsam“ weiterlesen