„Vielleicht ist diese Demenz ja doch keine schlechte Sache,“ flüsterte Thibaud, der wie immer am Kopfende der Tafel saß. Und natürlich wandten sich ihm alle Köpfe zu, weil er die Stimme gesenkt hatte, einer seiner Tricks, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern. „Es heißt doch,“ setzte er fort, „dass glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Zilly schnaufte kurz: „Das hörte sich bei dir neulich noch ganz anders an. Da hast du gejammert, du könntest dir kaum noch etwas merken.“
„Es ist unangenehm, wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, unbequem im Alltag. Aber Lisbeth hat mir ein paar Apps aufs Handy gespielt, da trag ich alles ein, was ich mir merken muss. Hilft sehr.“ Heinzhubert meldete sich aus dem Hintergrund. „Ja, Einkaufliste und so – haben wir auch.“ Thibaud beugte sich vor und sprach noch leiser. „Das meine ich nicht. Wichtig sind solche Dinge wie die eigene Adresse und welchen Bus man nehmen muss, um nach Hause zu kommen. Steht alles drin in diesen Listen.“ Die junge Kellnerin brachte frische Getränke, und die Runde begann, in kleinen Gruppen über andere Themen zu reden.
„Nicht dass mich meine Erinnerungen quälen würden,“ sagte Thibaud zu Zilly und mir, die wir direkt neben ihm saßen, „aber sie verstopfen das Hirn, sodass nichts Neues mehr hineinpasst. Jedesmal, wenn jemand etwas aus seinem Alltag berichtet, fallen mir sofort ein paar passende Anekdoten ein, die ich selbt erlebt oder von anderen gehört habe. Und, ihr kennt mich ja, die muss ich dann auch erzählen. Da denken die anderen immer, ich könne nicht zuhören und ich würde einfach zu viel reden.“ Zilly lachte kurz auf: „Ist ja auch so.“
„So ganz unrecht hast du nicht,“ merkte ich an, „es wäre schon von Vorteil, wenn man bewusst alte Erinnerungen, die man nicht mehr braucht, aus dem Gedächtnis entfernen könnte. So wie man Dateien von der Festplatte löscht, um Platz zu sparen.“ Thibaud nickte. „Genau das meine ich. Zumal mir die Erinnerungen immer fremder werden, zumal ich oft nicht mehr beurteilen kann, ob meine Erzählungen den Fakten entsprechen oder ob ich sie mir einfach ausgedacht habe.“ – „Ach, das ist doch kein Problem,“ sagte Zilly, „du weißt doch, dass im Rheinischen die Wörter ‚erzählen‘ und ‚lügen‘ synonym sind.“
Ich musste grinsen, kannte ich doch die passende Anekdote. Die geht so: Eine alte Dame steht an der Supermarktkasse. Vor ihr ein Typ in einer zerschlissenen Hose mit Farbflecken, der zwei große Dosen Katzenfutter bezahlt. ‚Na, da wird die Mieze sich aber freuen‘, sagt die ältere Frau. ‚Hab keine Katze, das ist für mich. Mach ich mir warm, dann bisschen Ketchup, mmmh, lecker.‘ Die Kundin ist entsetzt, der Mann packt ein und verschwindet. ‚Ach,‘ sagt die Kassierer, ‚der Künstler, der erzählt bloß.‘ Und meint damit, dass das, was der Kerl aufgetischt hat, eine Lügengeschichte ist.
„Schlimm ist,“ setzte Thibaud fort, „dass die Menge an Geschichten, die ich im Repertoire habe, schrumpft, dass ich immer öfter die immergleichen Stories erzähle. Lisbeth macht sich schon darüber lustig. Immer wenn ich solch eine alte Schote bringe, zeigt sie mit den Fingern an, wie oft sie die schon gehört hat. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach schweigend dasitzen und nur zuhören, was die anderen reden.“ – „Das wärst aber nicht mehr du.“ – „Vielleicht nicht, aber es ist doch das, was die Demenz mit einem macht, dass du nicht mehr du selbst bist.“